„Nur ein Soldat“?

Vor 70 Jahren: Hitler-Deutschland überfällt die Sowjetunion. Mit dabei aufseiten der Wehrmacht: der in Oberösterreich geborene und posthum zum General beförderte Karl Eibl mit seiner 132. Infanteriedivision. Eine Spurensuche in der Ukraine.

Ich fahre in die Ukraine auf den Spuren eines Generals und seiner Truppe. Die historische Wahrheit ist wichtig, gerade in einem Land wie der Ukraine. So muss gleich am Beginn die Richtigstellung erfolgen. Korrekt muss es heißen: Oberst, denn General wurde Eibl erst nach seinem Tod, und seine Truppe, das war damals die 132. Infanteriedivision. In den Tagen des Juni 1941 hat Karl Eibl mit der zum Großteil aus Österreichern bestehenden Einheit am Überfall auf die Sowjetunion, am Plan Barbarossa, teilgenommen. Dank eines Projektes des Österreichischen Zukunftsfonds kann ich mich auf eine Spurensuche in die Ukraine begeben.

Jahrelang habe ich mich mit der Geschichte der Menschen, die Widerstand gegen den Nationalsozialismus geleistet haben, mit dem Schicksal der Jüdinnen und Juden aus Krems und Hietzing beschäftigt, jetzt bin ich für einen General unterwegs. Zweifelnd blicken mich meine Bekannten an, wenn ich von meinen Recherchen über „meinen General“ berichte. Nach so vielen Jahren Opfergeschichten in die Wohnung eines Täters eintreten. Doch bleiben wir bei der Wahrheit. Karl Eibl – ein Täter? Am Ende meiner Reise wird ein ukrainischer Freund, der als Kulturwissenschaftler an der Universität auch in Sachen Museumspädagogik arbeitet, mich fragen: „Und? War er an der Ermordung von Juden beteiligt?“ „Nein“, wird meine kurze Antwort sein, „aber er hat am Überfall auf die Sowjetunion mitgemacht.“ Er war also „nur ein Soldat“.

Meine Probleme mit meinem General nehmen sich angesichts der Verwerfungen in der ukrainischen Geschichte wie eine Fingerübung aus. Der Kampf um die Identität war lang und lang vergeblich. Staatlich begonnen hat alles erst nach dem Ende der Sowjetunion. Bevor ich ankomme, sind es andere Bilder, die in meinem Kopf auftauchen. Die deutsche Wehrmacht wurde von der Bevölkerung freudig begrüßt, brachte sie doch die Befreiung von der Roten Armee, die hier aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts eingerückt war. Danach begann die stalinistische Unterdrückung. Ich werde den Balkon in Lviv, Lemberg, sehen, wo die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung im Juni 1941 den unabhängigen ukrainischen Staat ausgerufen hat. Die Beteiligten wurden von den Nazis allesamt erschossen. In einem Teil der Bewegung gab es die Illusionen, dass die Nazis mithelfen würden, die nationale Identität staatlich zu begründen. Es gab aber auch ukrainische SS-Verbände – und es gab die ukrainische Widerstandsbewegung, wobei ein Teil dann im Untergrund gegen die Sowjets und gegen die Nazis gekämpft hat. Und es gab die Deportation von Ukrainern nach dem Krieg. Das ist nur ein kleiner Ausschnitt der schwierigen Geschichte.

Wir sind so auf die Opfer fixiert, dass wir keine Zeit für die Täter haben. Dieses Transparent könnte ich auch als Motto entrollen. Geschichte gehört inszeniert, das wusste auch Stalin, und ich sehe ein Bild im Museum, das einfache Bauern zeigt, die mit „selbst geschriebenen“ Transparenten und Tafeln die Rote Armee begrüßen nach dem Einmarsch. Die Inszenierung der Geschichte und die historische Wahrheit: ein abendfüllendes Stück in den Weiten östlich von Lviv. Bei der Einnahme von Zhitomir, der letzten Station auf meiner Reise auf den Spuren des Generals, haben die deutschen Zeitungen auch von der Befreiung des Gefängnisses des NKWD geschrieben und von der bestialischen Ermordung durch die Sowjets, mehrere hundert Leichen waren gefunden worden. Die historische Wahrheit, welche Uniform trägt sie? Gibt es eine Wahrheit in Uniform überhaupt?

Was suche ich also in der Ukraine, in Dubno, in Rivne, in Zihael, in Zhitomir? Eine Roadtour durch die Ukraine für die 132. Infanteriedivision? Ohne Jurko Prochasko, der mich begleitet, wäre diese Reise nie möglich gewesen. Er übersetzt Musil, Hofmannsthal und Broch ins Ukrainische und ist 2008 mit dem Großen Österreichischen Staatspreis für literarische Übersetzungen ausgezeichnet worden, er hat mit mir und auch für sich besondere alltägliche Spuren der Geschichte seines Landes gefunden.

Was suche ich? Antworten auf für Historiker ganz ungewöhnliche Fragen: Welche Landschaften, Tümpel, Wälder, welche Häuser und Städte haben die Österreicher in der Uniform der Wehrmacht gesehen? Gegen wen haben sie damals gekämpft? Was ist nach ihrem Weitermarsch in diesen Städten oder oft zeitgleich passiert? Natürlich stellt sich sofort die Frage nach den Erschießungen der jüdischen Bevölkerung. In drei Orten suchen und besuchen wir auch die Erschießungsplätze. Mein General und seine Männer waren nicht daran beteiligt. Macht sich Enttäuschung oder Erleichterung bei mir breit? Wäre alles einfacher für mich und meine Umwelt, wenn ich eine Beteiligung nachweisen könnte? Aber genügt es nicht, den Boden für die Erschießungen bereitet zu haben? Die Stoßtruppe für die Einsatzgruppen gewesen zu sein? Die Erschießungen begannen bereits Wochen nach der Einnahme der Städte durch die Wehrmacht, in manchen Orten auch am selben Tag.

In der Sowjetunion heißt dieser Krieg der Große Vaterländische Krieg, und dementsprechend präsentierten sich die Denkmäler. Meine Spurensuche ist auch eine Suche nach der Geschichte in den Museen. Wie wird diese Geschichte, der Beginn des Krieges, erzählt? Der erste größere Widerstand wurde erst 150 Kilometer hinter der Grenze geleistet, Stalin hatte ab 1932 den sogenannten Stalinwall bauen lassen, ein Netzwerk aus Bunkern und Verteidigungsanlagen auf der Höhe von Ziahel. Die Verwerfungen der Geschichte schlagen sich auch in den Namen nieder und verdeutlichen die Schwierigkeiten, denn Rivne hieß damals Rowno, und manche sagen heute noch Rowno, zum Beispiel jene russischen Mädchen, die wir nach einem Lokal fragen am Ende unseres „Vormarsches“ in Zhitomir. Und Ziahel war schon von Katharina der Großen umbenannt worden in Novograd-Volinsk, und erst die Deutschen haben die Stadt wieder in Zihael zurückbenannt.

In Rivne bekommen im Museum auch die ersten Verteidiger ein Gesicht – und eine Geschichte, Ansätze dafür, in Novograd-Volinsk. Dort ist die Geschichte des Krieges, des Partisanenkampfes und der Befreiung zurzeit noch im Kulturpalast untergebracht. Die Leiterin führt uns durch diesen Raum mit viel Engagement. In der Mitte sind Waffen der Partisanen und Kleidungsstücke ausgestellt. Das ehemalige Gefängnis des NKWD wird umgebaut und der neue Ort des Museums sein, ein Heimatmuseum, in dem nicht nur der Krieg dokumentiert wird. Auch das Museum in Zhitomir wird gerade renoviert, das ehemalige Vikariat der katholischen Kirche scheint fast das einzige alte Gebäude in dieser Stadt zu sein, die von der Roten Armee ab November 1943 zweimal befreit werden musste. Am Ende blieb von der Stadt nichts mehr übrig. Heute ist es eine sowjetische Siedlung, wie es Tausende gibt. Der Umbau des Museums wird noch zwei Jahre dauern, die Verantwortliche hilft uns, begleitet uns in ein Abstelllager und lässt für uns eine Ausstellung über den Großen Krieg, die in Schulen gezeigt wird, kurzerhand im Hof aufstellen. Das Buch mit den Augenzeugenberichten der Verteidiger der Stadt findet sie durch den Umbau gerade nicht, aber sie beschreibt uns den Weg zum KZ vor den Toren der Stadt und den Erschießungsplätzen.

Mit einem kleinen, gelben Bus fahren wir Richtung Stadtgrenze, bei der Kaserne soll es sein. Wir fragen den Fahrer, und er deutet uns, wo wir auszusteigen haben. Die Orientierung ist selbst für Jurko nicht einfach. Hinweisschilder gibt es nicht, für keines der Denkmäler für die ermordeten Juden. Wie sollen wir hier eine Gedenkstätte finden? Jurko fragt die erste Frau, die vorbeikommt. Ja, sie könne uns alles zeigen, und sie sei froh über unsere Begleitung. Jurko darf ihr die schwere Tasche tragen. Ihr Mann sei mit 14 Jahren als Zwangsarbeiter verschleppt worden, sie war drei Jahre alt, als der Krieg begann, ihren Bruder haben deutsche Soldaten mit 13 Jahren in die Brust geschossen und getötet. Ihre Tochter sei voriges Jahr an Brustkrebs gestorben. Der Weg entlang der Kaserne ist lang. Ja, sie gehe oft mit ihrer Enkeltochter zum Denkmal und lege dort Blumen nieder. Manche Häuser sind gepflegt, im Frühling wird alles frisch gestrichen, die Mauern, die Rohre. Nach der Siedlung beginnt der Wald, Mist und Plastikflaschen auf dem Weg, überall. Da vorne sei ein Steinbruch gewesen, da habe ihr Vater gearbeitet. Jetzt ist alles geflutet, im Sommer kommen hier viele Menschen her, um in diesem Teich zu baden.

Nach fünf Minuten stehen wir vor einem Stein mitten im Wald. Auf diesem Areal wurden ab September 1941 insgesamt 76.000 Menschen erschossen. Die alte Dame entlässt uns, zeigt uns den Weg zurück zur Hauptstraße, wenn wir durch den Wald gehen, dann bei der Kaserne vorbei, da gäbe es noch einen weiteren Gedenkstein. Wo heute die Armee ist, war früher das KZ. Genius loci. In die Gebäude des NKWD zog die Gestapo und später wieder der NKWD ein, und heute befindet sich manchmal dort der ukrainische Geheimdienst.

In Ziahel lag der Erschießungsplatz auf der anderen Seite des Flusses, die 17.000 Jüdinnen und Juden haben auf ihre Stadt blicken dürfen in ihrer Todesangst. Die Erschießungen fanden an Plätzen statt, die leicht zu erreichen waren, ökonomisch sollte es sein, verbergen wollten die Deutschen nichts. Die Silhouette der Stadt hatten die Sowjets schon vorher bereinigt. Im Jahr 1935 haben sie drei Kirchen sprengen lassen. Der letzte Blick der zu Erschießenden auf ihre Stadt, der alte Schornstein einer Konservenfabrik, die alte Festung aus dem 13. Jahrhundert, der Fluss, links davon einer der Bunker, in dem die Rotarmisten verbissen gegen die anstürmenden Deutschen kämpften. Karl Eibl wurde für seinen Mut und seine Tapferkeit vor Ziahel mit dem Eichenlaub zum Ritterkreuz des Eisernen Kreuzes ausgezeichnet.

Wie hat mein ukrainischer Freund am Ende der Reise gemeint? Er war nur ein deutscher Soldat. In Krems an der Donau steht seit dem Jahr 1959 ein Denkmal für General Karl Eibl. Die Stadt legt regelmäßig vor diesem Denkmal Kränze nieder. Die Deserteure von Krems haben bis heute kein Denkmal, und die provisorisch aufgestellten Tafeln wurden 2009 nach Stunden entfernt. Es gab Zeiten, da ich dafür war, dass das Denkmal von Karl Eibl aus dem Stadtbild verschwinden müsse. Doch was nützt es?

Wir müssen beginnen, die Geschichte anders zu erzählen. Mein General ist Teil der Geschichte. Mit ihm waren es Tausende Männer, die von Polen bis Charkow und weiter östlich gezogen sind. Haben wir uns gefragt, was sie gesehen haben, was sie gewusst haben? Gefragt haben wir sie nicht, können wir sie nicht mehr. Die Städte zu besuchen, die damals von diesen Männern heimgesucht wurden, ist ein Beginn, mit vier Städten habe ich begonnen und nur 400 Kilometer zurückgelegt. Zu berichten gibt es noch mehr, und Stalingrad ist noch weit. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.06.2011)

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