Der Wutbürger

Eine Stellenbeschreibung.

Das zentrale Merkmal der heutigen Massendemokratie, das sie von allen früheren Gesellschaftsformationen unterscheidet und zu ei- nem geschichtlichen Novum macht, ist dieÜberwindung der Knappheit der Güter. In dem Maße, als die Massendemokratie den oligarchischen Liberalismus allmählich verdrängte, die Kluft zwischen Bürger und Proletarier durch den Massenkonsum und die soziale Mobilität überbrückte (was schließlich sowohl den Bürger wie den Proletarier als klar umrissene soziologische Typen auflöste) und an die Stelle geschlossener Elitenhierarchien eine zumindest prinzipiell unbegrenzte soziale Mobilität trat, nahm auch die herrschende Ideologie zunehmend individualistischen, hedonistischen, egalitären und wertpluralistischen Charakter an. Die charakteristische „Gestalt“ (Ernst Jünger) postmoderner Massendemokratien ist daherweder der „Arbeiter“ noch der „Bourgeois“, sondern der „kleine Mann, der sich nichts vormachen lässt“. Zu den politischen Institutionen hat er ein weitgehend konsumistisches Verhältnis. Wo er sich engagiert, ist er weniger kämpferisch als aufsässig, mehr lästig als gefährlich. Im Übrigen ist er „tolerant“, sofern die „anderen“ nicht gerade seine Nachbarn sind. Er ist das Elementarteilchen der „Zivilgesellschaft“.

Dennoch hat die Massendemokratie die Gleichheit der Macht selbstverständlich ebenso wenig verwirklicht wie die Gleichheit des Konsums. Beides ist an funktionelle Positionen gebunden, die ihrerseits, vor einem ideologisch egalitären Hintergrund, meritokratisch legitimiert sind. Deshalb ist die Meritokratie massendemokratischer, ideologisch egalitärer Gesellschaften auch immer durchsetzt von einem sich demokratisch legitimierenden Populismus – was im Übrigen fast ein Pleonasmus ist: Denn der Begriff „Populismus“ ist nur die latinisierte Form von „Demokratismus“ (populus/demos), und der „Populist“ ist die moderne Gestalt des „Demagogen“, der seinen Archetypus hat im Perikles – das war nämlich der Erste, der diesen Titel trug. Deshalb bezeichnet „Populismus“ nur eine unablöslich-unerfreuliche Seite von Demokratie selber – daran erinnert das Wort „Plebiszit“, denn es leitet sich ab von „plebs“, was „Pöbel“ bedeutet.

Meritokratie und Populismus müssen daher innerhalb der Massendemokratie ei-nen unaufhörlichen Kampf miteinander austragen, dessen Ausgang von Fall zu Fall anders aussieht. Der Populismus muss permanent psychologische Bedürfnisse befriedigen, und zwar dadurch, dass er Ersatz für die Gleichheit da schafft, wo faktisch keine vorhanden ist. Solchen Ersatz bietet zum Beispiel die zunehmende Beseitigung der Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem, sodass sich der „kleine Mann“ oder auch der „mündige Bürger“ aufgrund der Berichte der Massenmedien davon überzeugen kann, dass sich dieses oder jenes Mitglied dieser oder jener Elite „menschlich“ verhält und im Allgemeinen genauso ist „wiewir alle anderen auch“. Der immanente Populismus der Massendemokratie macht es für die Mitglieder der Eliten zur ersten Pflicht,bei jeder Gelegenheit zu demonstrieren, wie nahe sie den Menschen auf der Straße stehen; eine anderen Haltung wird als Verachtung des Mitmenschen sowie der geltenden Gleichheitsgrundsätze empfunden und entsprechend geahndet.

Diesbezüglich tritt der „kleine Mann“ in der Massendemokratie besonders anspruchsvoll und selbstbewusst, gelegentlich sogar als „Wutbürger“ auf, und insofern unterscheidet er sich vom Kleinbürger des bürgerlich-liberalen Zeitalters, der sich zwischenBürgertum und Proletariat eingekeilt fühlte und die Welt mit entsprechend ehrfurchtsvollen oder ängstlichen Augen sah. Die mittlere Schicht, die das Gros der massendemokratischen Gesellschaft ausmacht, betrachtet sich hingegen immer mehr als die universale Klasse und prägt mir ihren Lebensgewohnheiten, ihrem Geschmack und ihren Moralvorstellungen das massendemokratische Leben in seinen charakteristischen Zügen. In diesem seinem Selbstbewusstsein blickt der mehr oder weniger „kleine Mann“ oft auf die Mitglieder der politischen Eliten beziehungsweise auf „die Politiker“ verächtlich herab und legt seine Gleichgültigkeit gegen ihr Geschäft an den Tag. Er verachtet „die da oben“, weil sie „da oben“ sind. In der medialen „Vertalkung“ von Politik findet diese Verachtung ihr Forum. Das hat natürlich vermiesende Auswirkungen auf die Selektion des politischen Personals und dessen Qualität.

Die „Politik als Beruf“ (Max Weber) verliert somit erheblich an Autorität im alten Sinne des Wortes und erscheint als ein „Job“ neben vielen anderen, der von Spezialisten einer besonders suspekten Art ausgeübt und genauso wie jeder andere auch nach Kriterien der Alltagsmoral beurteilt wird. Bedient und gefördert wird diese Attitüde durch eine Politik des Ressentiments, welche zunehmend an die Stelle klassischer Interessenspolitik tritt. Noch nie waren Regierungen so „volksnah“ wie heute; gerade deshalb sind sie wie gelähmt. Politische Gleichgültigkeit, die mit der Reduktion der Politik auf „Job“ zusammenhängt, und Populismus, der den Träger dieses Jobs zu einem bestimmten Verhalten zwingt, um Aufmerksamkeit zu erregen – was periodisch zu konvulsivischen Aufregungen führt, die meist folgenlos wieder verebben –, sind daher notwendige Begleiterscheinungen der Massendemokratie und zeichnen ihr Gesicht. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.07.2011)

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