Die ganze Welt auf fünf Hektaren

So real sie ist, behandeln viele sie doch wie eine Fiktion: die Flüchtlingssiedlung „Macondo“ am Rande Wiens, zwischen Kläranlage, Autobahn und Industriehafen. 3000 Menschen leben hier, weggeschoben, ignoriert. Ein Lokalaugenschein.

Macondo gibt es nicht. Denn Macondo ist nur ein Name, gewählt von Gabriel García Márquez für den Handlungsort seines Romans „Hundert Jahre Einsamkeit“. Andererseits: Macondo gibt es doch. Mehrere kaiserlich-königliche Kasernenblöcke groß, dazu ebenerdige Baracken aus den 1970ern, vier Gebäudeeinheiten aus den 1990ern, summa summarum gut 3000 Einwohner und damit knapp im Durchschnitt heimischer Gemeinden. Freilich, Macondo ist keine eigene Gemeinde, es ist ein Teil von Wien, auch wenn manche Mütter und Väter des betroffenen Bezirks, Simmering, dieses Macondo womöglich lieber dem benachbarten Schwechat angegliedert sähen. Ist gar nicht nötig. Macondo existiert ohnehin jenseits jeder Wahrnehmbarkeit, ferner jeder Wirklichkeit als García Márquez' Romandorf. Dem liegt wenigstens als reales Vorbild des Dichters eigener Geburtsort, Aracataca, zugrunde. Das Simmeringer Macondo dagegen, so real und unübersehbar es vor einem stehen mag, wird öffentlich behandelt, als sei es Fiktion, weggeschoben, weggedacht, als könnte man es durch beharrliches Ignorieren tatsächlich zum Verschwinden bringen. Wie anders ließe sich, nur so zum Beispiel, erklären, dass da ein öffentlicher Bus jahrelang an den 3000 Einwohnern vorbeifuhr und erst nach insistenten Interventionen die Einrichtung einer Haltestelle möglich war.

„Die Leute dort werden behandelt wie Menschen dritter Klasse, nein, schlimmer noch: wie Schweine“, sagt Carlos Rojas. „Und wozu brauchen Schweine einen Autobus?“ Rojas selbst hat in diesem Macondo seine Jugendjahre zugebracht, als Neunjähriger ist er mit seinen Eltern und seinem jüngeren Bruder, Jorge, aus Chile geflüchtet, seine Eltern standen auf den Todeslisten des Pinochet-Regimes, und ein damals „großzügiges Österreich“, wie Rojas sich heute erinnert, gab ihnen eine neue Heimat: auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne an der Zinnergasse. Die Eltern haben mittlerweile längst die neue wieder gegen die alte Heimat getauscht. Carlos und Jorge Rojas dagegen sind geblieben, ja mehr noch, unabhängig voneinander und gleichermaßen inbrünstig geben sie zu Protokoll, begeisterte Wiener, genauer, begeisterte Simmeringer zu sein. Aber will dieses Wien, will dieses Simmering von Bürgern wie ihnen überhaupt etwas wissen?

1915. Auf Rieden, die bis dahin auf unschuldige Namen wie „Fuchsboden“ hörten, hat eine todwunde Monarchie ihrer k. k. Landwehr ein neues Exerzierquartier errichtet; und weil es sich unweit des Dörfchens Kaiserebersdorf befindet, geht es als Kaiserebersdorfer Landwehr-Artilleriekaserne in die genaueren der hiesigen Geschichtsbücher ein. Die Lage ist strategisch ideal: gerade noch donaumetropolitan, dennoch weit weg von irgendwo, zugleich mit Donau und Donauländebahn truppentransportmäßig bestens angebunden. Es wird der letzte große Kasernenbau einer kaiserlichen Armee auf Wiener Boden sein.

Ungarn-Flüchtlinge in k. k. Mauern

Dem Zusammenbruch des Habsburger-Imperiums schließt sich der für hiesige Objekte dieser Art übliche rasche Hausherrenwechsel an: Auf das Bundesheer der Ersten Republik folgen deutsche Wehrmacht, dann Rote Armee als Quartiernehmer. Und kaum haben die Sowjets 1955 Österreich samt den Kubaturen an der Zinnergasse verlassen, treiben sie ihnen ihre künftige Bestimmung zu: Als die Moskauer Führung im Herbst 1956 den ungarischen Volksaufstand niederschlagen lässt, suchen 200.000 Ungarn in Österreich Zuflucht – und ein paar Tausend von ihnen finden Unterschlupf im Kaiserebersdorfer k. k. Mauerwerk. Wo vordem staatlich sanktionierte Gewaltapparate das Handwerk des Tötens übten, dürfen ab da genau jene Obdach nehmen, die deren fabelhaften Fertigkeiten gerade noch lebendigen Leibs entronnen sind. Unabhängigkeits- und Bürgerkriege in Afrika, die gar nicht mehr zählbaren Metzeleien im Nahen Osten füllen die Wohnungen auf dem ehemaligen Kasernengelände genauso wie die Heere der Warschauer- Pakt-Staaten, die den Prager Frühling 1968 niederwalzen, und drei Golfkriege. Manche bleiben jahrzehntelang, viele suchen bald andernorts ihr Wohnungsglück. Der freiwerdende Raum wird ohnehin sofort für Neuankömmlingen gebraucht. Bald reicht die vorhandene Bausubstanz nicht mehr aus: Mitte der 1970er schlägt die UNO vier Barackenreihen, jede mit fünf ebenerdigen Wohneinheiten samt Gärtchen, in die Kasernengstätten. Die teilen sich alsbald Chile-Flüchtlinge und Boat People aus Vietnam, die einen rechtem, die anderen linkem Furor eben erst entkommen. Und die Chilenen sind es, die mit García Márquez im Gepäck und dem Namen Macondo anreisen: Macondo als Fluchtpunkt Aus- und Abgesonderter.

Ende der 1990er folgen die vier Blöcke der „Kardinal-König-Integrationswohnanlage“. Und mit ihnen zieht ein neues Vergabeprinzip ein: Wurden Wohnungen auf dem Gelände bis dahin unbefristet vermietet, werden sie ab da nur mehr auf wenige Jahre limitiert vergeben. Was den Wechsel von Zu- und Abzug drastisch beschleunigt. Drei von vier neuen Gebäudeteilen stehen als „Kardinal-König-Wohnheim“ anerkannten Flüchtlingen zur Verfügung, die sich schon einigermaßen eingelebt haben; dem vierten hat sein Obwalter, der Österreichische Integrationsfonds (ÖIF), eine besondere Aufgabe zugedacht: Hier sollen jene, denen eben erst Asylstatus zugestanden wurde, unter kundiger Anleitung ihre ersten Schritte in einem oft noch rätselhaften Umfeld tun. Philippa Wotke, ab 2005 als Angestellte des ÖIF Leiterin dieses – alsbald nach der Fassadenfarbe benannten – „gelben Hauses“ erläutert Konzept und Praxis: „Wenn jemand frisch anerkannt wurde, dann ist er zuerst zu uns gekommen, dort hat er ein Betreuungspackage gekriegt, und wenn dann noch ein Job gefunden war, konnte man ihn ins selbstständige Leben entlassen.“

Es sind keineswegs nur die Nutzer der 42 Wohneinheiten des „gelben Hauses“, denen die Dienste Frau Wotkes und ihrer Mitstreiter zugute kommen, der ziemlich bunte Einwohnermix des gesamten Geländes, allesamt Flüchtlinge, aber unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichster Verweildauer an Ort und Stelle, profitiert von den integrativen Aktivitäten, die von hier ausgehen. Und bis heute lässt sich auf der Website des ÖIF noch vom „nachhaltigen Beitrag zur Integration von Asylberechtigten“ lesen, den ein Betreuungskonzept wie jenes des „gelben Hauses“ leiste. Genauer: geleistet hat. Denn kaum sind die Elogen anlässlich der Zehn-Jahres-Feier 2008 verstummt, ist all das für den ÖIF gar nicht mehr so wichtig. „Ende März 2009 wurde dem Team verkündet, dass bis Sommerende das Haus leer sein muss“, erzählt Philippa Wotke. Der neue Zweck, dem die Baulichkeit nach Monaten des Leerstands zugewiesen wird, hätte sich nicht diabolischer denken lassen: Wo einst Flüchtlinge ihre ersten Schritte in der österreichischen Freiheit üben konnten, tun jetzt ganz andere ihre letzten – jene, denen ein Flüchtlingsstatus verweigert wurde. „Familienanhaltezentrum“ heißt das offiziell, wobei es in Wahrheit weniger darum geht, Menschen hier anzuhalten, als sie stante pede rauszuschmeißen; aber „Familienrausschmeißzentrum“ macht sich halt gar nicht gut in Presseaussendungen, in denen sich das Innenministerium für die luxuriöse Unterbringung der Leider-doch-nicht-Österreicher loben will.

Einmal, ein einziges Mal während der Monate meiner Besuche an der und rund um die Zinnergasse, sehe ich, wie ein Polizeifahrzeug eine Schar zerdrückter Figuren vor das „gelbe Haus“ – wie heißt das doch gleich? – „verbringt“, sehe sie Quartier beziehen für die letzten paar Stunden, ehe sie ein Flugzeug in irgendeine Heimat, die sie längst nicht mehr Heimat nennen wollen, zurückzwingen wird. Und in den Häusern rundum ahne ich vorsichtige Blicke durch verschlossene Fenster, und ein insgeheimes Aufatmen, nicht einer von denen zu sein, liegt in der Luft. Welch ein Exerzitium in angewandter Staatsbürgerkunde: Im Angesicht der Staatsgewalt lernt man gewiss am schnellsten, was es heißt, Österreicher zu sein.

Erst für Fortgeschrittene geeignet ist die Einübung in Rot-Weiß-Rot, der jeder teilhaftig wird, will er die Eignerverhältnisse des Areals ergründen: Grund und Boden samt alter Kasernensubstanz und 1970er-Baracken stehen im Eigentum der Bundesimmobiliengesellschaft (kurz BIG), die Gebäude freilich werden von der „Bauen und Wohnen Gesellschaft“ (besser bekannt als Buwog) verwaltet, die ihrerseits auch die Mieten einstreift. Das Kardinal-König-Wohnheim steht im Eigentum der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA), das „gelbe Haus“ wiederum gehört der Buwog, und für die meisten Wohnungen hat zudem der ÖIF ein erstes Zuweisungsrecht.

Bezirksrat ohne Ansprechpartner

Wo so viele für manches, keiner aber für das Ganze zuständig ist, verliert sich Verantwortlichkeit in nichts. „Mir ist es bis heute nicht gelungen, einen kompetenten Ansprechpartner zu finden“, erzählt Carlos Rojas – und der war immerhin fünf Jahre lang, von 2005 bis 2010, sogar Simmeringer Bezirksrat. Doch nicht nur gestandene Macondianer fühlen sich von der Situation überfordert: „Wir sind weder über das Eigentum hier besonders beglückt noch über die Rechtskonstruktionen noch über die zwangsweise Zusammenarbeit mit der einen oder anderen Institution“, bekennt BIG-Pressesprecher Ernst Eichinger bei einem Rundgang. Und dann sagt er noch ein paar Dinge über die seltsame Gemengelage an der Zinnergasse, die „optimalerweise nicht in Ihrem Bericht stehen sollten“. Müssen sie auch nicht. Die Sachlage ist ohnehin eindeutig: Sähe die BIG eine Möglichkeit, die fünf Hektare, lauschig eingeklemmt zwischen Großkläranalage, Ostautobahn und Wiener Industriehafen, irgendwie loszuwerden – lieber heute als morgen. Nur, nebst allen anderen Hindernissen: Wer will die schon?

Und dennoch. Da gibt es auch die ganz andere Geschichte von Macondo. Jene Geschichte, die die Menschen schreiben, die hier leben. Menschen wie Maria: 1968 ist sie aus der Tschechoslowakei geflüchtet, hat in einem der Kasernentrakte ein neues Heim gefunden. Und weil die Alleinerzieherin ihren vier Kindern frisches Obst und Gemüse bieten wollte, hat sie ein Stück Kasernenbrachland gerodet und sich einen kleinen Garten eingerichtet. „Der Verwalter hat gesagt, suchen Sie sich ein Fleckchen. Genau das hab ich getan“, erzählt sie. Und: „Der Garten war mein Psychiater, meine Freizeit, mein Urlaub.“ Eine ganze Kleingartenkolonie hat sich im Lauf der Jahrzehnte auf Kasernengrund entwickelt, ohne Verträge, ohne Pachtleistung, ungeregelt und gleichermaßen voll wuchernder Lebendigkeit, so ganz anders konturiert als das streng abgegrenzte kleine Glück, das man sonst mit Schrebergärtnerei verbindet. Von so viel grüner Anarchie freilich ist heute nicht mehr viel geblieben, der Eigentümer BIG hat in den vergangenen Jahren auffallend vehement auf rechtliche Ordnung gedrängt. Doch für Maria ist das bisschen Rasen, das bisschen Gartenhaus, das bisschen Blumenbeet und Gemüsepflanzung noch immer ihr ganz privates Stück vom Paradies.

Drüben, im Erdgeschoß des Kardinal-König-Wohnheims, sitzt Dragan in seiner Hausmeisterkemenate. Probleme? Nun ja, der Mist. Und tatsächlich findet sich Sperrgut über das ganze Gelände verstreut deponiert. Das komme halt davon, meint Dragan, dass „die Leute die Wohnungen nur mehr befristet kriegen. Da kümmert sich dann halt keiner mehr um irgendetwas.“ Und dann wären noch die kleinen Malheurs des Alltags, so gut wie unvermeidlich bei einem Klientel, das mit mitteleuropäischen Gegebenheiten nicht immer vertraut ist: die ausgehängten Fenster, weil der Kippmechanismus zu undurchschaubar war. Oder die heißen Kochtöpfe, die auf den Plastikbelägen dunkle Spuren hinterlassen. Andererseits: Wie würde es uns ergehen, müssten wir uns im Leben – sagen wir – somalischer Nomaden zurechtfinden?

„Wenn man die fragt, die hier länger wohnen, die sagen alle: Früher war es besser“, weiß Dragan. Aber er weiß auch: „Das ist immer so.“ Und er erinnert sich: „Als ich hier angefangen hab, waren die Bosnier die größte Gruppe; dann kamen die Afghanen, und die Bosnier, die geblieben sind, haben geschimpft und gesagt: Schau, was die Afghanen machen. Jetzt sind die Tschetschenen dran, und in ein paar Jahren wird sich das wieder ändern, dann werden die Somalier die Bösen sein, und es wird heißen, die machen alles kaputt. Die nachfolgende stärkere Gruppe ist immer schuld an dem, was da herum passiert.“

200 Schritte weiter im Westen, in ihrem Kleingartenreich, assistiert Maria: „Schlimm ist es immer nur kurze Zeit, wenn neue Flüchtlinge kommen. Die Neuen wollen zeigen: Wir sind da. Und die Alten beruhigen sie ein bisschen, und dann passen sie sich eh an.“ Sie fühle sich jedenfalls „nirgendwo anders sicherer als hier“. Und was ist mit den „zwei, drei Polizeieinsätzen“ in der jüngeren Vergangenheit, an die sich selbst der stets unaufgeregte Dragan erinnern kann? Was ist mit den mafiösen Strukturen, den Schiebereien, von denen man auch munkeln hört? „Es gibt Pulverfässer, die dort herumlaufen, in Hosen und Leiberln“, meint Carlos Rojas, „Menschen, die sehr traumatisiert sind und links liegengelassen werden. Mit der Frau Wotke hat das einigermaßen funktioniert, aber jetzt?“ Noch halte sich „die Waage zwischen denen, die schon Wiener sind, und denen, die eigentlich nicht wissen, was sie machen sollen“. Noch.

Ein Sommertag. Ein vorerst letztes Mal streife ich durch die Barackenzeilen. In ihrem kleinen Garten hängt eine Frau die Wäsche auf. Sie singt dazu, leise, melancholisch, in einer mir unbekannten Sprache. Das sei Lingála, erklärt sie mir am Gartenzaun, und sie komme aus dem Kongo. Zwölf Jahre lebe sie schon hier. Wie es ihr gehe? Gut, sagt sie und lächelt sanft. Da ist es, das Wunder Macondo. Auf fünf Hektare zusammengedrängt eine ganze Welt. Was die Menschen hierher verschlagen hat, wir werden es hoffentlich nie nachfühlen müssen. Was sie uns vorführen, Tag für Tag: dass ein Zusammenleben möglich ist. Trotz allem. „Jemand, der Flüchtling ist, weiß genau, wann er sich besser zurücknimmt“, meint Philippa Wotke. Und: „Es war so eine fruchtbare Arbeit. Es braucht nicht viel, aber ein bisschen was braucht es schon.“

García Márquez' Macondo fegt ein Sturm hinweg. Von der „Zyklonengewalt“ ist am Ende von „Hundert Jahren Einsamkeit“ zu lesen, die „Türen und Fenster aus den Angeln riss“. Es gibt welche, die hören den Wind auch schon durch die Zinnergasse pfeifen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.09.2011)

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