Ego mit Lasagne

Nahrung, Krankheit, Liebe, Streit: Auf den Zetteln, die ich in Wiener Straßen auflese, werden die existenziellen Dinge des Lebens verhandelt. Die flüchtigen Notizen erzählen, was Menschen wo und wie bewegt. Über die Handschrift der Stadt.

An einem kalten Abend im Februar schaute M. auf dem Heimweg vorbei und brachte einen Zettel mit, den sie vorhin auf dem Gehsteig gefunden hatte. Er war kariert und zweimal gefaltet; rechts oben befand sich das grüne Wifi-Logo und, etwas blasser, der Werbespruch „Ich will's wissen“. Auf dem Zettel stand in flüchtig hingeworfener Schrift eine Reihe von Fragen, etwa:

Wie kann ich erkennen, dass ich sie liebe, wenn sie mich pausenlos verletzt?

Kann ich treu sein!

Was geht mir ab (was ging mir ab)

Liebe ich sie / wie mich.

Ich verwahrte den Zettel – etwas unschlüssig, was damit anzufangen sei – zunächst in der obersten Kommodenschublade. So weit der Anfangsmythos.

In Wahrheit war es komplizierter und ist nun schwierig zu rekonstruieren. Denn etwa zur selben Zeit, vielleicht einige Tage davor oder danach (auch ein längeres Telefonat konnte die Umstände nicht genau klären) fand ich in einem der langen Gänge der Kunstakademie einen handgeschriebenen Zettel, auf dem stand:

1x PK Abzw. 160Æ x 50Æ 45° / 8xPK Bogen 50Æ 45° / 1 x PK Rohr 50° 2000+1000 / 1 Doppelmuffe 16050Æ 45Æ / 1 Langmuffe 160Æ / Gleitmittel / 4x Kelit Bogen K25 90° II

Die Selbstverständlichkeit dieser Kürzeln, Symbole und Fachworte faszinierte mich. Es gab hier, an meinem Arbeitsplatz, dessen Codes mir im Laufe der Jahre so vertraut geworden waren, eine Parallelwelt, in der eine mir unverständliche Sprache gesprochen wurde. Der Zettel landete also in der Schreibtischschublade. Nur: Zwei Zettel in zwei verschiedenen Schubladen machen noch keine Sammlung, und selbst als sich im Lauf der folgenden Wochen der eine oder andere Zettel dazugesellte, handelte es sich wohl noch eher um eine Ansammlung. Erst als die Zettel immer öfter in Kuverts landeten, auf denen Fundort und Zeit vermerkt wurden, stellte ich eines Tages fest, dass ich zu sammeln begonnen hatte.

Sammlungen können, wenn sie eine bestimmte Größe erreichen, nach unterschiedlichen Kriterien systematisiert werden. In immer neuen Kombinationen werden die Zettel in imaginären Zettelkästen geordnet, bis Muster erkennbar sind. Erst mit dem Abstand einiger Monate wurde etwa klar, dass es jahreszeitenspezifische Zettel gibt. An einem heißen Juliabend lasen wir ein Blatt Papier mit folgender Warnung auf: !ACHTUNG! BIENENSCHWARM HINTERM HAUS (Seite Dr. KLACKL)! FEUERWEHR + HAUSVERWALTUNG BEREITS VERSTÄNDIGT! Kohl Tür 7.

Anfang November tauchten Einkaufslisten auf, die von ersten Verkühlungen kündeten: Bronchialtee / Ibumetin / Hendl (ganz) / Gemüse / Taschentücher / Katzenfutter. Nicht nur inhaltlich hinterließ der Herbst Spuren: Braune Blattfragmente hafteten nun auf den klebenden Streifen der Post-it-Zettel, die sich so gleichsam selbst datierten. Anfang Dezember wurde die Sammlung um eine in weihnachtlicher Backtradition stehende Liste erweitert: Mehl glatt / Natron (Pulver) / Brauner Zucker / Schokolade, weiß / Vollmilchschokolade / Schokolade 70% Kakao / Bourbon Vanillezucker. Danach wurde es schwierig, neue Zettel zu finden: Der erste Schnee deckte alle zu. Die ganze Stadt – ein großes, unbeschriebenes Blatt.

Zu jedem Zettel wird neben dem Zeitpunkt auch der Fundort vermerkt; eine Ordnung nach diesem Kriterium erschließt wieder neue Perspektiven. Wer soziale Stratigrafien studieren will, kann nun Lebensmittel mit Bezirken korrelieren oderMedikamentenlisten mit dem Durchschnittsalter der Lokalbevölkerung. Ärgert man sich im Dreizehnten wirklich höflicher (Vielleicht könnenSie sich nächstes Mal ein bisschen näher an den Randstein stellen, es würde den anderen das Einparken erleichtern. Danke.) als im Zwölften (Noch behinderter als du kann man / frau gar nicht parken)?

Man könnte die Sammlungsobjekte aber auch inhaltlich ordnen – meist werden die existenziellen Dinge des Lebens verhandelt (Nahrung, Krankheit, Liebe, Streit). Den größten Teil der Zettel machen zweifellos Einkaufslisten aus: Familienlisten wie Toastbrot / Mozzarella / Kaugummi / 2 Milch / Kinderzahnpasta / Nutella / Erkältungsbad / Lasagne / Faschiertes Rind / Schokoflocken.Oder festliche wie Sekt / Kekse Baguette / Aufstrich / Grissini. Eindeutig zuzuordnen auch Einkaufslisten älterer Frauen: Katzenfutter (fehlt fast nie!) / Bandnudeln / Milch / Eier / Backerbsen / Kümmel ganz / WC Papier. Charakteristisch ist dabei die Schrift, in strengem Gleichschritt stets Buchstabe an Buchstabe reihend, aufrecht stehen Zacken und Striche als ernste Wächter der Grundnahrungsmittel. In Zeiten von E-Mail-Verkehr und Computerausdrucken wird die Sinnlichkeit einer Handschrift zum besonderen Vergnügen. In den Vertiefungen ihrer störrischen Haken und Buckel, auf ihren erodierten Formen glimmt noch des Schreibers Gegenwart; wahrnehmbar im ungeschickten Stolpern oder vorwärts Hasten der Buchstaben, in der Heftigkeit, mit der sich die Linien in das Papier graben und ein Relief auf der Rückseite erzeugen, oder in ihrer Zaghaftigkeit, kaum die Oberfläche des Papiers kräuselnd. Dass die Körperwärme der Zettel nicht reproduzierbar ist und mit der Transkription verloren geht, ist unvermeidlich. Dennoch: Manche Einkaufszettel bewahren ihre Poesie durch alle Übertragungsverfahren, etwa wenn auf einem kleinen gelben Zettel notiert ist:

10 gr Ingwer

Brot

Nicht nur über Analysen und Klassifizierungen kann man sich den Objekten nähern, auch performative Ansätze bieten sich an: Man könnte jenes komplizierte Kaiserschmarrnrezept nachkochen oder eine gefundene Einkaufsliste nachkaufen. Kauft man dann mit, was zwischen den Zeilen steht? Wenn die Vorgabe lautet: Brot weiß mehr als schwarz / weiße Joghurts / 2 Kalbsschnitzel / Gemüse (leicht, mit Paprika)keine Wurst und ich nun keine Wurst kaufe, ist es dieselbe Wurst nicht, die jene Person nicht gekauft hat? Fühlt es sich an wie das Tragen eines geborgten Pullovers, in denÄrmeln nicht einfachnichts, sondern dasNichts seines Besitzers, sein Luftabdruck?

Einkaufslisten mit ih-ren fröhlichen Puddings, Backerbsen und Biokarotten haben dunkleVerwandte: Krankheit imTakt säuberlicher Listen, Apicilina 2 Cuti cop / Gesacilina 2x / Voltaren 2 / Parcemed 2, Schmerzen, verknappt zum Rhythmus einer zerhackten Kürzelsprache: Bd. Knie op + seitl. im Stehen + Pad. tang LWS op + seitl: im Stehen, Angst in nervös notierten Blutdruckwerten 9:28 167/86 / 9:33 166/93-73 / 9:46 156/86-77 / 10:45 136/75-65.

Die fragmentarische Knappheit solcher Notizen erzeugt eine Unschärfe, die in ihrer Launenhaftigkeit eine merkwürdig präzise Bestandsaufnahme des Ortes ergibt. Was könnte die dramatische Spannbreite zwischen banalen Lebensrealitäten und kreativen Prozessen eines künstlerischen Lebensentwurfs besser dokumentieren als die lapidare Notiz Comic vertonen / Eplus kündigen – gefunden im Treppenhaus der Kunstakademie? Nie wird die Abbildungsmethode dabei eine systematische sein und nie die Sammlung eine vollständige: Zettel werden geschrieben, verloren, in den Staub getreten, vom Regen aufgelöst, vom Wind verweht, von der Müllabfuhr entsorgt. Mein Ausschnitt ist ein zufälliger, eine Lücke eher: die Luft im Ärmel des geborgten Pullovers zentraler Teil der Sammlung. Es ist ein Dialog, dem die Leerstellen Kraft verleihen – wie im Fall jenes Zettels, der wohl zwischen den Bankreihen einer Klasse hin- und hergereicht wurde: Sie schrieb dabei mit schwarzem Filzschreiber, der noch gut lesbar ist, während er mit Füllfeder schrieb, deren Tinte fast vollständig im Regen zerronnen und kaum noch lesbar ist:

Ob dein Ego groß ist, oder... ?? :)

mein Ego

Kann ich nicht beurteilen

willst du [nicht] beurteilen?

Vielleicht...

Aber Vorsicht, der Glanz der Leerstellen kann flüchtig sein. Ein Eintrag bei Google entlarvt den rätselhaften Satz The world must know auf dem sonst leeren Blatt als Buchtitel; schon rastern Autor und Erscheinungsjahr, Inhalt und Rezeption den weißen Fleck. Die erstaunlichen Bilder, die beim Lesen der biederen Liste Orangen / Zitronen / Äpfel / Suppenwürze / Mehl uni / Inferno-Sprayentstehen, werden allzu rasch von der Information überschrieben, dass es sich bei dem Inferno-Spray um einen Ofenreinigungsschaum handelt.

Ich folgere: Nichtwissen ist kostbaresGut, wenn es den Dingen Größe verleiht. Welches Stelldichein um 15.30 Uhr in Zimmer 805 des Hotels Meridien stattgefunden hat, muss nicht gewusst werden: Schaue nicht um 15.30 Uhr im Zimmer 805 vorbei, wähle nicht die flüchtig notierte Telefonnummer, misstraue Google. Aber trage stets eine Kopie der Liste in arabischer Schrift bei dir, falls du jemanden triffst, der sie lesen könnte – etwa der nette ägyptische Maronibrater an der Ecke. Der sich dann aber weigerte, sie zu übersetzen, es sei die Anleitung zu einem schwarzmagischen Ritual, einem bösen Fluch, und ich solle die Zettel schleunigst entsorgen. Bislang habe ich seinen Rat noch nicht befolgt, vielleicht findet sich ja doch noch jemand, der mir die Liste übersetzt. Denn, so resümiere ich: Wissen, das Geschichten erzeugt und die Dinge zum Leuchten bringt, ist durchaus erstrebenswert.

Man könnte diese Sammlung freilich um weitere Bruchstücke ergänzen (nie aber vervollständigen) – etwa durch das Notieren von Gesprächsfragmenten, die beiläufig im Alltag vorbeiziehen, nur einen kurzen Augenblick lang scharf gestellt. Aber Sammlungen spiegeln ihre Sammler wieder, und die Restauratorin erfreut sich an der Sinnlichkeit von Papier, in das sich der raue Asphalt eingeprägt hat, am Abdruck von Sohlenprofilen und am geometrischen Staubmuster, das sich beim Auffalten der zerknüllten und flach getretenen Zettel ergibt. Sie ist beglückt von den Knicken ehemals gefalteter Papiere, von Fraßspuren an den Ecken und von der bunten Aura um jeden Buchstaben, die entstanden ist, als sich Farbstoffkomponenten des Faserschreibers im Regen gelöst haben und ins umliegende Papier gewandert sind. Nur kein restauratorischer Eingriff, denn alle Verformungen und Verfärbungen, alle Spuren des Straßenlebens sind ja Teile der Biografie, und man soll (so die Restauratorin) den Objekten ihre Geschichte nicht nehmen.

So sammelt man, und ehe man sich's versieht, bestimmt die Sammlung den Schritt: M. schreibt, die Straßenbeleuchtung in ihrer Arbeitsumgebung sei ausgefallen und sie habe es als zunächst daran gemerkt, dass sie keine Zettel auf dem Boden gesehen habe. ■


Die Sammlung wird am 1. Oktober im Rahmen der „Langen Nacht der Museen“ an der Wiener Akademie der bildenden Künste gezeigt (18 bis 24 Uhr).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2011)

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