Die Jagd nach dem Glück

Heute noch nicht glücklich gewesen? Da muss etwas geschehen. Ein Berater, ein Therapeut, ein Coach, ein Trainer, ein Scout! Ambesten, man beginnt damit gleich in der Schule: Glücksunterricht! Über eine neue Pflicht.

Weh, nun ist all unser Glück dahin!

Wagner, „Lohengrin“

Der Mensch strebt nicht nach Glück,

nur der Engländer tut das.

Nietzsche, „Götzendämmerung“


Das Glück, so könnte man meinen, schwingt sich im Dreivierteltakt durch unser Leben. Das Glück: ein unbeschwerter Tanz, ein leichter Rausch, eine elegante Drehung, eine knisternde Berührung. Solches suggeriert zumindest der „Glückswalzer“ aus Franz von Suppés im Jahre 1888 uraufgeführter Operette „Die Jagd nach dem Glück“. Allerdings: Dieser Komposition war kein Glück beschieden. Sie wurde und wird kaum gespielt, es gibt auch in Zeiten, in der alle musikalischen Raritäten ausgegraben und eingespielt werden, nicht einmal eine vollständige Aufnahme dieser Operette auf Schallplatte oder CD. Einzig der „Glückswalzer“ findet sich in dem einen oder anderen Querschnitt durch die leichten Musen.

Vielleicht nähert sich das Glück nicht im Walzerschritt, sondern es flieht uns dermaßen beschwingt, dass alle Jagd nach ihm nur in einem peinlichen Straucheln auf demTanzparkett des Lebens enden muss. Zu diesem Befund könnte man kommen, wirft man ei- nen Blick auf das einmalberühmte, mittlerweileallerdings auch vergessene Gemälde „Die Jagd nach dem Glück“, dasder spätromantische Ma-
ler Rudolf Henneberg im Jahr 1868 schuf. Das Bild vereinigt, wenn auch inüberzogener Manier, die wesentlichsten Bedeutungsstränge solch einer Jagd: Auf einer seifenblasenähnlichen Weltkugel schwebt diehalbnackte Fortuna, Weib und Glücksversprechen in einem, mit verführerischem Blicküber eine brüchige Brücke davon, vergebens und verzweifelt gejagt von einem Berittenen mit sehnsüchtig ausgestreckten Händen, hinweggaloppierend über den Leichnam seiner Frau und selbst schon, ohne es zu bemerken, in den Fängen des ihn verfolgenden Todes. Fortuna, die Göttin des Glücks, vereinigt in sich eine ganze Reihe von Eigenschaften, die sie zu einem bevorzugten Jagdobjekt machen: das Versprechen, das in ihrem Besitz liegt, die Flüchtigkeit ihrer Erscheinung und die Schwierigkeit, ihrer überhaupt nur ansichtig, geschweige denn habhaft zu werden. Die Jagd nach dem Glück, nach Reichtum, Erfolg, Sexualität, so suggeriert das Bild, ist aber immer schon die Jagd nach dem falschen Glück, nach dem Schein, dem Trug, der Illusion. Fortuna lässt sich nicht erhaschen, und während der rasende Glücksjäger sich nach der Erfüllung verzehrt, hat er das wahre Glück womöglich schon unter sich zertrampelt. Und wenn der Volksmund dieses flüchtige Glück abschwächend „a Vogerl“ nennt, dann ist mit diesem – wenn auch nicht unumstritten jagdbaren – Kleintier diese Bestimmung noch einmal unterstrichen.

Ein wohl nicht besonders gelungenes Gedicht Friedrich Nietzsches aus dem Nachlass mag die Bedeutung dieser Jagd nach dem Glück verdeutlichen: „Glück, o Glück, du schönste Beute, / immer nah, nie nah ge-
nug, / immer morgen, nur nicht heute, – / ist dein Jäger dir zu jung? / Bist du wirklich
Pfad der Sünde, / aller Sünden / lieblichste Versündigung.“ – Die vergebliche und verderbliche Jagd nach irdischen Gütern, später Nachklang des barocken Memento mori, enthälteine entscheidende Abweichung vom ursprünglichen Begriff des Jagens: die absolute Flüchtigkeit der Beute, die die Jagd zu einem sinnlosen, verzehrenden, tödlichen Unterfangen macht, einer Hetze, in der der Jagende nurmehr sich selbst auf der Suche nach einem vermeintlichen Ziel zu Tode hetzt. Dass solchallegorische Ausdeutung der Jagd nach dem Glück einer Gesellschaft, die sich im Geschwindigkeits- und Bereicherungsrauschverzehrt, gleichzeitig suspekt sein muss und sie dennoch ihrer immanenten unangenehmen Wahrheit überführt, könnte übrigens zu denken geben. Eine ganze Reihe rastloser Tätigkeiten und Beschleunigungen, durch die die moderne Gesellschaft ihre Dynamik erfährt, erinnert und gemahnt an eine solche Jagd, der die Bewegung, die Hast, die Hetze, die Verfolgung zum Selbstzweck geworden zu sein scheint.

Aber wer wäre nicht gerne glücklich? Undwer haschte nicht gerne hin und wieder ei- nen Zipfel vom Glück? Und wer ist nicht froh, nach einer überstandenen kritischen oder gefährlichen Situation zu sich selbst sagen zu können: Glück gehabt? Und wer war noch nie in der Lage, sein Glück zu versuchen? Schlimm allerdings, wenn man dabei sein Glück aufs Spiel setzte. Was aber heißt es: nach Glück zu streben? Und hat man dieses Glück erreicht, wenn man Glück gehabt hat? Glück ist nicht gleich Glück. Im deutschen Wort „Glück“ bündeln sich zwei unterschiedliche Erfahrungen: fortuna und felicitas, das Glück, das sich dem Zufall, und das Glück, das sich der eigenen Anstrengung verdankt. Die wahre Glückseligkeit aber, die christliche beatitudo, das Seelenheil, deckt sich weder mit dem einen noch mit dem anderen. Denn bei diesem geht es nicht ohne die göttliche Gnade. Allerdings: Wer heute von Glück redet, hat kaum noch eine theologische Perspektive im Sinn.

Dennoch bedeutet von „Glück“ zu sprechen: sich den Missverständnissen auszusetzen, die aus der Bedeutungsvielfalt des Glücksbegriffs erwachsen. Wer in einer Quizshow sein Glück sucht, meint etwas anderes als derjenige, der in der Liebe nach Glück strebt oder schlicht nur einmal ein paarglückliche Momente am Meeresstrand erleben möchte. Und dort, wo wir die Frage „Geht es dir gut?“ noch als konventionelle Höflichkeitsfloskel ins Leere laufen lassenkönnen, versetzt uns die Frage „Bist du glücklich?“ in einen ziemlich unangenehmen Zustand. Denn wer wüsste solches von sichschon zu sagen? Wann weiß man, ob manglücklich ist? Wann weiß man, ob man Glückgehabt hat? Entpuppt sich nicht immer wieder das vermeintliche Glück als nachträgliches Unglück und, wenn auch seltener, das vermeintliche Unglück als nachträgliches Glück?

Wozu taugt der Glücksbegriff überhaupt? Zur Beschreibung von Wohlfühl- und Zufriedenheitsgefühlen, zur Benennung angenehmer, überraschender Zufälle, zur Formulierung von Lebenszielen, Handlungsmaximen, zur Charakterisierung von ekstatischen Lebensmomenten, erfolgreichen Lebensabschnitten oder gar ganzer, gelungener Leben? Was heißt es, von einem geglückten Leben zu sprechen? Doch nicht nur, dass Menschen, denen wir dieses zuschreiben, einfach Glück gehabt haben. Denn eines ist klar: Nur Glück zu haben ist für ein glückliches Leben allemal zu wenig. Aber besteht das Problem unserer Zeit nicht überhaupt darin, das Glück aus dem Feld der Unabwägbarkeiten zu befreien und zu einem kalkulierbaren und planbaren Modus des Lebens zu machen und daraus nicht nur die Normalität des Grenzfalles „Glück“ abzuleiten, sondern auch gleich ein Recht auf das Glück einzufordern? Und liegt die prekäre Kehrseite dieses Rechts auf Glück nicht darin, dass daraus schneller, als man denkt, eine Verpflichtung zum Glück entsteht und jeder, der eben kein Glück gehabt hat, sich auf dieses Unglück gerade nicht mehr beziehen darf, weil er offensichtlich unfähig war, sich sein Glück zu erarbeiten? Sind wir, wie es der französische Philosoph Pascal Bruckner formulierte, „verdammt zum Glück“, ist diese Verschränkung von Glücksanspruch und Glücksverpflichtung tatsächlich ein „Fluch der Moderne“, der die Menschen zwingt, unter allen Umständen und mit allen Mitteln ihr Glück zu suchen, und es ihnen verwehrt, auch nur für wenige Tage ein wenig unglücklich, traurig oder auch nur indifferent gestimmt zu sein?

Gerne verwechseln wir deshalb die Möglichkeit, unser Glück zu suchen, mit der Pflicht, glücklich zu sein. Heute noch nicht glücklich gewesen? Da muss etwas geschehen! Ein Berater, ein Therapeut, ein Coach, ein Trainer, ein Glücksscout – sie sind schnell zur Hand. Und am besten ist es, man beginnt damit gleich in der Schule: Glücksunterricht! Denn auch das Glücklichsein muss gelernt werden, die Glückskompetenz gehört zur neuen schönen Bildungswelt, Glück ist nun ein Unterrichtsfach. Was immer man davon halten mag: Solches indiziert zumindest ein veritables Problem modernen Glücksverlangens. Wer Glück, wenn auch in Maßen, wennnicht unbedingt zu einer Pflicht, dann wenigstens zu einem Pflichtgegenstand macht, muss es so zuschneiden, dass es für alle geeignet erscheint. Die großen Ekstasen werden damit ebenso wenig gemeint sein wie Augenblicke, die unvergesslich sind, weil sie sich jeder Planung entziehen.

Aber dass es Indikatoren gibt, die für das positive Lebensgefühl der Menschen mindestens ebenso wichtig sind wie das vielbeschworene Wirtschaftswachstum, stehtmittlerweile außer Streit. Eine befriedigende Arbeit, soziale Anerkennung, die Möglichkeitder Partizipation am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, saubere Umwelt und ein funktionierendes Gesundheitswesen – das garantiert noch kein Glück, macht aber zumindest das Leben leichter. Dieses Glück für alle ähnelt natürlich jenem Glück, das Nietzsche dem „letzten Menschen“ zuschrieb: „Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht, aber man ehrt die Gesundheit.“ Ein bisschen mehr mag in dem, was heute Well-Being genannt wird, schon stecken, aber esist das kleine Glück, das staatlich garantiert und deshalb auch jedem gewährt, aber auch abverlangt werden kann.

Es ist dieser Gedanke, dass das Glück nicht in einigen wenigen eksta-tischen Momenten, sondern in einem insgesamt „guten Leben“ besteht, der jedoch das Glück auch in seiner schwachen Form so anfällig für alle Varianten des Scheiterns macht. Denn ein gutes Leben erfordert so viele Voraussetzungen und stellt selbst solch ein fragiles Konstrukt dar, dass es immer gefährdet sein wird: eine falsche Bewegung, ein unglücklicher Zufall, eine Begegnung am falschen Ort zur falschen Zeit, ein falsches Wort – und uns bleibt nur der Jammer Lohengrins angesichts der verhängnisvollen Frage Elsas nach seiner Identität: Weh, nun ist all unser Glück dahin! Genau diese Anfälligkeit des Glücks angesichts der Unverfügbarkeiten des Daseins hat übrigens Denker wie Schopenhauer dazu gebracht, das Glück als Ziel und Maxime des Lebens zu verwerfen: Die Summe möglichen Unglücks wird nämlich immer größer sein als die Summe möglichen Glücks. – Die Bedeutung, die wir dem Glück zuschreiben, kommt allerdings nicht von ungefähr. Das Glück ist in einer säkularen Gesellschaft das, was übrig bleibt, wenn alle anderen Sinnstiftungsmodelle außer Kraft gesetzt worden sind. Wenn der Mensch nicht mehr lebt, um selig allein durch den Glauben zu werden oder im Heiligen Krieg seinem Gott zu dienen, wenn er nicht mehr für seine Sippe, sein Vaterland, seinen Kaiser oder seine Partei sein Leben riskieren möchte, wenn er sich weder der Pflicht, die ihm der kategorische Imperativ auferlegt, noch der Lust, die ihm seine Sinne diktieren, unterwerfen will, wenn er nicht für eine Utopie, Ideologie oder auch nur irgendeine Idee arbeiten möchte, wenn er es satt hat, sein Leben lang frühmorgens auf Börsenkurse zu starren –dann bleibt nur nochdas Glück. Und wenn das Glück zum Ziel und Maßstab eines gelungenen Lebens geworden ist, dann bleibt kein Platzfür das Unglück. Dasses im Leben der Menschen auch um etwasanderes als um Glückgehen kann, dass mitunter Dinge zu tun sind, die nicht unbedingt gleich glücklich machen, dass es Phasen der Trauer, Enttäuschung und Verzweiflung nicht nur geben kann, sondern dass diese zum Leben selbst gehören, ist einem Bewusstsein fremd geworden, das ständig mit dauerlachenden, strahlenden und positiv gestimmtenGlücksikonen versorgt wird.

Nach Glück zu streben und das Glück zu suchen ist freilich kein Vorrecht der Moderne. Zumindest in der Philosophie datiert die Thematisierung des Glücks seit der Antike; ja, Philosophie war tatsächlich einmal eine Lehre vom Glück. Am umfassendsten hat sich wohl Aristoteles mit dem Glück und der Glückseligkeit, mit der eudaimoniaauseinandergesetzt. Das Glück, so Aristoteles, ist das höchste Gut, nach dem wir streben. Es ist das letzte Ziel unseres Daseins, dasjenige, das wir um seiner selbst willen anstreben. Natürlich: Zum Glück gehören Freiheit und Wohlstand, Gesundheit und Freunde, Familie und Ansehen – aber entscheidend ist für Aristoteles, dass der Mensch dann am glücklichsten sein wird, wenn er sich als Mensch verwirklichen kann. Was aber heißt Menschsein? Von allen anderen Wesen unterscheiden wir uns durch unsere Vernunft. Alles andere, Körper, Triebe, Begierden, teilen wir mit dem Tier. Als Mensch glücklich sein kannnur, wer seiner Vernunft gemäß leben kann. So, wie wir dem artgerecht gehaltenen Tier Glück zuschreiben, verhält es sich auch mit dem Menschen. Er muss seiner Art gemäß leben können, und das heißt, er muss seine Vernunft entfalten können.

Was aber heißt es, seine Vernunftbegabung zu entwickeln? Bedeutet dies, dass nur kühle Rationalisten ein menschliches Leben führen können? Nein. Was Aristoteles intendierte, war, dass die Vernunft, die in der Hierarchie über allen anderen Formen und Möglichkeiten des Lebens steht, diese zu bündeln und in ein ausgewogenes Maß zueinander zu bringen hätte. Der Mensch wird dann richtig leben, wenner aus seiner Vernunfteinsicht und mithilfe der Vernunft all seine Anlagen und Möglichkeiten optimiert und vernünftig ausbildet und einsetzt. Das markiert den aristotelischen Begriffder Tüchtigkeit: durchVernunft und auf Vernünftigkeit hin angelegte Entfaltung menschlicher Möglichkeiten, die eine seelische Vortrefflichkeit und einen letzten Endes tugendhaften und deshalb glücklichen Menschen ergeben soll.

Seit Aristoteles gehen wir davon aus, dass das gelingende, das gute Leben auch in einem moralischen Sinn ein gutes Leben ist. Unerträglich scheint uns bis heute ein Gedanke, den einzig Nietzsche unverblümt ausgesprochen hat: dass es ein Glück der Bösen geben könnte. Wohl zeichnete Nietzsche ein einigermaßen romantisches Bild von diesem Glück: „Diese stillen, düsteren, bösen Menschen haben Etwas, das ihr ihnen nicht streitig machen könnt, einen seltenen und seltsamen Genuss im dolce far niente, eine Abend- und Sonnenuntergangs-Ruhe, wie sie nur ein Herz kennt, das allzu oft durchAffekte verzehrt, zerrissen, vergiftet worden ist.“ Das Böse liegt hier nicht in der Gier nach machtvollem Leben, sondern in einem gelassenen Abschied davon, der Resultat selbstdestruktiver, innerer Konvulsionen ist. Nicht genug damit, setzt Nietzsche noch nach: „So gewiss es hundert Arten von Glück bei den Bösen gibt, von denen die Tugendhaften Nichts ahnen, so gibt es an ihnen auch hundert Arten von Schönheit: und viele sind noch nicht entdeckt.“ Solange wir Glück und Moral zusammendenken wollen – und täten wir das nicht, gäbe es keinen Glücksunterricht –, wird uns dieser Gedanke irritieren müssen: dass die großen und kleinen Verbrecher nicht nur glücklich, sondern, horribele dictu, womöglich glücklicher als die Tugendhaften sind. Das widerstrebt zutiefst unseren Vorstellungen.Können wir uns die Korrupten und die Gierigen, die Killer und dieGewalttäter wirklich alsglücklich vorstellen? Dagegen wehrt sich nicht nur ein diffuses Gerechtigkeitsgefühl, das solche Menschen am Ende im Unglück sehen will, sondern ein zentraler Gedanke der Moderne: dass das Böse selbstFolge erlittenen Unglücks ist. Weil wir – von wenigen Ausnahmen abgesehen – im Bösen das Versagen von Familie, Milieu und Gesellschaft am Werk sehen, kann das Böse keine Quelle des Glücks mehr sein – allen Befunden der Wirklichkeit zum Trotz.

Also doch zurück zu Aristoteles. Glücklich wird man, wenn man seine Lebensführung der Vernunft überlässt. Am glücklichsten müsste man dann aber sein, wenn man sich überhaupt nur auf die Vernunft, das, was den Menschen zum Menschen macht, konzentrieren könnte. Was tut die Vernunft, wenn sie als Vernunft vernünftig ist? Wann verwirklicht sich die Vernunft als Vernunft? Vernunft ist wesentlich nichts anderes als Denken. Was tut aber das Denken? Das Denken bedenkt etwas – es hat einen Gegenstand, eine Frage, ein Problem, über das es nachdenkt. Das Denken ist dann ganz bei sich, wenn es theoretisiert, also Theorien, Bilder, Modelle der Welt entwirft. Eine etymologische Deutung des Wortes theoría besagt ja, dass dieses Denken mit dem Sehen, dem Schauen zu tun hat. Und tatsächlich definierte Aristoteles das vollkommene Glück als ein „Leben der aktiven geistigen Schau“. Die Aktivisten und die Händler, die Manager und die Macher, die Ruhelosen und die Praktiker, die Weltzerstörer und die Weltenretter – ihnen steht das Unglück deshalb auf die Stirn geschrieben.

Das Glück liegt nicht im Handeln. Dies ist die bis heute provozierende These des Aristoteles: „Wer aber ein aktives Leben des Geistes führt und den Geist pflegt, von dem darf man sagen, sein Leben sei aufs Beste geordnet und er werde von den Göttern am meisten geliebt. Dass dies aber im höchsten Grade bei dem Philosophen zu finden ist, darüber besteht kein Zweifel. Und so wird der Philosoph von den Göttern am meisten geliebt. Als Liebling der Götter aber genießt er auch das höchste Glück.“

Das ist eine konsequente Folgerung und die große Antwort auf die Frage nach dem Glück als dem höchsten Gut. Der Philosoph erklärt den Philosophen zum Glücklichen. Das klingt für heutige Ohren ja fast schon wieder böse. Aber wenn man die geistige Schau als Inbegriff der Erfüllung menschlicher Freiheit und das wiederum nicht als Vorbedingung, sondern als Realisation vonGlück sieht, dann wird deutlich, dass die kontemplative Lebensform des Philosophen,das Leben in der Theorie, in der Erkenntnis, im höchsten Maße glücklich macht. Wer einen Philosophen ins Unglück stürzen will, braucht diesen nur aufzufordern, endlich etwas zu tun, sich zu engagieren, die Welt zu verändern. Nur ein Denken, das auf keine Praxis verpflichtet werden kann, führt zum Glück, ja, es ist das Glück. Und noch in der Wut, die sich immer wieder gegenüber Menschen artikuliert, die nur nachdenken möchten, nur forschen möchten und nicht nach dem Nutzen, nach der Wirkung fragen, drückt sich ein Moment der Wahrheit dieser These aus.

Damit aber stellte die Philosophie nicht nur einen Leitfaden für das geglückte Leben bereit, die Philosophie verstand sich einmal als die entscheidende Verwirklichung dieses Glücks. Ohne Philosophie gibt es kein Glück auf dieser Erde. Alles andere ergibt sich daraus. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.09.2011)

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