Helden ohne Aussicht

Das Äußere Burgtor ist nicht einfach nur ein Tor – und steckt voller mysteriöser Kammern. Über „Krypta“, „Weiheraum“ und „Ehrenhalle“ – eine Begehung am Wiener Heldenplatz.

Man wird sich einer bubenhaften Neugier kaum entziehen können, wenn man die vergilbten Abbildungen in der alten Vitrine des Gedenkraumes betrachtet, was in dem versperrten Raum direkt über der Tordurchfahrt wohl stattfinden mag. Bei einem länger zurückliegenden Spaziergang über den Ring war mir erstmals zufällig das schwarze Eisengitter in der Schmalseite des Burgtores aufgefallen, und wie dahinter eine monumentale Stufenanlage zu einem begehbaren Plateau oberhalb der Durchfahrt führt, dem Blick von unten entzogen. Kein Täfelchen irgendwo, keine Öffnungszeiten, kein Hinweis darauf, was es mit der verborgenen Anlage auf sich haben könnte.

Den romantischen Plan, nachts über das Gitter zu klettern, geben wir rasch auf. Vor Jahren einmal wollten wir spätabends, vom Burggarten kommend, noch hinaus auf den Ring, doch die Tore waren schon versperrt. Also wählten wir eine stadtbekannte Stelle, wo das Gitter recht niedrig ist, und kletterten darüber. Wir waren betrunken genug, um die Höhe zu unterschätzen. Uns folgten ein paar torkelnde Anzugträger, die derart umständlich und lamentierend über die Stäbe krochen, dass wir uns fast schon Sorgen machten. Doch ihr Geschrei war vorauseilend gewesen, und alle blieben unverletzt. Die schwarzen Gittertore hier vor der Treppenanlage sind höher und schließen nach oben mit scharfen Spitzen ab. Eindeutig unüberwindlich. In solchen Fällen liest man erst einmal im Dehio nach, Seite 465.

„Äußeres Burgtor. Bedeutendstes Werk des Revolutionsklassizismus in Österreich, erb. 1821–24 von Luigi Cagnola und nach Planänderungen v. a. von Pietro Nobile zur Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig 1813. 1916 Umwidmung in Kriegerdenkmal, 1933/34 Umgestaltung durch Rudolf Wondracek als Heldendenkmal zu Ehren der Opfer des Ersten Weltkrieges, seit 1965 auch Gedenkstätte für Opfer des österreichischen Freiheitskampfes.“

Der Neubau erfolgte an der Stelle, wo die alte Burgbastei von napoleonischen Truppen gesprengt worden war. Nach außen hin, zur späteren Ringstraße, bilden die Pfeiler und Bögen des Mittelteils zusammen mit den Seitenflanken aus Ziegelmauerwerk eine geschlossene und fast schroffe Fassade. Das Holz und die Beschläge der fünf mächtigen Tore sind noch Originalbestand. Es braucht mehrere Männer um einen Flügel zu bewegen. Betritt man die Durchfahrt, quert man drei Reihen aus mächtigen dorischen Säulen: Man ist in den Säulenwald geraten. Als dreidimensionales Erlebnis war mir so etwas zum ersten Mal beim Brandenburger Tor in Berlin aufgefallen. Der fast verwirrende Raum, in den man beim Durchschreiten gelangt, ein geometrischer Wald, den zu durchmessen es mehr als ein paar Schritte braucht. Der Berliner Bau von Carl Gotthard Langhans war etwa 30 Jahre vor dem Äußeren Burgtor errichtet worden. Der Klassizismus war in Mitteleuropa angesagt.

Im Gestern und im Heute, zugleich

An der Innenseite, zum heutigen Heldenplatz hin, ist dem Grundkörper zu beiden Seiten ein Vorbau als Pfeiler- und Säulenreihe angefügt. Die Bezeichnung als Tor ist ja irreführend. Das Burgtor ist kein Tor, sondern ein Gebäude. Durch diese Erweiterung wird es noch mehr zum räumlichen Körper. Der Blick entlang der Säulenreihe zum entfernt gelegenen Rathaus ist sehr eindrucksvoll. Abenddämmerung in Schinkelfarben und Rollerblade-Versammlung davor samt Ghettoblaster auf alten Steinstufen erinnern daran, was Gebäude oft so herrlich zu leisten im Stande sind: im Gestern und im Heute sein, gleichzeitig.

Wir entschieden uns, die Erkundung unter dem senkrechten Licht der Mittagssonne statt bei Mondschein und Nebel vorzunehmen. Der Ort ist auch so schräg genug. Ein Termin mit der Burghauptmannschaft war bald vereinbart. Zum ausgemachten Zeitpunkt stehen wir beim Papstkreuz vor der sogenannten Ehrenstiege, träge schwingt das schwarze Eisengitter auf mit seinen scharfen Spitzen, und wir steigen die Stufen hinauf zum Dachatrium, der sogenannten Ehrenhalle. Vorbei an Steinköpfen, die aus der seitlichen Kalksteinverkleidung hervorragen und deren Physiognomie die Völker der alten Monarchie repräsentieren soll. Ganz Kind ihrer Zeit, nämlich der 1930er-Jahre, wir lesen nach, Deutschösterreicher, Ungar, Kroate, Tscheche, Pole, Ruthene, Rumäne, Italiener.

1933/34 wurde das Burgtor nach einem Wettbewerb von Rudolf Wondracek, einem Schüler Otto Wagners, zu einem Heldendenkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs umgebaut. Der autoritäre Ständestaat versuchte, wohl auch eine österreichische Identität zurückzudatieren und damit den Rückhalt bei einer völlig gespaltenen Bevölkerung zu festigen. Die äußere Gestalt sollte nicht verändert werden, die übrigen Eingriffe in das bestehende Monument waren massiv. In die Seitenflanken wurden zwei nach oben offene Stiegenanlagen gebrochen, die von beiden Seiten auf eine mittig über der Tordurchfahrt gelegene, abgesenkte Dachplattform führen. Das Gebäude lässt sich dadurch quer zu seiner Durchfahrtsachse begehen, eine gegenläufige Bewegung, die man von außen nicht erwarten würde, eine begehbare Skulptur.

Wir stehen etwas unschlüssig in der sogenannten Ehrenhalle herum, mitten über den Säulenjochen der Tordurchfahrt, im ausgehöhlten Dachkranz. Eine Art offener Atriumhof ohne Ausblick. Die erhöhte Attika des Mitteltraktes ist nach innen geführt und bildet einen länglichen Hof aus. Ein umlaufendes Vordach dient als Witterungsschutz der Wandreliefs. Bodenplatten und Wandverkleidungen sind aus Muschelkalk. Der Wind ist jetzt zu hören, wie er über den Dachkranz streicht. Herbstblätter rascheln in der Ecke, ein kleiner Strudel kreiselt, aus Ahornsamen und Federn. Löwenzahnhalme sprießen da und dort aus den Fugen. Sonst ist die Anlage gepflegt und nach einer aufwendigen Sanierung vor etwa 15 Jahren gut in Stand. Den Wind wird es freuen.

„Die Helden des Weltkrieges sind unter freiem Himmel gefallen, sie sollen unter freiem Himmel geehrt werden“, soll Architekt Wondracek über den Bau gesagt haben. Ein wenig ratlos-verlegen betrachten wir die Wände mit den Darstellungen österreichischen Soldatentums aus drei Jahrhunderten, 1618 bis 1918, wir schlagen nach: Musketier, Dragoner, Husar, ein Grenadier und ein Kampfflieger sind etwas einfältig als Steinreliefs ausgeführt. Hier ist mehr gestern als heute. Der Ghettoblaster wird abends kaum zu hören sein. Ein Gestern, das uns doch recht verstellt erscheint. Obwohl die milde Spätsommersonne klar von oben scheint und keine Schatten wirft.

Auch das Innere des Burgtores wurde 1934 umgestaltet. Nördlich der Durchfahrt wurde die sogenannte Krypta eingerichtet, ein düsterer Sakralraum, den Gefallenen des Ersten Weltkrieges geweiht. Nur im Vormittagslicht verbreiten die mundgeblasenen Bleiglasfenster etwas Atmosphäre. Vor dem Altar liegt die überlebensgroße Statue eines gefallenen Kriegers aus rotem Adneter Marmor, gestaltet von Wilhelm Frass, der als Bildhauer auch die Köpfe an der Außenstiege gefertigt hatte. Gleich nach dem „Anschluss“ Österreichs an Nazi-Deutschland hatte er sich seiner frühen illegalen Nazi-Mitgliedschaft gebrüstet. Nach dem Krieg wurde er als „minderbelastet“ eingestuft. – Im dunklen Nebenraum liegen in heruntergekommenen Vitrinen mächtige Folianten aufgeschlagen. Akribisch sind die Gefallenen der beiden Weltkriege aufgelistet. Handschriftlich nach Bundesland und Ort geordnet, Name, Geburtstag, Rang und Einheit, Todestag und Kampfgebiet. Die Bücher über den Zweiten Weltkrieg wurden später ergänzt, diesmal in Maschinenschrift. „Vermisst in Stalingrad“ lese ich auf der aufgeschlagenen Wiener Seite gleich mehrmals. Das Verzeichnis ist ein Original und nicht digitalisiert. Jeden Tag wird eine Seite umgeblättert. Im Laufe eines Jahres soll der Name jedes Gefallenen aufgeschlagen liegen. Der Wirkung der einfachen Installation wird man sich kaum entziehen können. Dieser Raum ist regelmäßig zugänglich.

„Weiheraum“ für einen Tag im Jahr

An der südlichen Seite der Tordurchfahrt wurde 1965 von der österreichischen Bundesregierung ein „Weiheraum“ eingerichtet, im Gedenken an die Opfer im Kampfe für Österreichs Freiheit. Die Mittel der Gestaltung wirken nüchtern und zeitgemäßer. Aber was soll in einer Demokratie ein Weiheraum, der genau an einem Tag des Jahres zur Kranzniederlegung genutzt wird? Von außen ist hinter den trüben Strukturglasscheiben nicht einmal dessen Existenz zu vermuten, wieder kein Schild, kein Hinweis, nichts. Hoffentlich können die Geister der Verstorbenen damit etwas anfangen, an den restlichen 364 Tagen und Nächten.

Eine Nutzung der abgesperrten Areale über dem Tor gibt es ja tatsächlich. Beim Vienna City Marathon werden Ehrenstiegen und Ehrenhalle als Brücke verwendet, um Teilnehmer und Besucher quer über den Zieleinlauf zu lotsen. Das Bild, wie die verschwitzten Teilnehmer des Marathons etwas verdutzt vorbei an drei Jahrhunderten österreichischen Soldatentums geleitet werden und gar nicht ahnen, wie exklusiv ihr einmaliges Wegerecht an diesem Tag wiegt, vermag ich mir fast nicht auszumalen. Ein triftiger Grund, sich den Stadtmarathon vorzumerken.

Der Umgang mit solchen Orten lässt sich erarbeiten. Baurechtliche Bedenken kann man lösen. Und neben sicheren Handläufen und rutschfesten Beschichtungen gilt: aufsperren, zugänglich machen, kommentieren – falls notwendig. Mir scheinen einige der historischen Eingriffe auch ohne Kommentar beredtes Zeugnis abzulegen über sich und die Zeit. Wenn man sie lässt. Beispiele für den klugen und behutsamen Umgang mit komplexer und schwieriger Geschichte gibt es schon einige. Das Burgtor selbst ist älter als manche der wechselhaften Geschichtslaunen. Das Eisengitter geschlossen zu halten wird diese Witterungsspuren nicht zum Verschwinden bringen. Und es soll sich ja keiner verletzen beim Drüberklettern, selbst wenn er ganz nüchtern wäre. Bleibt noch der Stadtmarathon. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.10.2011)

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