Die Spuren der anderen

Eine deutsch-polnische Liebesgeschichte mit Vergangenheit. Der Großvater von Uwe war bei der Waffen-SS, der Großvater von Gabriela im KZ. Uwe und Gabriela sind miteinander verheiratet und gemeinsam auf Spurensuche.

Im Juli 2006 ist Uwe von Seltmann wieder einmal in Krakau. In der Stadt, die für ihn, seitdem er als Kind im Pass seines Vaters die Stadt als dessen Geburtsort entdeckt hatte, immer eine Art Mythos war, ein Ort der Sehnsucht und des Fernwehs. Wie oft zuvor geht Uwe auch an jenem Abend ins Café Singer, setzt sich an eines der Nähmaschinentischchen und trinkt ein Bier. Aus den Lautsprechern kommt Klezmer und Jazz aus den 20er- und 30er-Jahren. Seine Gedanken kreisen um den Großvater, den er nie gekannt hat.

Vielleicht denkt er auch an das Buch, das der Großvater geschrieben hat, und das er eines Tages im Regal seines Vaters entdeckt hat: „Tagebuch vom Treck der Wolhyniendeutschen“, erschienen 1941 im Voggenreiter Verlag Potsdam. Ein, wie es im Klappentext heißt, „anschaulicher und packender Tatsachenbericht des Autors, der bei der Umsiedelung der deutschen Minderheit in Wolhynien unerhörte Schwierigkeiten des Kampfes gegen Raum und Wetter mit seinen Schützlingen zu meistern hatte“.

Die Volksdeutschen „heim ins Reich“ zu holen gehörte zu den „volkspolitischen Maßnahmen“, für die Lothar von Seltmann als Leiter der Volksdeutschen Mittelstelle in Krakau zuständig war. Dort war er im Stab von Odilo Globocnik, einem der brutalsten Massenmörder des Dritten Reichs. Der SS- und Polizeiführer Lublins war verantwortlich für die Durchführung der „Aktion Reinhardt“ – und damit für die Ermordung von rund zwei Millionen Juden.

Krakau war der letzte Einsatzort seines Großvaters. Dort kam 1943 Uwes Vater zur Welt, als eines der sechs Kinder des Lothar von Seltmann. „Lothar von Seltmann war ein Täter, über dessen Verstrickung und Anteil an nationalsozialistischen Verbrechen die Angehörigen nichts wissen wollten und nicht sprechen konnten“, heißt es im Nachwort zu Uwe von Seltmanns 2004 erschienenem Buch „Schweigen die Täter, reden die Enkel“. „Kein NS-Verbrecher, dessen Namen man kennt, aber einer der vielen, ohne deren Gesinnung und Eifer das System des Nationalsozialismus, die Besetzung fremden Territoriums, die Versklavung und Vernichtung nicht funktioniert hätte.“

Als Uwe im Sommer 2006 im Café Singer sitzt, im ehemaligen jüdischen Viertel Kazimierz in Krakau, hat er über diesen verschollenen Täter, seinen Großvater, schon jahrelang recherchiert. Was er an Fakten zusammengetragen hat, ist rasch erzählt.

Lothar von Seltmann, geboren am 12.Jänner 1917 in Graz, ist von Jugend an begeisterter Nationalsozialist. Mit 14 tritt er in die HJ ein, mit 15 in die SA. Mehrere Male wird er verhaftet, wegen der Beteiligung an Sprengstoffanschlägen und der Herausgabe einer Nazi-Zeitschrift. 1934 flieht er nach Deutschland und schließt sich der Österreichischen Legion an, jenem Verband von 15.000 österreichischen SA-Aktivisten, die nach dem Verbot der NSDAP nach Deutschland flüchten, um dort den Einmarsch in Österreich vorzubereiten. Nach dem Anschluss im März 1938 kommt Seltmann nach Wien. 1939 wird er Teil der Totenkopf-Division der Waffen-SS und kommt ins besetzte Polen. Die bitterste Wahrheit für den Enkel: Als die Waffen-SS 1943 den Aufstand im Warschauer Ghetto blutig niederschlägt, ist auch sein Großvater beteiligt. Zigtausende Juden sterben bei den Kämpfen oder werden danach erschossen, Tausende in Vernichtungslager deportiert.

Unbekanntes Ende des einen . . .

Was offen bleibt, ist sein Tod. Denn das letzte Lebenszeichen von Lothar von Seltmann stammt aus Niederschlesien, vom Februar 1945, aus einer Zeit, als die Sowjets das Gebiet befreiten. Er soll für diesen Fall eine letzte Kugel aufgehoben haben. Seine sterblichen Überreste werden nie gefunden – doch auf dem Wiener Zentralfriedhof gibt es einen Grabstein mit seinem Namen. Seine Frau, die unbekannte Großmutter, stirbt im November 1945. Die Kinder werden auf Pflegefamilien aufgeteilt. Uwes Vater kommt nach Müsen, einem kleinen Ort in der deutschen Provinz, die dort „Siegerland“ heißt. Mit seinen Recherchen hat sich der 1964 geborene Journalist und Buchautor Uwe von Seltmann gegen einen Teil seiner Familie gestellt. „Vor dem Buch war der Großvater das Tabu, seit Erscheinen des Buches ist das Buch tabu in der Familie.“ Er habe die Familienehre beschmutzt, die Lebensleistung (!) des Großvaters nicht hoch geachtet, sein Andenken nicht in Ehren gehalten – er sei ein Nestbeschmutzer. So denken sein Onkel und der österreichische Teil der Verwandtschaft, darunter einige, deren Nähe zur FPÖ bekannt ist. Auch sein Bruder könne das Wühlen in der Vergangenheit nicht verstehen und sei auf Distanz gegangen. Trotzdem kann Uwe nicht aufhören, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen.

Es ist eine heitere Runde, die an jenem Sommerabend im Juli 2006 im Café Singer sitzt. Gabriela erzählt: „Am Nebentisch saß ein Mann und beobachtete uns. Jemand von uns wollte ein Foto machen. Der Mann kam zu uns und fragte, ob er uns fotografieren solle. Er sprach uns in einer sehr eigenartigen Sprache an.“ Später erfuhr sie: Er kam gerade aus der Ukraine und wollte etwas auf Polnisch sagen, doch heraus kam ein Kauderwelsch aus Deutsch und Ukrainisch. Gabrielas Freundin sagt: „Ah, du bist Deutscher! Komm, setz dich zu uns!“ Sie fragen ihn aus. Uwe erzählt von sich, sagt ihnen, dass er hier im Café Singer ein Buch über seinen Großvater geschrieben habe. Sie wollen mehr wissen, und Uwe muss es sagen: „Mein Großvater war ein SS-Mann, und er war auch hier, in Krakau.“ Die Runde schweigt, bis die eine junge Frau sagt: „Oh, my grandfather was killed at Auschwitz.“

Irgendwann verlassen Uwe und Gabriela das Café. Uwe erzählt von seinem Großvater. „Ich fühlte eine große Wut. Aber nicht gegen Uwe, sondern gegen die Situation! Dass wir mit diesen furchtbaren Dingen fertigwerden müssen“, erinnert sich Gabriela.

Seit dieser Nacht sind sie zusammen. 2007 heiraten sie. Gabriela, emanzipierte junge Frau, Künstlerin und Filmschaffende, nimmt den Namen Seltmann an. Als demonstratives Zeichen, dass sie zu ihrem Mann steht, trotz seiner Familiengeschichte.

Heute meint Gabriela: „Manchmal frage ich mich, wie sehr wir einander gewählt haben, oder wie sehr die Situation uns gewählt hat.“ Es habe Momente gegeben, da habe sie sich gesagt: „Ich will nicht weitermachen. Wir leben zu sehr in der Vergangenheit. Wir beschäftigen uns oft mit Dingen, die zu groß für uns sind.“ Er könne sich erinnern, sagt Uwe, dass er mit seiner Frau im Bett gelegen sei, „und wir uns gefragt haben, was würden wohl unsere Großväter dazu sagen, dass wir hier so beisammenliegen“? In ihrem Haus in Grybow steht Gabrielas Mutter Hanka Maciejowska vor einem Ölbild, das ihren Vater als ganz jungen Mann zeigt. Den Vater, an den sie persönlich keine Erinnerung hat. Als die Nazis Michal Pazdanowski mitnahmen, war sie acht Monate alt. Unaufhörlich rinnen Hanka die Tränen übers Gesicht. Sie versucht Deutsch zu sprechen, die lange verhasste Sprache, mischt englische und französische Brocken hinein und fällt immer wieder ins Polnische. Die Emotionen der Mutter übertragen sich auf Gabriela, die zu übersetzen versucht. Gabriela ist meine Dolmetscherin in dieser Familiengeschichte, in die sie selbst zutiefst involviert ist. Doch ihre Eltern wollten niemand Fremden als Übersetzer akzeptieren.

Hanka war schon 18, als sie mehr über den Tod des Vaters erfuhr, über den die Mutter nicht sprach. Onkel Jerzy, der Bruder ihres Vaters, habe eines Tages gesagt: „Dein Vater wurde in Auschwitz ermordet!“ Er starb kurz nach Ankunft aus dem KZ Lublin-Majdanek, so sein Freund Leon Kulesza, ein Überlebender, der später Briefe an die Familie schrieb. Seine Berichte bestätigen, was Historiker sagen: Majdanek war eines der schlimmsten Lager überhaupt. Die wenigen Häftlinge, die dort überlebten, empfanden Auschwitz als Erholung. Hanka bringt es bis heute nicht fertig, die Briefe zu lesen.

. . . bekanntes Ende des anderen

Gabrielas Großvater Michael Padzanowski wird am 22. September 1903 geboren. Er studiert in Krakau und an der Kantonalen Alpwirtschaftlichen Schule Brienz in der Schweiz Landwirtschaft. 1937 übersiedelt er mit seiner Frau nach Zabie, dem heute ukrainischen Verhovyna. Er wird Direktor einer Landwirtschaftsschule und unterrichtet das „Bergvolk“ der Huzulen. Im November 1942 wird er von der Gestapo abgeholt. Da waren alle Juden der Gegend schon ermordet. Pazdanowski fällt dem Vernichtungsfeldzug der Nazis gegen die polnische Intelligenz zum Opfer. Am 2. Februar 1943 wird er nach Lublin-Majdanek deportiert.

Seit 2007 sind Uwe und Gabriela nun auf Spurensuche nach Michal Pazdanowski. Sie recherchieren in ganz Europa, in den ukrainischen Karpaten, den Archiven der Gedenkstätten Majdanek und Auschwitz, in Lemberg, Stanislau, Warschau.

Ich bin die Journalistin, die in Gabrielas Familie nachfragt, aber ich bin auch das Medium, über das Mutter, Vater, Bruder und Schwester mit ihr sprechen. Sie antworten auf meine Fragen, aber richten die Antworten an Gabriela, die als Erste in der Familie das Schweigen über ihren Großvater gebrochen hat – zusammen mit Uwe, einem Deutschen. Gabrielas Schwester Dominika hat mitgeholfen, die Kulesza-Briefe zu transkribieren und zu übersetzen. Sie ist die Einzige, mit der ich unter vier Augen sprechen kann. Was Gabriela und Uwe machten, sei wichtig, aber: „Irgendwann sollten sie sich auch um das Leben im Heute kümmern!“

Seinen Job als Chefredakteur einer deutschen Zeitung hat Uwe aufgegeben. Ihre finanziellen Mittel sind erschöpft. Für ihr Projekt „Zwei Familien, zwei Vergangenheiten – eine Zukunft“ haben sie bei der deutschen Heinrich Böll Stiftung ein Spendenkonto eingerichtet. Ihre Nachforschungen nach Michal Pazdanowski haben sie nur unterbrochen, um zwei neue Bücher zu schreiben, die im Frühjahr 2012 erscheinen sollen. Auf seine Homepage hat Uwe von Seltmann ein Zitat von Hermann Hesse gestellt: „Es kommt alles wieder, was nicht bis zu Ende gelitten und gelöst ist.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2011)

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