Mythos Begabung

Das wahre „Talent“ der Genies besteht in der Bereitschaft, mit großem Einsatz aktiv zu lernen. Über „göttliche Unzufriedenheit“, „Vertikalspannung“ und was uns sonst noch antreibt, unsere Potenziale zu nützen. Hinweise zur hiesigen Schuldebatte.

Mit kaum einer Botschaft kann ich Menschen mehr verstören als mit der Eröffnung, dass alle Menschen alles lernen könnten – was aber auch heißt, dass alle Menschen alles lernen müssen. Wie besessen von der Idee angeborener Talente hängen sie an ihren vermeintlich schicksalhaften Vermögen ebenso wie an ihren Unvermögen. Dieser individuelle Hang trifft sich mit der Renaissance einer antiquierten Argumentationsfigur, der Naturalisierung von Differenzen. Biologismus ist wieder gesellschaftsfähig. Einem politisch verhängnisvollen Determinismus stehen allerdings aktuelle Forschungsergebnisse aus der Genetik, vornehmlich der Epigenetik, aus den Neurowissenschaften und aus der Sozialforschung entgegen.

Anders Ericsson machte in einer 30-jährigen Forschungsreise durch die Welt der „Talente“ unerwartete Entdeckungen. Nirgends stieß er auf „Naturtalente“. Ob Komponist, Ballkünstlerin, Romancier, Musikerin, Schachspieler oder Verbrechergenie, 10.000 Stunden aktive Beschäftigung mit dem Gegenstand scheinen erforderlich, um auf Weltklasseniveau zu kommen. So hatte Mozart im Alter von sechs Jahren bereits etwa 3500 Unterrichtsstunden bei seinem Vater absolviert. Zwischen der Gründung der Beatles und ihren bedeutendsten Alben lagen zehn Jahre. Michelangelo lebte vom sechsten bis zum zehnten Lebensjahr bei einem Steinmetz und ging bereits gekonnt mit Hammer und Meißel um, bevor er lesen und schreiben lernte. Als er mit 24 Jahren seine Pietà schuf, galt sie als Geniestreich. Er jedoch meinte: „Wenn die Leute wüssten, wie hart ich gearbeitet habe, um diese Meisterschaft zu erlangen, dann käme es ihnen nicht mehr so wunderbar vor.“

Das wahre „Talent“ der Genies besteht in der Bereitschaft, mit großem Einsatz aktiv zu lernen. Auch wenn es nicht unbedingt so aussieht, als würden sie studieren, oder wenn sie – was Genies gerne tun – leugnen, üben zu müssen. Exzellenz ist das Resultat hochfliegender Ambitionen und frustrationstoleranter Anstrengungsbereitschaft. Selbst die staunenerregendsten geistigen und körperlichen Leistungen kommen durch angestrengtes Training zustande, das sich allerdings Aufgaben an der Grenze zur Überforderung stellen, stets neue, originelle Probleme setzen muss. Das hat einen gewissen Biss zur Voraussetzung. Martha Graham nannte das Grundmotiv „göttliche Unzufriedenheit“, Peter Sloterdijk spricht von „Vertikalspannung“, die uns zur Artistik treibt. Sie meinen die Ambition, sich nach etwas zu recken, es nicht zu erreichen, sich erneut zu recken, um auf höherem Niveau zu scheitern und so fort. Begeisterung spielt dabei eine große Rolle. Wir brauchen ja gute Gründe, damit wir uns das antun. Mit geeigneten Lebensperspektiven und Lernanlässen ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass es auch zu den nötigen Initialzündungen kommt.

1998 gewann die 20-jährige Se Ri Pak die nordamerikanische Ladies-Professional-Golf-Association-Meisterschaft und wurde zur Nationalheldin. Südkoreanerinnen hatten zuvor keinen namhaften Golfbewerb gewonnen. Zehn Jahre später dominierten Südkoreanerinnen die amerikanischen Meisterschaften. Ebenfalls 1998 kam die 17-jährige Anna Kurnikowa in das Halbfinale von Wimbledon und wurde zur beliebtesten Sportlerin im Internet. 2007 fanden sich fünf Russinnen unter den besten zehn Tennisspielerinnen der Welt. Solche „Talent“-Schübe in der Folge eines spektakulären Durchbruchs sind in vielen Domänen immer wieder zu beobachten. Wie sind sie zu erklären? Sicher nicht durch Änderungen im Genpool der betreffenden Gruppe.

In unserer europäischen Kultur spukt nach wie vor die Erzählung von der „natürlichen Begabung“ durch die Gehirne, die Idee vom Genie, das aus dem Nichts auftaucht. Damit verbunden ist auch der Begriff der „Elite“. Wegen seines Geruches nach Chromosomalität und faschistisch-rassistischer Ideologie war der Elitebegriff einige Zeit verpönt. Nun ist er wieder en vogue und fungiert, neben dem der „Begabung“ und dem der „Hochbegabung“, als politischer Kampfbegriff. Solche Phantasmen sollen wachsende soziale Differenzen legitimieren und ebenso die entsprechenden Systeme von Bildungsapartheid: die Zuteilung Zehnjähriger zu verschiedenen Grundschultypen, spezielle Schulen für „Hochbegabte“ und „Elite“-Universitäten. Diese Institutionen stellen Ungleichheit zuverlässig her und reproduzieren diese.

Es gibt keine wissenschaftlich belastbare Theorie, geschweige denn empirische Nachweise einer Koppelung von Genen mit bestimmten höheren menschlichen Fähigkeiten. Ebenso wenig gibt es einen wissenschaftlich definierten Begriff von „Begabung“ oder „Hochbegabung“. Diesen Konzepten hängt etwas Metaphysisches an – oder sie folgen dem platten biologistischen Deutungsmuster: Alles, was wir uns in seinem Zustandekommen gerade nicht erklären können, muss genetisch determiniert sein. Selbst unter Propagandistinnen und Praktikern der sogenannten Hochbegabtenförderung existieren bloß Alltagskonzepte. Es bleibt unklar, welches Phänomen genau mit „Begabung“ beschrieben werden soll, wie es zustande kommt und anhand welcher Kriterien man es erkennen oder vorhersagen könnte.

Die Erzählung, Erfolg und Misserfolg seien in erster Linie oder zumindest auch Ausdruck angeborener Intelligenz oder anderer „Talente“ wirkt vor allem unter gesellschaftlich Benachteiligten als sich selbst erfüllende Prophezeiung. Wo es „Hochbegabte“ gibt, muss es schließlich auch „Niedrigbegabte“ geben. Obgleich im herrschenden Zeitgeist ein „Genfetischismus“ Genen Autonomie und Aktivität zuschreibt, durch die die Prozesse des Bios und auch die des Sozialen gesteuert erscheinen sollen, schreitet die Wissenschaft in Richtung Dekonstruktion der „Macht der Gene“ voran. Schon auf elementaren biologischen Ebenen erweisen sich Gene bloß als Bestandteile eines sehr komplexen biochemischen Netzwerkes. Um ein Gen zur Expression zu bringen, bedarf es vieler Biomoleküle, die ihre Funktion in Abstimmung mit dem Gesamtorganismus erfüllen. Dieser produziert in Korrespondenz mit seiner Umwelt Signalstoffe, die auf Gene und ihre Mitspieler einwirken. Umwelterfahrungen – dazu zählen etwa Ernährung, die ökologische Qualität der Lebenswelt, der Lebensstil und zwischenmenschliche Beziehungen – können nachhaltige Effekte darauf haben, ob und wie stark ein Gen abgelesen wird. Gene speichern Erfahrungen des Organismus als biochemisches Skript. So entstehen „epigenetische Strukturen“, welche die Arbeitsweise der Gene lenken. Gene steuern also nicht einseitig alles Leben, sie werden selbst im Rahmen von Interaktionsprozessen gesteuert.

Für unsere höchsten Funktionen, für komplexes menschliches Fühlen, Denken und Handeln, lassen sich Gene schon gar nicht als determinierend ins Treffen führen. Dafür müsste nämlich der lebenslange Prozess des Aufbaus unserer neuronalen Netze im Gehirn genetisch fixiert sein. Das Erbgut des Menschen reicht aber nicht aus, um mögliche Verbindungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn festzulegen. Der Informationsgehalt des menschlichen Genoms beträgt etwa 750 Megabyte. Das ist ungefähr die Menge an Information auf einer CD. Dem stehen mindestens 1,25 Millionen Megabyte gegenüber, die allein vom Gehirn benötigt würden, um nur die einfachsten Verbindungen zwischen seinen Nervenzellen zu kodieren. Das Gehirn des Menschen kann sich also gar nicht genetisch determiniert verdrahten.

Der Mensch vernetzt seine Neuronen anlässlich seiner persönlichen Erfahrungen. Neuronale Strukturen im Gehirn bilden sich durch Tätigkeiten des Individuums (und degenerieren bei Untätigkeit). Sie sind zu keinem Zeitpunkt des Lebens festgelegt und lassen sich auch nicht für die Zukunft hochrechnen. Die Möglichkeiten des menschlichen Gehirns zum lernenden Aufbau neuronaler Netze werden von Individuen nie erschöpft. Kein Mensch mit einem gesunden Gehirn stößt je an einen biologischen Plafond. Nicht nur der Aufbau neuronaler Netze, auch deren aktuelle Funktionstüchtigkeit hängt von Lebensbedingungen ab. So wirken sich etwa unsere Stimmungen auf die Ausschüttung von Botenstoffen im Gehirn aus, die für die Aktivierung und Kommunikation unserer Nervenzellen sorgen. Begeisterung etwa spendet Kraft und Lust, an die eigenen Grenzen zu gehen, und sorgt für optimale Datenverarbeitung. Kaum etwas beschert uns größere Glücksgefühle, als ein Wagnis gut gemeistert zu haben. Wer etwa den Mut aufbringt, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, und es geht ihm schließlich ein Licht auf, der wird von körpereigenen Opioiden durchflutet. Dieser Belohnungsmechanismus schickt ihn in der Folge gleich in die nächste Runde.

Wenn andererseits Erkenntnisse oder Leistungen mit eindeutig negativen Erwartungen verknüpft sind, kann das Lernen massiv behindert werden. Erscheinen mögliche Einsichten bedrohlich, oder widersprechen sie bloß den eigenen Interessen, kann eine „lernnegative Hormonlage“ (Frederic Vester) zu Blockaden der Informationsverarbeitung im Hirn führen. Wiederholte Lernvermeidungsoperationen können sich zu einem Habitus zuverlässiger Begriffsstutzigkeit einschleifen. Auch Dummheit ist lernbar, Intelligenz und Kreativität sind nicht zuletzt eine Frage der Psychodynamik.

1921 machte sich Lewis Terman mit einem Team von Feldforschern auf die Suche nach hochintelligenten Kindern. Aus 250.000 getesteten kalifornischen Grundschülern wählte er 1470 Kinder mit einem Intelligenzquotienten von mehr als 140 aus, nannte sie „Termiten“ und wachte für den Rest seines Lebens über sie. Er war überzeugt, seine „Termiten“ würden schließlich die Elite seines Landes stellen. Er irrte. Die Mehrheit seiner Schützlinge schlug eine durchschnittliche Laufbahn ein. Die Entwicklung eines großen Teils sah er sogar als gescheitert an. Kein einziger Nobelpreisträger rekrutierte sich aus seinen Probanden, zwei spätere Nobelpreisträger waren nicht in die Studie aufgenommen worden – wegen zu geringer Intelligenz.

Karriereverläufe von 6500 Promovierten in Deutschland aus den Jahren 1955 bis 1999 verweisen auf eine ausgesprochen exklusive soziale Rekrutierung der Wirtschaftseliten. Ungefähr jeder zweite Spitzenmanager stammt aus dem Großbürgertum, das bloß fünf Promille der Bevölkerung stellt, ein gutes Drittel rekrutiert sich aus dem übrigen Bürgertum (drei Prozent der Population). Selbst von den Promovierten aus Mittelstand und Arbeiterklasse schaffen es nur ein bis zwei Prozent in Spitzenpositionen. Universitätsabschlüsse, selbst Doktortitel reichen nicht aus für Spitzenkarrieren, auch nicht fachliche Expertise und Leistungen. Ausschlaggebend ist der richtige Habitus: das Beherrschen der in den Chefetagen gültigen Codes für Umgangsformen und äußere Erscheinung, eine breite klassische Bildung, unternehmerisches Denken (Zuversicht, Risikobereitschaft, Entscheidungsfreudigkeit) und die Darstellung persönlicher Souveränität (offener Blick, fester Händedruck, ruhiger, fester Schritt, klare Artikulation und gelassene Aufmerksamkeit).

Pierre Bourdieu hat mit seinem Konzept des „Habitus“ verständlich gemacht, wie sich spezifische Lebensbedingungen in Lebensstile übersetzen. Habitus bedeutet die spezifische, selbstverständliche Art und Weise, in der wir uns selbst und unsere Umwelt wahrnehmen und beurteilen und in der Folge fühlen, denken und handeln.

Die Einverleibung sozialer Ungleichheit erfolgt über viele Kanäle. Der Gebrauch von Gasherden, Büchern, Musikinstrumenten, Computern oder Autos fordert und prägt spezifische Mentalitäten. Es ist ein Unterschied, ob ich von klein auf weite Fußballplätze durchmesse und Kampfsport trainiere oder ob ich in einer Zimmerecke ein Puppenhaus einrichte, lese und mein kompetitivstes Spiel Gummihupfen darstellt. Dazu kommt die Nachahmung vertrauter Menschen. Indem wir unwillkürlich Körperhaltungen und -bewegungen imitieren, übernehmen wir ein bestimmtes Repertoire an Handlungsmustern mitsamt den korrespondierenden Einstellungen.

Grunddispositionen wie Triebaufschub, Anstrengungsbereitschaft und Bildungsbeflissenheit zugunsten späterer Gratifikationen kennzeichnen etwa soziale Aufsteiger. Menschen in prekären Lebenslagen hingegen können keine Gratifikationserwartungen für größere Zeithorizonte aufbauen. Für sie ergeben ganz andere Formeln Sinn, da geht es um Zugreifen, wenn gerade etwas da ist. Wer schließlich im Überfluss lebt, braucht weder Triebaufschub zu lernen, noch impulsives, hastiges Konsumieren an den Tag zu legen. Vermögende können gepflegt genießen und mühelos lernen, gelassen Dominanz auszuüben.

So bilden sich aufgrund materieller Verhältnisse distinkte und zugleich distinktive Lebensstile heraus, die bestehende soziale Differenzen auf Dauer stellen. Alle machen scheinbar das Vernünftige, sie bemühen sich um ein gutes Leben. Ihre Bemühungen hinterlassen allerdings sehr unterschiedliche Spuren. Die einen scheitern, den anderen sieht man die Strapazen des Aufwärtsstrebens an – beide schämen sich. Das zementiert die Dominanz der Dritten. – Alle könnten alles lernen! Das heißt nicht, Lernen und Exzellenz ließe sich einfach vorsätzlich initiieren. Lernen hat wägbare und unwägbare Voraussetzungen – geeignete Lebensperspektiven, Initialzündungen für das persönliche Engagement, schließlich die notwendigen Lernspielräume. Der am wenigsten wägbare Faktor ist wohl der Funke, der eigensinniges Lernen entfacht. In einem Experiment wurden Studenten der Universität Yale mit einer unlösbaren mathematischen Aufgaben befasst. Vorher hatten sie die Biografie eines Professors der Mathematik gelesen. Für die Hälfte der Versuchspersonen war der Geburtstag des Professors so manipuliert worden, dass er mit dem Geburtstag der jeweiligen Testperson übereinstimmte. Diese Gruppe spendete im Schnitt 65 Prozent mehr Zeit für die unlösbare Aufgabe. Identifikation spielt also eine große Rolle. Auch persönliche Unzulänglichkeiten können ungeheure – kompensatorische – Energien entfachen. So waren etwa die schnellsten 100-Meter-Sprinter jüngere Geschwister in einer Reihe von älteren. Um mitzukommen, mussten sie sich stets abmühen. Bereits im frühen 18. Jahrhundert unterrichtete ein blinder Mathematiker, Nicholas Saunderson, an der Universität Cambridge Physik mit Spezialgebiet Optik, und 1925 verfasste Carl Hermann Unthan „Das Pediskript. Aufzeichnungen aus dem Leben eines Armlosen“. Als Bub hatte der armlos geborene Unthan die Möglichkeit entdeckt, auf einer Geige zu spielen, wenn er sie an einem Kasten befestigte. Sein rechter Fuß übernahm die Griffe auf den Saiten, mit dem linken führte er den Bogen. Mit Zähigkeit entwickelte er seine Technik und erreichte unglaubliche Virtuosität. Konzertreisen führten ihn später in die Hauptstädte Europas und nach Übersee. Er entdeckt uns das Geheimnis seines Erfolges: „Wer von Geburt an auf eigene Versuche angewiesen ist und nicht daran gehindert wird, bei dem entwickelt sich ein Wille . . . Der Trieb zur Selbstständigkeit reizt zu fortlaufenden Versuchen an.“

Der Streit um die Bildungsreform in Österreich spiegelt sehr deutlich die unterschiedlichen Positionen zur Frage des sozialen Ausgleichs. Die soziale Selektivität unserer Schulen ist vielfach dokumentiert. Die einen stört daran vornehmlich die Ungerechtigkeit. Andere beklagen mehr die schwache Ausbeute an qualifizierten Schulabgängern für den Arbeitsmarkt. Es gibt auch noch die Dritten. Für sie machen unsere Schulen ohnehin alles ganz richtig – die „Eliten“ bleiben unter sich, und verknappte Qualifikation sichert deren Marktwert.

Die einen sagen: „Jedes Kind hat ein Talent. Das gilt es aufzuspüren und zu fördern.“ Die anderen sagen: „Wir müssen die Stärken der Kinder so früh wie möglich bestimmen, um diese dann gezielt zu trainieren. Lasst uns im Kindergarten beginnen, sonst verlieren wir wertvolle Zeit.“ Beide wünschen sich eine gemeinsame Schule mit individueller Förderung und möglichst wenig Lernbehinderung. Die Dritten sagen: „Jedes Kind ist anders!“ Sie wollen die herrschende Apartheid aufrechterhalten und lassen sich immer neue Bildungsbarrieren einfallen. Alle drei Positionen sind bedenklich.

Kinder aus reiz- und perspektivearmen Milieus haben oft zu Schuleintritt kaum „Talente“ aufgebaut, die entdeckt und gefördert werden könnten. Diesen Schülern müssten erst einmal Probleme ins Blickfeld gerückt werden, die den Aufbau bildungsrelevanter Fertigkeiten lohnen. Die Idee, sogenannte Stärken von Kindern möglichst früh zu bestimmen, um sich danach auf diese zu konzentrieren, nimmt zudem die Einengung von Bildungswegen in Kauf. Und wir wissen nie, welche Interessen im Rahmen entwicklungsoffener Bildungsangebote noch ganz andere Engagements persönlich sinnvoll machen könnten. Schließlich mag es ja zutreffen, dass jedes Kind anders ist. Sollen wir aber deshalb für jedes Kind eine Sonderschule bauen, damit die Schüler ja nicht voneinander lernen können und immer wieder anders werden?

Die Idee, sich in der Förderung auf bestehende Stärken zu beschränken, ist gänzlich unzeitgemäß. In einer dynamischen Welt, wo Wirtschaft nicht planbar ist, sind es Biografien schon gar nicht. Deshalb kann nur die möglichst vielseitige Entwicklung aller Menschen als Bildungsziel gelten. Die „glücklichen Seitensprünge des Lebens“ (Montaigne) bringen uns auf die Höhe unserer Möglichkeiten und machen uns anschlussfähig an alle Eventualitäten – nicht zuletzt an die Erfordernisse der Demokratie. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.11.2011)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.