Sein, was man sein will

Liesl Müller, aufgewachsen im Wiener Künstlermilieu der 1920er-Jahre, wurde als Elizabeth Johnson nach dem Zweiten Weltkrieg in England zur erfolgreichen Businessfrau: zwei Leben, verschmolzen in der Liebe zur Musik.

Die Stimme ist tief und kräftig, die Reaktionen sind lebhaft und energisch. Im Jänner wird Liesl Müller-Johnson 90 Jahre alt, doch wenn man ihr im Gespräch begegnet, hat man das sofort vergessen. Ich möge sie nicht Frau Müller-Johnson nennen, sie sei Liesl, stellt sie gleich eingangs klar. Liesl ist, wie jedes Jahr, für einige Wochen in Wien, um mit dem Pianisten Otmar Binder eine neue CD aufzunehmen, bereits die sechste dieser Art, unverwechselbar nicht nur in der sehr persönlichen Zusammenstellung, sondern auch in der Interpretation, für die das verehrte Vorbild Michael Heltau ein schönes Wort formuliert hat: „Liesl“, hat er ihr gesagt, „du hast eine Stimme voll Liebe.“

Wenn sie in Wien ist, sind ihre Tage randvoll mit Terminen. Alte Freundschaften wollen gepflegt sein, und es gibt so vieles, was sie in Angriff nehmen will, immer noch, gerade jetzt – ein Triumph der Professionalität über Atemnot, Müdigkeit und Wasser in den Beinen. Das Herz macht Probleme, im Vorjahr wäre sie in Wien fast gestorben; ein charismatischer Arzt in einem Hietzinger Spital hat sie mit Morphium über die Todesangst hinweggelockt und wieder auf die Beine gestellt. Seither läuft der Motor wieder, ohne zu stottern; was treibt ihn an?

„Es hat damit zu tun, dass ich immer übertrieben habe“, vermutet sie; „Liesl always exaggerates. Aber wenn mich etwas interessiert, setze ich wenig Grenzen. Und wahrscheinlich hat das mit Professionalität zu tun, mit dem Anspruch, etwas so gut wie möglich zu machen. Und es hat mit einem positiven Charakter zu tun. Ich bin zwar himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt, aber ich bin nicht depressiv. Ich setze mir Ziele. Meine Mutter war depressiv.“ Die Mutter, der mächtige unterirdische Bezugspunkt für Liesls Denken und Handeln. 1913, als Zehnjährige, debütierte sie am Carltheater, in der Kinderrolle der Suza in Lehárs „Der Rastelbinder“; ein strahlendes kleines Mädchen mit blauen Augen und blonden Locken, „die Shirley Temple von Wien“, die bald auch in der untergehenden Monarchie für Stimmung sorgte. Wenn sie in Budapest als kecker Spatz in Husarenuniform vor den Truppen den Rákóczi-Marsch anstimmte, stand das Publikum Kopf.

Aus der „kleinen Rosa“ wurde Rosl Berndt, ein Kabarettstar der Zwanziger und Dreißiger; Hermann Leopoldi und Ralph Benatzky schrieben Lieder für sie, Fritz Grünbaum und Karl Farkas waren ihre Bühnenpartner. Doch anders als die prominenten Kollegen fand sie nach dem Zweiten Weltkrieg den Anschluss an ihre Karriere nicht mehr. Sie starb völlig vergessen 1996 in London, wo ihr die Tochter nach vielen Schicksalsschlägen zuletzt noch einen ruhigen Lebensabend ermöglicht hatte.

„Ich habe sie angebetet, auf viele Weisen“, sagt Liesl. Ihre eigenen künstlerischen Aktivitäten sind der Tribut an das große Talent, das Rosl Berndt nicht mit Umsicht und Disziplin genutzt hat. Es fehlte ihr an Ausbildung, der frühe Erfolg hatte sie leichtsinnig gemacht. Als Vorbild war die glamouröse Mutter denkbar ungeeignet: „Ich glaube, ich habe schon immer gewusst: So kann man nicht leben, ausgeschlossen! Aber ich möchte ihr ein gutes Denkmal setzen.“

Im Mai hat Liesl ein selbst verfasstes Buch herausgebracht: „Rosl's Daughter“. Darin versammelt sie Erinnerungen an ihre Kindheit im Wiener Karmeliterviertel und an ihre wechselvolle Adoleszenz als Tochter einer unkonventionellen Frau in politisch unsicherer Zeit; ein altkluges Kind, das früh lernen musste, sich in fremder Umgebung, in fremden Sprachen und unter fremden Menschen immer wieder neu zurechtzufinden; ein willensstarkes, fantasiebegabtes Mädchen, das, weitgehend auf sich gestellt, unbewusst jene Strategie entwickelte, von der es ein Leben lang profitieren sollte: „Die Leute nehmen einen für das, was man sein will“, resümiert Liesl. Nicht alle freilich können sich das, was sie sein wollen, derart überzeugend zu eigen machen, und auch sie selbst hatte daran immer wieder hart zu arbeiten.

Bis zu ihrem sechsten Lebensjahr war sie in der Obhut ihrer jüdischen Großmutter geborgen: Bronya Dunkelblau, eine Analphabetin aus jüdischer Familie in Galizien, die sich mit ihrer Schwester Klara nach Wien durchgeschlagen und in der Weintraubengasse einen Hausmeisterposten bekommen hatte, die sich in einen feschen blonden Wiener verliebte – und die 1903 geborene Tochter Rosa dann allein aufziehen musste; Eduard Slovik war ein Spieler und floh 1905 vor seinen Gläubigern nach Amerika.

1928 kam Bronya bei einem Autounfall ums Leben, die Existenz des Kindes bekam einen tiefen Riss. Die geliebte Omi, die ganz für sie da gewesen war, war plötzlich und unwiderruflich verschwunden, und Liesl musste fort aus Wien. Die Mutter lebte, wenn sie nicht auf Tournee war, mit ihrem damaligen Gefährten, dem Börsenmakler Arnold Caffe, in Amsterdam; „Onkel Nol“ beschloss, das Kind nach den Prinzipien der brandneuen Reformpädagogik ausbilden zu lassen, und so wurde die kleine Wienerin nach Hessen auf die Odenwaldschule geschickt. „Ein furchtbarer Schock“, erinnert sich Liesl. „Ich war nicht sehr verwöhnt, aber ich war gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen – und dort wurde ich immerfort ausgeschlossen.“ Weil es an der Schule bereits ein Mädchen mit Namen Liesl gibt, muss sie Ilse heißen, und der Spottreim der anderen Kinder klingt ihr noch in den Ohren: „Ilse, Pilse, keiner willse . . .“

Viel später habe sie eine der Erzieherinnen von damals wiedergetroffen: „Sie hat geweint über das, was man mir angetan hat. Man hört jetzt so viel über die schrecklichen Sachen, die an der „Oso“ passiert sind. Ich war kein abused child, aber gewalttätige Erziehungsmaßnahmen habe ich kennengelernt.“

Wie übersteht ein kleines Kind solche Erlebnisse? „Ich habe ein Alter Ego erfunden. Ich war die Weltkaiserin, ich konnte alles, beherrschte alle Sprachen, konnte auch mit den Tieren sprechen, und so war ich eine sehr wichtige Person. Ich glaube, dass ich dieses Alter Ego auf gewisse Weise behalten habe.“ Nach drei Jahren hat sie die Situation verarbeitet. „Das Komische war, dass es mir zum Schluss dort sehr gut gefallen hat. Aber man hat gefunden, dass ich nix lerne; ich habe zum Beispiel immer noch in Blockbuchstaben geschrieben. Also hat man mich herausgenommen.“ Von der „Oso“, wo man morgens auf dem Sportplatz nackt Gymnastik machte, in ein Mädchenpensionat in Hietzing. Ein Heimspiel. Der Respekt, den der Name Rosl Berndt im Internat verschafft! Zum ersten Mal eine beste Freundin! Dazu die Gegenwart der Mutter, die beginnt, sich aus der Amsterdamer Existenz mit „Onkel Nol“ zu lösen, und nicht zuletzt das kulturelle Leben in Wien, das Liesl dank Mutters Beziehungen offensteht: „Es war eine sehr glückliche Zeit.“

Obwohl sie wiederum nur von kurzer Dauer war, hat sich in dieser Phase offenbar jenes Heimatgefühl gefestigt, das die polyglotte, weltgewandte Elizabeth Müller-Johnson nun mit leiser Verwunderung registriert: „Auf meine uralten Tage fühle ich mich immer mehr als Österreicherin, mehr als irgendetwas anderes. Ich merke, dass alles, was auf einem langen, langen Weg mit mir geschehen ist, doch wieder zu meinen Wurzeln zurückführt. Meine Wurzeln sind hier“, sagt die Inhaberin eines britischen Reisepasses, die sich mit dem gesellschaftlichen Klima in der Zweiten Republik lange Zeit „sehr schwer getan“ hat. „Das war sehr verschieden vom Klima in Deutschland. In Österreich hatte ich oft das Gefühl, dass die Leute nichts bereut haben. Sie kamen sich als Opfer vor, und das war kränkend.“

Kränkend für eine Auslandsösterreicherin mit jüdischen Wurzeln, auch wenn sie nicht als Jüdin aufgewachsen ist – und die österreichische Staatsbürgerschaft nie besessen hat.

Bis zu ihrer Heirat mit dem englischen Fliegerleutnant Johnnie Johnson im Jahr 1947 hatte Liesl Müller einen ungarischen Pass, weil ihr Vater Ungar war: Karl Müller, Sohn einer assimilierten jüdischen Weinhauerdynastie in Szeged, im Ersten Weltkrieg hoch dekoriert, elegant, gebildet, künstlerisch begabt. An Rosls Karriere war er entscheidend beteiligt, nicht zuletzt, weil er vorübergehend Eigentümer des „Simpl“ war. „Er hat sie gemacht, wie man sagt“, betont Liesl, „er war sehr talentiert, aber er wollte zu hoch hinaus. Er konnte mit Geld nicht umgehen, und dann wurden wir gepfändet. Meine Mutter hat ihn einen Hochstapler genannt.“

Wenige Jahre nach Liesls Geburt am 14.Jänner 1922 reichte Rosl Berndt die Scheidung ein und schloss Karl Müller energisch vom weiteren Leben seiner Tochter aus. „Er hat dann versucht, mich zu rauben, und meine Mutter hat mich wieder zurückgeraubt“, schildert Liesl lakonisch das Beziehungsdrama, das in ihren frühkindlichen Erinnerungen bewahrt ist. Näher gekannt hat sie den Vater nie, obwohl er sich später noch oft um den Kontakt mit ihr bemüht hat.

Als „wirklichen Vater“, den sie „bis zu seinem Tod heiß geliebt“ hat, erlebte sie den rumänischen Ölmagnaten Dinu Buhlea, dem ihre Mutter 1936 nach Bukarest folgte. Liesl, bis dahin ohne religiöses Bekenntnis, wird nach griechisch-orthodoxem Ritus getauft, plagt sich, trotz ihrer Sprachbegabung, mit dem Erlernen des Rumänischen – und beginnt einen neuen Lebensabschnitt.

Der emotionale Aufruhr der ersten großen Liebe lässt die zeitgeschichtlichen Ereignisse in der Wahrnehmung des Teenagers in den Hintergrund treten, doch dass sie die gesamte Nazizeit in Bukarest verbracht hat, empfindet Liesl im Nachhinein als Glück: „Rumänien war an Bodenschätzen eines der reichsten Länder Europas, und Dinu Buhlea war ein so einflussreicher Geschäftsmann, dass ihn die Deutschen unbedingt gebraucht haben. Ich habe später erfahren, dass sie haargenau wussten, dass meine Mutter und ich nicht arisch waren, aber durch Dinu waren wir geschützt. Er war davon überzeugt, dass die Deutschen diesen Krieg nicht gewinnen können und dass die Alliierten Rumänien nicht fallen lassen werden. Wir haben zu Hause jeden Abend BBC gehört, ich habe alles gewusst. Ich frage mich, wie es kam, dass ich nicht mehr Angst hatte.“

Auch an der eher liberalen Deutschen Schule wird es bald brenzlig. Blondes Haar und blaue Augen sind kein Argument, die Schulleitung verlangt immer dringender nach dem Ariernachweis, und als Liesl sich nicht länger auf ihren in Ungarn verschwundenen Vater ausreden kann, macht sie, knapp vor der Matura, einen starken Abgang. Als sie sich einer Mandeloperation unterziehen muss, nutzt sie den Spitalsaufenthalt, um von der Schule zu verschwinden.

Nachdem der Krieg endlich vorbei war, ließen die Alliierten Rumänien doch im Stich. „Die Amerikaner und die Engländer hatten 200 Leute stationiert, und die Russen haben begonnen, das Land zu besetzen.“ Da war allerdings schon der smarte Johnnie Johnson in Liesls Leben getreten, vor dem ihre Freunde sie gewarnt hatten. „Er war noch verheiratet, hatte zwei Söhne, war aber in Scheidung – nicht wegen mir, möchte ich betonen; ich habe nie einer anderen Frau den Mann ausgespannt!“ 1947 bekam sie ein Visum für England, und mit diesem Aufbruch endet ihr Buch.

Ein zweites Buch, das Liesl keinesfalls mehr schreiben will, müsste von ihrem zweiten Leben handeln. Wie man in South Kensington ein Künstlerleben führte, Kontakt mit Peter Ustinov und John Osborne pflegte, ehe Johnnie sich entschloss, seinen Zivilberuf als Werbefachmann an den Nagel zu hängen, um in Hampshire eine Schweinezucht aufzuziehen: „22 Hektar Wald und Wiese und Farn, den Schweinen hat es gefallen.“ Wie der Betrieb Mitte der Fünfzigerjahre pleiteging und man dastand, mit Schulden und einem riesigen Anwesen. Wie Liesl im Dorftheater als Schauspielerin entdeckt wurde: „Ich hatte keine Ausbildung, aber ich war ein Theaterkind.“ Das Tingeln in der Provinz war freilich nicht ihre Sache, deshalb griff sie mit der ihr eigenen Tatkraft eine Idee auf, die ihr eine Reisebekanntschaft im Zug nahelegte: Warum in das große Haus nicht Sprachstudenten aufnehmen?

Das war die Geburtsstunde der „Elizabeth Johnson Organisation“, die sich in den folgenden Jahrzehnten zu einer der größten Austauschorganisationen entwickelte. „Meine Stärke war, gute Mitarbeiter zu finden. Wir haben eine Viertelmillion Studenten aus aller Welt nach England gebracht, haben an 30 bis 40 Orten Sommerkurse mit Freizeitprogramm veranstaltet; wir haben dem British Council angehört“, ist Liesl stolz auf ihr Lebenswerk, das ihr neben hervorragenden internationalen Kontakten auch großen wirtschaftlichen Erfolg gebracht hat. Besondere Genugtuung verschafft ihr der Umstand, dass sie es als erste Frau ins Komitee der Dachorganisation FIYTO geschafft hat und sogar deren Vizepräsidentin wurde.

Spät, aber mit umso mehr Begeisterung hat sie dann begonnen, auf den Spuren der Mutter professionell zu singen, ist in diversen Kulturinstituten und Radioanstalten, aber auch beim Wiener Schmid Hansl aufgetreten. „Dass man etwas beenden sollte, was man noch tun kann oder will, weil man sagt, dafür bin ich zu alt – diesen Gedanken kenne ich nicht“, formuliert sie ihre Lebensphilosophie. Und wenn sie ihrer Nachkommenschaft – drei Töchter, drei Enkel, drei Urenkel – eine Botschaft vermitteln sollte, dann diese: „Jeder Tag ist ein neuer Beginn, a new opportunity – this is truly my opinion!“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2011)

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