Die Schule der Dilettanten

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Symbolbild(c) APA/HELMUT FOHRINGER (HELMUT FOHRINGER)
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Die „Wissensgesellschaft“ ist zur Spielwiese der Pfuscher geworden: wie unsere Bildungspolitik es versteht, den Dilettantismus in Lehr- und Studienplänen zu verankern.

Solange sich die Bildung der besonderen Wertschätzung einer Gesellschaft erfreut, genießt sie auch den Respekt derer, die über dieses Kulturgut weniger verfügen. Die Prachtbauten, die das aufstrebende Bürgertum der Bildung errichtete, die stolzen Bibliothekspaläste, die herrschaftlichen Universitätsgebäude, die Museen und Galerien, sie weckten auch das Bildungsinteresse der Arbeiterschaft. Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts expandierten die im Vormärz entstandenen Arbeiterbildungsvereine;in den 1920er-Jahren erlebte das Volkshochschulwesen einen rasanten Aufschwung. Einem totalitären, dem nationalsozialistischenSystem sollte es vorbehalten bleiben, diese Bildungsbewegung zu zerschlagen.

Dass sich das Wissen um die freiheitsstiftende Bedeutung der Bildung allerdings auch verlieren kann, ohne dass es ideologisch verdrängt wird, müssen wir gegenwärtig erfahren. Unter dem selbst auferlegten Druck beschleunigter Wohlstandsvermehrung durch forciertes Wachstum sind wir unversehens in den Zustand einer Bildungsverwahrlosung geraten, die vielen schon wieder wie eine historische Notwendigkeit vorkommen will. Oder wie sonst soll man sich das Feuerwerk der Schul-, Bologna-, Rechtschreib- und sonstigerReformen erklären, beidenen es stets um dasGleiche geht, um eine„Verschlankung“ der Bildungsangebote, um deren Reduzierung auf das, was gerade noch für das berufliche Funktionieren notwendig scheint. Gegen eine zügige Ausbildung gibt es nichts einzuwenden, der „verbummelte Student“ war immer nur als literarische Figur eine amüsante Erscheinung. In der Realität konnte ihn die Gesellschaft ertragen, brauchen konnte sie ihn nie. Braucht sie aber den durchgeschleusten Studenten, der ein Blockseminar, ein „Modul“ nach demanderen abhakt wie der japanische Tourist die Stationen einer Europatour? Ist uns mit Absolventen geholfen, die schon im dritten Semester nichts mehr von dem wissen, was sie im ersten ein für alle Mal abgeschlossen haben? Was ist von Studienplänen zu halten, deren Umfang nach den Bologna-Vorgaben so gestaltet sein muss, dass die Studenten nicht mehr als 1800 Stunden im Jahr, das entspricht einer 38-Stunden-Woche mit sechswöchigem Jahresurlaub, lernen müssen? Ist das alles noch halbwegs vernünftig, diese sozusagen gewerkschaftlich strukturierte Fließbandbildung? Grenzt es nicht an Verhöhnung, dass dieser Unsinn als Bologna-Reform europaweit durchgedrückt wird, verziert mit dem Namen der ältesten Universitätsstadt des Kontinents?

Das Bessere wird gegen das weniger Gute eingetauscht. Statt der renommierten Diplome müssen die Universitäten fortan BA- und Masterzeugnisse ausstellen, nur weil das alleanderen ebenso tun, alle, die die altehrwürdigen europäischen Universitäten, die deutschen und die österreichischen zumal, um den Rang ihrer Abschlüsse beneideten, als er ihnen selbst noch etwas galt. Sogar der Dipl.-Ing., das Markenzeichen des weltweit geschätzten deutschen und des österreichischen Ingenieurstudiums, wurde von derPolitik über Bord geworfen; nur wenige Universitäten – Aachen, München, Berlin, Darmstadt – wagten wie die Montanisten in Leoben den Aufstand dagegen. Ist das florierende Reformgeschäft nicht selbst schon Ausdruck jenes Bildungsnotstandes, den es zielstrebig ausbaut – unter derFührung von Politikern, Pädagogen, Ökonomen,die oft selbst nicht mehr über das verfügen, was sie abschaffen wollen? Man kann es drehen undwenden, wie man will, am Ende läuft es stets aufdas eine hinaus: Die „Wissensgesellschaft“ ist zur Spielwiese der Dilettanten geworden. Sie selbst haben sie proklamiert. Vor dem Zweifel, dass der formulierte Anspruch womöglich mehr verlangen könnte, als sie aufzubringen vermögen, bewahrte sie die eigene Einfalt. Eben daraus, aus der Unfähigkeit, die Konsequenzen ihres Tuns ermessen zu können, resultierte die Tatkraft der Pfuscher zu allen Zeiten. „Immerhin ist es beruhigend zu wissen, dass man auch ohne Wissen in einer Wissensgesellschaft Erfolg haben wird“, spottet Konrad Paul Liessmann. Und zu fürchten ist unterdessen, dass das von vielen bereits für bare Münze genommen wird. Denn auch das Verständnis der Ironie setzt eine kulturelle Bildung voraus, die ohne die durchdringende Aneignungüberlieferten Wissens nicht zu haben ist. Wo das zur Nebensache wird, wächst zwar die Freiheit voraussetzungsloser Selbstverwirklichung, niemand muss sich durch überkommene Maßstäbe länger noch irritieren lassen, zugleich aber verkürzt sich diemenschliche Perspektive mit dieser Gegenwartsfixierung auf den Horizont der Eintagsfliegen. Wir schnippen uns selbst aus derGeschichte.

In der Bildungstradition verwurzelte Kritiker fürchten daher, dass wir der Zukunft, in deren Namen die Bildungsreformer zu handeln vorgeben, bald nicht mehr gewachsen sein könnten. Einer aus diesem Häufleinder Unbelehrbaren ist der Didaktiker Fritz Reheis. „Bildung contra Turboschule“ lautetder sprechende Titel eines Buches, mit dem er, gestützt auf eine 20-jährige Erfahrung als Gymnasiallehrer, Alarm schlägt. „Bildungist“, schreibt Reheis, „Erschließung der äußeren und inneren Welt des Menschen. Diese Welt ist heute tendenziell global, in ihr hängt fast alles mit allem zusammen. Auf einem enger werdenden Globus kann derMensch als Gattungswesen nur überleben, wenn er zum vernetzten Denken befähigt und zur Anerkennung des anderen, die auch die Übernahme von Verantwortung für ihn einschließt, bereit ist. Wenn nun aber die Turboschule die Welt in Fächer und Wissenshäppchen als Tauschmittel für den Kampf um gesellschaftliche Berechtigungsscheine zerreißt, wenn sie den Menschen zum Einzelkämpfer erzieht und wenn dies alles unter einem zunehmenden Zeitdruck stattfindet, könnte sich das auf längere Sicht als verhängnisvoll erweisen.“

Unlängst noch hat die deutsche Bundeskanzlerin beim großen Palaver der Kultusminister die „Bildungsrepublik“ ausgerufen, und schon erklärte sie dem Volk – der Fall lässt uns nicht los! –, dass es nicht weiter ehrenrührig sei, wenn ein „begnadeter Politiker“ bei der Abfassung seiner Dissertation gelogen und betrogen hat, was das Zeug hält; kein Wort darüber, wie sich der geistige Diebstahl mit dem „Anstand“ vertragen sollte, von dem die Regierungschefin meinte, dass ihr niemand zu „sagen“ habe, was darunter zu verstehen sei. Und erst recht kein Gedanke daran, dass ihr das Bubenstück des Hochstaplers im Ministerrang eigentlich den akademischen Atem hätte verschlagen müssen. Im Gegenteil, ein bisschen verschroben durften sich jene vorkommen, die den Dieb nichtso ohne Weiteres laufen lassen wollten. Worum ging es denn schon, um einen Doktortitel, du lieber Himmel, weshalb sollte darum ein solches Theater gemacht werden? Wozu dieser überkommene Bildungsstolz, das Beharren auf den Zitatnachweisen, der Unterscheidung zwischen den eigenen und den übernommenen Gedanken?

Wo die Bildung an sich keinen Wert mehrdarstellt, wo sie, so wiederum Konrad Paul Liessmann, „gerade nicht mehr als Motor dersozialen Mobilität begriffen und erfahren wird“, wo die Politik nichts dabei findet, die akademische Qualifikation wie einen Jux zu behandeln, da kann sie auch nicht anziehendwirken, schon gar nicht auf bildungsfernere Schichten, zu denen längst nicht mehr nur das sogenannte Prekariat zu zählen ist. Wer das nicht sehen will oder kann, wer immerfort so tut, als ließe sich die Bildung per Bezugsschein verteilen, darf sich nicht wundern, wenn sein Bemühen in den Geruch wahltaktischer Anbiederung gerät. Mindestens offenbart er sich als ein Bildungsphilister, der selbst keine Vorstellung davon hat, wie Bildung entsteht und wie sie sich ausbreitet. Andernfalls könnte er sich nicht damit begnügen, jene zu unterstützen, die sich das Lernen aus materiellen Gründen nicht leisten können; er müsste zugleich alles daransetzen, diejenigen zu fördern, die noch über das nötige Interesse und die entscheidende Voraussetzung verfügen: über die Bereitschaft, sich Wissen aktiv anzueignen. Davon jedoch kann, mit Verlaub, keine Rede sein, schon gar nicht in Deutschland, eher vielleicht noch in Österreich, und da auch eher auf dem Land als in den Städten.

Das Ganze ist dem Dilettanten schlicht unheimlich. Man denke nur an die Eliteuniversität: Das Wort war schneller wieder aus dem Wortschatz der Redenschreiber verschwunden, als es unbedachte Geister hatten aufbringen können. Wo er die politische Macht hat, wird sie der Dilettant stets einsetzen, um die potenzielle Elite rechtzeitig Mores zu lehren, in totalitären Staaten durch eindeutige Reglementierung ohne viel Federlesens, in der Demokratie verbrämt unter dem Deckmantel der Sozialpolitik. Er tut das umsozielstrebiger, als ihn die privilegierte Ausstattung seiner politischen Existenz dazu verführt, ein potentatenhaftes Verhalten an den Tag zu legen, bei dem einem nun tatsächlich „postfeudale Strukturen“ in den Sinn kommen könnten.

Weder lassen sich soziale Probleme mit einer derart kurzschlüssig praktizierten Bildungspolitik lösen (dazu könnte nur die Steigerung der gesellschaftlichen Prosperität durch eine eliteorientierte Leistungsförderung aller beitragen), noch lassen sich die angeborenen Voraussetzungen der menschlichen Existenz politisch abändern. Wann immer das versucht wurde, ist damit nicht mehr erreicht worden als dieZerstörung des intellektuellen Potenzials einerGesellschaft. Der Exodusaus der DDR war nicht zuletzt die Folge einer Bildungspolitik, die sich nicht an der Leistung, sondern an der „sozialen Herkunft“ orientierte. Nicht wer etwas konnte, wurde gefördert, zum Studium zugelassen, sondern wer für sich in Anspruch nehmen durfte, ein „Arbeiter- und Bauernkind“ zu sein. Großen Teilen des gebildeten Mittelstands wurde damit die Zukunft verbaut. Wo ihren Nachkommen keine oder bestenfalls eingeschränkte Bildungschancen zugestanden werden sollten, wollten sie nicht bleiben. Auch damit, mit der systematischen Zerstörung der intellektuellen Potenz, hat die DDR ihren Untergang heraufbeschworen.

Nein, Wirtschaft, Bildung und Moral lassen sich nicht losgelöst voneinander betrachten, nicht in der Theorie und noch weniger in der Praxis. Sie ergeben eine Trias. Wer davor die Augen verschließt, der tut das nicht nur auf eigene Gefahr. Andere werden mit in die Haftung genommen, die Nachgeborenen eingeschlossen. An ihnen vergeht sich nicht nur, wer Schuldenberge so hoch auftürmt, dass dahinter kein Land mehr zu sehen ist. Ebenso schuldig macht sich die Gesellschaft, wenn sie ihnen die Möglichkeit vorenthält, sich für oder gegen eine Bildung zu entscheiden, die ihnen zwar manches untersagen würde, ihnen aber auch erlaubte, mehr zu werden als unmündige Verbraucher einer florierenden Konsumgesellschaft. Wer gibt uns eigentlich das Recht, folgenden Generationen den Stempel unserer Epoche aufzudrücken, indem wir aus dem Bildungskanon großzügig aussondern, was uns selbst nicht mehr so wichtig scheint? Wer sagt denn, dass sienach unserer Fasson selig werden wollen undnicht wieder mehr verlangen könnten, mehrWissen für mehr ethische Orientierung? Schließlich haben sich auch aus den Pioniergesellschaften dieser Welt, zusammengewürfelt aus Entflohenen und Verfolgten, Glücksrittern und allerlei derben Gesellen, die es bei ihren Geschäften so genau nicht nahmen, schließlich haben sich auch aus diesen bunten Haufen immer wieder große Kulturen entwickelt, in Nordamerika wie auf dem australischen Kontinent, der einmal eine englische Strafkolonie gewesen ist. Freilich waren die Siedler auch noch beflügelt von der Sehnsucht nach einem gesellschaftlichen Aufstieg, dessen Erfolg sich in der Bildung der Nachkommen niederschlagen sollte, in etwas, das einen unterscheidet, weil man es nicht einfach mit dem gescheffelten Vermögen erwerben kann. Gerade da, wo Goldgräberstimmung herrscht, in aufstrebenden Gesellschaften, steht der Wert des Wissens über allem. In dem wahrlich nicht eben demokratisch zivilisierten Russland unserer Tage ist das ebenso zu beobachten wie im Fernen Osten, in Indien oder in China, während wir hierzulande, in der Mitte Europas, von einem eigentümlichen Überdruss an der Bildung befallen zu sein scheinen.

Lieber als dass wir sie hochhalten, gefallen wir uns darin, ihre Bedeutung herunterzuspielen. Keinesfalls sollen sich aus ihr irgendwelche gesellschaftlichen Unterschiede ergeben. Schon das Führen akademischer Titel will heute vielen wie eine Verletzung des egalitären Prinzips erscheinen, geradeso als würden dadurch jene gekränkt, die diese Titel nicht erworben haben. Dabei hatte sich die bürgerliche Gesellschaft einmal dadurch ausgezeichnet, dass sie den erworbenen Titeln mehr Bedeutung beimaß als den ererbten Adelsprädikaten. Das entsprach der Demokratie und dem Leistungsprinzip; mit dem mittlerweile gewachsenen Anspruchsdenken verträgt sich dieser Ausweis akademischer Graduierung offenbar sehr viel weniger. Wo immer mehr Menschen in dem Bewusstsein leben, aufgrund ihres bloßen Daseins Anspruch auf die Zuteilung jeglicher Anerkennung zu haben, scheint es leichter zu fallen, dengeborenen und dadurch unerreichbaren Adel zu bewundern, als einegeistig erarbeitete Auszeichnung anzuerkennen, von der man glauben möchte, dass sie einem im Grunde ebenso zustünde. Einzig derSport, bei dem jeder seine Grenzen körperlichzu spüren bekommt, macht hier noch eine Ausnahme. Sonst aber spricht einiges dafür, man denke an die royale Berichterstattung der Medien vom Boulevard bis in die Abendprogramme des öffentlich-rechtlichen Fernsehens, dass der bürgerlichen Gesellschaft ihr eigener Geistesadel inzwischen weniger gilt als der familiär bewahrte Erbadel.

Nichts bleibt unversucht, um den Eindruck zu erwecken, bei den Bildungsunterschieden handle es sich um ein soziales Problem, das man durch einheitliche „Beschulung“ bewältigen müsse. Wenn das dann trotz allem nicht gelingt, nicht alle gleich gut abschneiden, dann werden eben die Spitzen gekappt, die Anforderungen so heruntergeschraubt, dass noch jeder mit einem Einser durchkommen kann. Dass dieser Einser nachher keinen Dreier mehr wert ist, dassgerade die Schwächsten mit den vorgetäuschten Erfolgen hoffnungslos abgehängt werden, wird stillschweigend in Kauf genommen. Dem System genügt der schöne Schein, der formale Nachweis einer sozial gerechten Bildungsverteilung. Diesen Eindruck wissen sich die Dilettanten allemal zu verschaffen, manchmal mit bestechendem Raffinement und dann wieder mit verblüffender Einfältigkeit.


I
n der Kunst, erfolgreich zu versagen, haben es die Dilettanten zu aberwitziger Meisterschaft gebracht. Sie sind die Virtuosen des Ausprobierens. Sie tun, was ihnen der Augenblick eingibt. Als die Computer soweit entwickelt waren,dass sie Bilder darstellen konnten, sollte dieletzte Stunde sprachlicher Quälerei geschlagen haben. Überall wurden Theorien zusammengestammelt, die uns erklärten, dass das Bildeine sehr viel komplexere Aussagekraft besitze als der formulierte Satz. Die überkommene Vorstellung, der zufolge nur verstanden wird, was sich auch sprachlich fassen lässt, schien von heute auf morgen obsolet, eine vertiefte sprachliche Ausbildung nicht mehr sonderlich vordringlich.

Was diese blödsinnige Haltung nach sichzog, sollte den Dilettanten des Fortschritts erst in einer nächsten Phase der technischen Entwicklung auffallen. Als die Gesellschaft die Vorzüge der elektronischen Kommunikation per E-Mail und SMS entdeckte, zeigte sich plötzlich, wie dringlich die Sprache weiterhin gebraucht werden wird, wie nötig es wäre, sie nicht nur mündlich, sondern auch im schriftlichen Ausdruck halbwegs richtig gebrauchen zu können. Da aber war das Kind schon in den Brunnen gefallen, keine Rechtschreibreform konnte es retten, sodass wir nun Zeugen einer beispiellosen und gar nicht mehr so schleichendenSelbstzerstörung unseres wichtigsten Kulturgutes werden: Weil sich eine wachsende Mehrheit des schriftlichen Ausdrucks bedient, ohne ihn noch zu beherrschen, führt die radebrechende Kommunikation perE-Mail, SMS, Twitter oder Facebook zu einer Potenzierung des sprachlichen Unvermögens. Es geht zu wie beim Turmbau zu Babel, je höher wir hinauswollen, desto weniger können wir uns verständigen.

Dass dieser bildungspolitisch verursachteKulturverfall viele unterdessen kaum noch zu berühren vermag, spricht für den Erfolg einer Bildungspolitik, die es verstanden hat, den Dilettantismus in Lehr- und Studienplänen zu verankern. Ob das vielleicht sogar eine historische Notwendigkeit war, resultierend aus einem Wachstumstempo, das dazu zwingt, Prioritäten zu setzen, Raum für das Neue durch Entrümpelung zu schaffen, wird die Zukunft zeigen. Vorerst überwiegt noch der Zweifel, wenn auch der Anteil derer steigt, die die tölpelhaft verursachten Verluste kaltlassen, weil sie gar nicht mehr willens sind, sich eine Vorstellung von dem zu machen, was hier über Bord geworfen wird. Schließlich wird altes Wissen, bewahrtes Bildungsgut nicht nur ausgesondert, um neues an seine Stelle zu setzen. Mindestens ebenso „entlastend“ wirkt mittlerweile der Zugewinn an intellektuellem Selbstbewusstsein. Da diese an sich positive Errungenschaft zunehmend dazu dient, mangelnde Bildung durch Einbildung zu kompensieren, befördert sie schon seit Längerem einen kontinuierlichen Rückgang der Lernbereitschaft. Wer schon ohnehin eine Persönlichkeit ist, muss sich nicht mehr zu einer solchen entwickeln. Die Aufklärung, nach Kant das Mündigwerden durch Wissensaneignung, ist Schnee von gestern. An die Stelle der Neugier rückt das Bewusstsein eigener Vortrefflichkeit. Bildung muss nicht länger errungen werden, sie wird ganz einfach beansprucht. Sowie die Lehrer dafür zu sorgen haben, dass „die Zensuren stimmen“. Falls sie zu schlecht ausfallen, ist inzwischen mit allem zu rechnen. Das mögen noch Ausnahmen sein, sicher, immer aber sind es Ausnahmen, die undenkbar wären, würde die Bildung nicht als ein verfügbares Gut angesehen, als eine Ware, ein Konsumartikel, dessen Design mit den Moden wechselt, den man vermarkten muss und mit dem sich, blendend verpackt, gute Geschäfte machen lassen, am besten im Fernsehen vor großem Publikum. Wir werden es sehen. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2012)

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