Die Formel der Revolution

Lassen sich Revolutionen vorhersagen? Immer wieder hat man sich an einschlägigen Berechnungen versucht, aber: Wo wäre das Modell, das den Fall der „Mauer“ oder den „Arabischen Frühling“ prophezeit hätte? Über J-Kurve, „moral indignation“ und den Punkt, an dem alles kippt.

Es waren die frühen 1980er. Wir saßen im Rahmen der Jahrestagung unserer Caribbean Studies Association am Swimmingpool des Hotels El Prado im kolumbianischen Barranquilla und besprachen, reichlich verunsichert, den eben erst aufgebrochenen Bürgeraufstand in Port-of-Spain, der Hauptstadt von Trinidad: Fenster und Auslagen splitterten, ein Polizeiwagen ging in Flammen auf, vor der Telefonzentrale fuchtelten aufgebrachte Klienten mit Knüppeln und Macheten. Warum hatten wir arrogante Jungexperten den Aufstand nicht vorhergesehen? Eher hätten wir auf Stabilität gewettet: Der Erdölstaat Trinidad verfügte über das höchste Pro-Kopf-Einkommen in der Karibik, funktionierte auf der Basis britischer Rechtstradition und hatte auch seinen muslimischen Bevölkerungsteil pazifiziert. In unseren Bewertungsskalen figurierte Trinidad ganz oben.

Was für ein Schock für uns! Schließlich griff Rex Nettleford, der vor Vitalität berstende jamaikanische Multimediakünstler, in unser trübes Gespräch ein und skizzierte seine These der „moral indignation“. Staatsbürger, gedemütigt von Bürokratie, übers Ohr gehauen von Politikern, Opfer von Korruption und Gemeinheiten, ließen sich über Jahre oder auch über Dekaden hinweg alles gefallen. Aber irgendwann, eruptiv, ungeplant, könne ob solcher Zustände die in tiefen Eingeweiden brütende Wut in moralische Empörung umschlagen, was gewalttätige Proteste, gegen alle Logik oder alles Kalkül, auslöst. Unbestimmbar bleibe der Moment der Zündung, der Kipppunkt, der Stabilität in Chaos auflöst und sogar eine Revolution hervorrufen mag.

Nettlefords Rat brachte mir Trost, bis heute. Bedeutet „moral indignation“ in etwa nicht auch das, was Stéphane Hessel, 94-jähriger Résistance-Kämpfer, mit seiner Streitschrift „Indignez-vous!“ (deutsch: Empört euch!) predigt: Man darf den Lauf der Ereignisse nicht einfach hinnehmen. Empörung angesichts von Ungerechtigkeit tut not! Nicht nur in der Dritten Welt, sondern auch bei uns in Europa, wo die Macht des Geldes viele soziale Errungenschaften aus vergangenen Dekaden zerreibt.

Rating-Agenturen fehlen die Sensoren, um die Sprengkraft solcher Emotionen wahrzunehmen. Daher kommt dem gesunden Menschenverstand bei der Beurteilung kippender Gleichgewichte mehr Bedeutung zu als ökonometrischen Modellrechnungen. Wurde der tunesische Aufstand von den kühlen Rechnern prognostiziert? Lächerlich. Weltbank, Internationaler Währungsfonds, Rating-Agenturen – sie alle, gelegentlich voneinander abschreibend, betonten in ihren periodischen „Country Reports“ die seit Dekaden andauernde Stabilität der Region, gerade auch wegen der harten Kontrollhand autoritärer Führung. Eine Stabilitätsdiagnose bestätigte die nächste. Arabische Schriftsteller, Intellektuelle (oft im Exil) oder auch Propheten, die angesichts jugendlicher Arbeitslosigkeit, steigender Lebensmittelpreise, erstickender Kulturpolitik, skandalöser Korruption und genereller Perspektivenlosigkeit „moral indignation“ aufglimmen sahen, wurden nicht gelesen, nicht übersetzt, nicht gehört. Und doch schaukelte sich im Frühjahr 2011 alles zum Kipppunkt auf, was die gesamte nordafrikanisch-arabische Region aufreißt.

Und es sollte noch gewaltiger kommen. Im spröden, von Schuldenexplosionen irrlichternden Herbst 2011 begann in New York, tastend zuerst, die „Occupy-Wall-Street“-Bewegung, welche plötzlich als globaler Anti-Banken-Marsch, in der „New York Times“ wohlwollend kommentiert von Nobelpreisträger Paul Krugman, an die Büropaläste vieler Hauptstädte klopft. Nicht nur an der Peripherie der Industriewelt wieAthen oder Madrid, sondern auch in den Zentralen. Wutbürger überall, die diffus gegen die neue „Plutokratie“ wettern. Schlimmer hätte es für die Rechner nicht kommen können. Econometrie hat versagt. „Moral indignation“, als emotionale Kraft, weist den Weg.

Zur Erinnerung: Hatten Experten den Fall der „Mauer“ mathematisch berechnet? Natürlich nicht. Lag das Zerbrechen der Sowjetunion als Computermodell vor? Die Stimme, die es sehr wohl ankündigte, gehörte dem Dissidenten Andrej Amalrik, der im Essay „Kann die Sowjetunion das Jahr 1984 erleben?“, herausgeschmuggelt 1970, zwar den Zeitpunkt offen ließ, aber den Sturz als Menetekel an die Wand schrieb. Ai Weiwei, der Dissidenten-Künstler aus Peking, hält die Implosion der chinesischen KP für unvermeidbar – auch wenn hartgesottene China-Hands darüber lachen.

Als Mitglied der ersten Scholarengeneration im Ford-Institut (heute Institut für Höhere Studien), wo wir uns an Empirie, Spieltheorie, Kybernetik oder Ökonometrie versuchen durften – es waren die vor Optimismus triefenden 1960er-Jahre –, fiel auch ich auf errechenbare Zukunften herein. Gesetzmäßigkeiten der Weltwirtschaft, wie sehr früh vom Klassiker N. D. Kondratieff vorgeschlagen, verführten uns alle. Sogar Robert Jungk ließ sich vom allgemeinen Optimismus mitreißen, was zur Gründung des Österreichischen Instituts für Zukunftsfragen (1964) führte. Besonderen Gefallen fanden wir am Prognostikbuch des Aachener Professors Wilhelm Fucks, „Formeln zur Macht“ (1965). Er erstellte eine Rangliste politischer Macht auf der Basis von Faktoren wie Energie, Stahl, Bodenschätze, Bevölkerung und kalkulierte sie in die Zukunft. Seine Computerausdrucke für das Jahr 2000 sind heute Makulatur: Die neue Machtpyramide – mit Indien, Brasilien und China – ertasteten sie nicht einmal ansatzweise.

Geradezu wahnwitzig gebärdete sich der Zukunftsforscher Herman Kahn, der mit seinem üppigen Körpergewicht und Anspruch auf einen Intelligenzquotienten von 200 Punkten die Zukunftsdebatte monopolisierte. Dieser selbstgestylte „Clausewitz des Atomzeitalters“, der einen Atomkrieg für machbar und gewinnbar hielt, skizzierte in den 1960ern für das Jahr 2000 eine Welt verblüffender technischer Fortschritte, die jedoch in Kalten-Krieg-Höllen erstarren. Sein Buch „The Year 2000“, deutsch mit dem Titel „Ihr werdet es erleben“, ergibt heute eine zwischen Erschrecken und Heiterkeit pendelnde Lektüre, die konventionelle Science-Fiction-Literatur zu parodieren scheint. Unverdrossen prognostiziert Kahn mit der Studie „The next 200 Years“ (1976), deutsch „Vor uns die guten Jahre“, für das Jahr 2176 geradezu Paradiesisches. Ein Ökologieproblem gab es einfach nicht. Andere taten es ihm gleich. Den überbordend optimistischen Geist der 1960er verkörperte exemplarisch der genialische Futuribles-Denker Pierre Bertaux, ein französischer Germanist, der in seiner Schrift „Mutation der Menschheit“ (1963), ähnlich dem Theologen Pierre Teilhard de Chardin, dank erweiterter Denkkapazität eine neue Art von Mensch mit unbegrenztem Potenzial für Konfliktlösung sah: „Der Sport ist die einzige Lösung, um in Gebieten großer Bevölkerungsdichte dem natürlichen Bedürfnis nach körperlicher Anstrengung ein harmloses Ventil zu bieten. Zu den bisher entwickelten Sportarten werden noch andere Tätigkeiten hinzukommen. Darunter wird auch die sexuelle Aktivität zu finden sein, wenn erst die Fortschritte der Hygiene aus ihr eine gesunde, billige, unterhaltende und folgenlose Betätigung gemacht haben werden.“

Ja, da stolpern wir, die wir mit Aids leben müssen und heute bei sieben Milliarden Menschen in berstenden Welten hausen, über solche Prognosesätze, denn wir mussten lernen, dass Zukunft immer als Überraschung eintrifft. Mit den Jahren, die Läuterung brachten und Skepsis einfuhren, bewahrte ich mir aus dem Prognosen-Talmi immerhin ein starkes Interesse an Revolutionshypothesen. Wieder einmal ging die nordamerikanische Politologie voran, deren Pentagon-finanzierte Adepten herauskriegen wollten, wie man Revolutionen in der Dritten Welt vorbeugen könne.

Indes, solch akademisches Teufelszeug brachte die Disziplin methodisch auch für liberale Sozialwissenschaftler voran. Dazu zählt das Ausprobieren der J-Kurven-Hypothese, später, 1981, vom deutschen Politologen Ekkart Zimmermann verfeinert. Was besagt die J-Kurve? Eine Revolution bricht nicht im Elend aus. Sie ist am wahrscheinlichsten, wenn eine lange Periode steigender Erwartungen und Befriedigungen von einem unerwarteten Einbruch abgelöst wird, so dass sich eine Lücke auftut. Die darob wachsende Frustration unter der Bevölkerung kann Protest auslösen. Stellt man diese Annahme geometrisch dar, erhält man einen Grafen, der mit etwas Fantasie einem auf den Kopf gestellten Buchstaben J ähnelt. Daher „J-Kurve“.

Ich persönlich gestehe eine gewisse Vorliebe für das Ausprobieren der J-Kurven-Hypothese ein, denn in Verbindung mit Nettlefords „moral indignation“ lässt sich die Lage einer Gesellschaft einigermaßen realistisch einschätzen. Es tritt hinzu das Phänomen der jungen Internetgeneration, die Frustrationen aus der J-Kurve sofort kommunizieren kann. Demnach waren „tunesische Verhältnisse“ in Nordafrika überreif. Es genügte der Funke einer Selbstverbrennung, um den Kipppunkt-Alarm auszulösen. Allerdings steht der jungen Internet-Generation die militärtechnologisch aufgerüstete Kontrollmacht der Herrschenden gegenüber. Wird Repression mit allen Mitteln, mit Panzern, Hubschraubern, Scharfschützen, ruchlos eingesetzt, kann die Mobilisierungskraft des Kipppunkts wieder verlöschen. Siehe Tiananmen-Platz in Peking 1989, siehe Iran 2009, siehe Syrien heute. Unser Trost mag sein, dass Banker und Investmentmanager die jungen Protestierer auf den öffentlichen Plätzen unserer Städte (noch?) nicht zusammenschießen lassen können.

Womit wir mit den Revolutionsprognosen wieder am Anfang stehen. Deswegen hilft uns auch der ehrgeizige US-Autor Ian Bremmer nicht weiter, der mit seinem gescheiten Buch „The J-Curve: A new way to unterstand why Nations rise and fall“ (2006) die J-Kurven-Hypothese global anzuwenden sucht. Sozusagen Oswald Spengler modern. Ach, ihr gescheiten Analysten am Computer, baut nur an euren abstrakten Hypothesen, um das Puzzle zeitgenössischer Geschichte in eine logische Form zu bringen. Aber versäumt nicht, vor Ort präsent zu sein! Ihr müsst in die Cafés, in die Bars, in den Bazar, in die Souks, um im Gedankenaustausch mit Alltagsbürgern, aber auch mit Intellektuellen, Schriftstellern, Journalisten, Gewerkschaftsführern, Frauenrechtlerinnen die Stimmung in einer Gesellschaft auszumachen, wenn es um deren Stabilität geht. Und selbst dann bleibt eine Sondierung, ob „moral indignation“ zum Kipppunkt überleitet, im Nebel, den auch eine genau gerechnete J-Kurve nicht lichten kann.

Vielleicht schafft es der Physiker Dirk Helbing, der an der Technischen Hochschule Zürich das Mammutprojekt „FuturICT“ betreibt, welches quasi harte Formeln der Macht mit Zeugnissen von „moral indignation“, gefischt aus E-Mail, Twitter oder Wikileaks, kombiniert. Mal sehen. Es könnte spannend werden. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.01.2012)

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