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(c) AP (MUHAMMED MUHEISEN)
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Weg ist er, und recht hat er. Je früher pensioniert der Mensch, desto wohler verdient sein Ruhestand. Vom hiesigen Frühpensionismus, seinen Wurzeln – und warum er Zukunft hat.

Mir kennt'n alle so schen leb'n,

wann s' uns sofurt

nach der Geburt

a glei' die Rent'n täten geb'n –

dann kennt' ma alle so schen leb'n!
Heinz Conrads, 1961

Versuchen Sie's einfach! VersuchenSie ganz einfach einmal, in Pension zu gehen und dazu nicht von allen Seiten lauthals beglückwünscht zu werden... Das heißt:Es wird dem Pensionisten aus vornehmlich verbalhygienischen Gründen für gewöhnlichnicht zur „Pension“ oder zur „Pensionierung“ gratuliert, sondern zum wohlformulierten, wohlerwogenen (und mit ein bisschen Augenzwinkern garnierten) „wohlverdienten Ruhestand“, also zu einer Leistung, die im Wesentlichen darin besteht, dassman es endlich geschafft hat, sich auf glaubhafte Weise und bei gutem Wind, also möglichst früh, aus dem Arbeitsprozess davonzumachen.

Im Grunde also eine Gratulation zurpraktischen österreichischen Rentenintelligenz, die, wie der Name schon sagt, nur zu einem geringen Teil aus glücklicher Fügung, gewerkschaftlicher Kraftdemonstration oder maßgeschneiderter Krankheit besteht, sondern zum weitaus größeren aus der höchstpersönlichen Begabung des Arbeitnehmers, aufwenn auch noch so offensichtliche Weise nichtganz so blöd zu sein wie zwar nicht die meisten, aber doch sehr viele andere. Das phraseologische Adjektiv „wohlverdient“ fehlt denn auch so gut wie nie beim grinsenden Händeschütteln anlässlich des „Ruhestands“: Das hat den grundsätzlichen Grund der landesüblichen Frühverrentung – je früher pensioniert der Mensch, desto wohler verdient hat sein Ruhestand zu sein –, unddieses wiederum erfordert, zweitens, die krampfhafte Ruhigstellung des (wenn auch österreichischen) Gewissens. Denn die Absurdität und zwangsläufig verheerende Praxis des vorzeitigen Altersrentenkonsums um jeden Preis ist ja, genau genommen, jedem vollsinnigen Austriaken bewusst. Es wissen ja alle, dass und wie sehr das Schindluder ist,was da unter dem irreführenden Titel „Soziale Wohlfahrt“ getrieben wird.

Die Sache erinnert in ihrer geradezu erbitterten Verlogenheit an die ungefähr ebenso (und aus ähnlichen Gründen) verbreiteten, zumeist begeistert akklamierten alkoholischen Euphemismen, an das „Erst wann's aus wird sein“ des weinseligen Deliranten. Noch unterm Heurigentisch wird der gemütliche Alkoholiker auf die Frage, was denn so seine Lieblingsbeschäftigung sei, hervorlallen: „Ab und zu ein gutes Glaserl Wein mit guten Freunden!“ – und wären es seine letzten Worte.

Denn nur so weiß er sich eins mit (mindestens) Hunderttausenden. Und so hat er's ja weiß Gott wie oft vorgelallt bekommen, auch von Politikern, die wissen, was ihnen nützt: Das „Glaserl“-Kürzel für „Ab und zu, wenn es mein 25-Stunden-Tag zulässt, genieße ich gern auch ein gutes Glaserl Wein mit guten Freunden“ – dieses ebenso unsägliche wie unausrottbare „Glaserl“ gehört ja, ganz so wie der „wohlverdiente Ruhestand“, zu den nicht nur sprachlichen Symptomen vorsätzlicher Benebelung, zum genüsslichen Sich-nichts-wissen-Machen eines weit über Glaserl und Rentenseligkeit hinausreichenden Gemütszustandes, der sich vielleicht als Deliriumsplendens, als eine großmächtige Wurschtigkeit, beschreiben ließe.

Allerdings: Wozu beschreiben? Es wissendoch seit wirklich langer Zeit wirklich alle, die Arbeitnehmer ebenso wie die Arbeitgeber, die Parteien ebenso wie der Gesetzgeber – und, selbstverständlich, dieGewerkschafter, die in möglichst stillschweigender Übereinkunft ein einzigartiges, wahrhaft umfassendes Frühpensionierungssystemsamt zugehöriger Ideologie bewachen, um aus diesem wohlverdienten Stillstand möglichst großen Nutzen zu ziehen. Es wissen wirklich alle – sonst würde das gegenteilige Handeln nicht so reibungslos funktionieren. Dazwischen mögen ein paar Seelenkundler (oder auch schlicht vernünftige Menschen) auf die Schädlichkeit des flächendeckenden Pensionismus im Allgemeinen wie im Persönlich-Besonderen aufmerksam machen, mögen auch Vertrottelung und Vereinsamung durch obrigkeitliche Ruhigstellung mitten im Leben da und dort zur Sprache kommen – es hilft wenig bis gar nichts.

Denn alle, fast alle, bewegen sich mit großer, fein abgestimmer Sorgfalt wenig bis gar nicht, um diesen zäh-schwabbeligen Zustand nicht zu gefährden: Es ist ja, bitte schön, nicht unheikel, dass ein (immerhin!) sogenanntes Gesetz (jenes vom Pensionsanspruch im Alter von 60 beziehungsweise 65 Jahren, falls sich noch jemand erinnert...) praktisch nur in Ausnahmefällen auch tatsächlich gilt...


Aber, was reden wir da. Herzliche Gratulation zum wohlverdienten! Nur: Versuchen Sie ja nicht, sich über Ihre rundum abgesprocheneund allseits begrüßte und nur in einzelnen Notfällen gewaltsame Frühverrentung etwa nicht von Herzen zu freuen. Oder sich womöglich gar widersetzen zu wollen. Versuchen Sie das ja nicht!Sie bekämen es nämlich nicht mit irgendwelchen, x-beliebigen Proponenten zu tun – mit profithörigen Unternehmensführungen zum Beispiel, die ihre Personalpolitik lieber der öffentlichen Sozialversicherung umhängen, oder mit Frühpensionistenverwertern aller Art (von Reisebüros bis zu Fernsehserienproduzenten) oder auch mit politischenParteien, mit Gewerkschaftern und mit Betriebsräten, die ihre Frühpensionszuckerln allesamt sehr gerne weiter verteilen dürfen wollen.

Nein: Wer sich da zu wehren versucht, der rennt gegen eine „Pensionskultur“ an, der taumelt über ideologische Minenfelder, dem schlägt der gesammelte Stumpfsinn einer durch Jahrzehnte nicht nur aufgebauten, sondern auch schlagfertig trainierten Gedankenleere entgegen:Der hiesige Pensionismus steht da wie ein unbezwingbares Bollwerk aus Zuckerln.

Eine weit übermenschengroße, untermenschenkleine, abschreckend funkelnde, phalangische Sturheit, eine hinhaltendfrontmachende Kampfideologie, die sichnur scheinbar aus der Unsicherheit von Zeitläuften anno dazumal ableiten lässt.Ja: „Am besten hat's ein Fixangesteller mit Pensionsberechtigung, mit Pensionsberechtigung“, sang Hermann Leopoldi, „und wird er auch dabei täglich älter, die Pensionsberechtigung erhält ihn jung, er hat am Ersten nix, er hat am Zweiten nix, doch was er hat, das hat er fix.“ Allein: Dieses Lied war ein satirischer Reflex auf das nicht-beamtliche Elend rundum, 1935 geschrieben.

Sogar noch das eingangs zitierte Chanson „Mir kennt'n alle so schen leb'n, wann s' uns sofurt nach der Geburta a glei' die Rent'n täten geb'n“ kreierte Heinz Conrads vor ziemlich genau 50 Jahren unter dem paschenden Jubel vornehmlich von Kriegerwitwen-, Kleinstgewerbe- und Mindestrentnern, für die Wohlstandspensionen eben lustige Fantastereien waren.


Kann schon sein, dass der stumpfsinnigePensionismus unserer Tage seinen Hintergrund und seine Wurzeln (welcher beharrliche Unfug hätte heutzutage nicht „Hintergrund“ und „Wurzeln“?) dort hat; vielleicht auch noch in den Arbeitserhaltungs- und Frühpensionierungsprogrammen der weiland sozialistischen Alleinregierungen, die aber halt auch schon recht lang her sind. Und überhaupt: Im Wesentlichen ist der Pensionismus, sinddie gallertigen bis inhaltslosenÜberzeugungen, von denen er sich nährt, relativ heutig, hausgemacht und handgestrickt.

Es war zwar auch schon vor ein paar Jahrln, aber es gruselt einen, wie wenn's gestern g'wesen wär': 1986, während des (aus andern Gründen berühmt-berüchtigt gewordenen) hiesigen Präsidentschaftswahlkampfes, da war der eine – das heißt in diesem Fall: der andere! – Kandidat, so flüsterten es ihm auch seine freundlichsten Berater, hoffnungslos in Rückstand geraten. Und in ihrer verzweifelten Hoffnung auf ein Wunder ließen sie, die Berater, ihn, ihren Kandidaten, suggestiv lächelnd von Riesenplakaten (ums letzte Werbebudget!) verkünden: „Ich garantiere die Pensionen.“ Das war selbstverständlich in jeder rationalen Hinsicht grober Unfug – in austriakisch-mentaler, gemäß ebenso austriakisch-mentalem Dafürhalten, war es das aber offenbar nicht: „Pension“, „Pensionsgarantie“, alsodie Flucht aus der Unsicherheit in die „Garantie“, möglichst früh, die sichere Rente als Politik-Surrogat: wenn ein Wunder, dann am ehesten so. Denn der Zauber der Pension, die eigentliche Basis von allem, das Nichtstun als Traumziel allen Tuns,dieses dazugehörige, permanente So-tun-als-ob, dieser billige Illusionismus – die paradiesische Pensionswelt, der Rentenkitsch als Arbeitsunwille und politische Vorstellung, das sprießt und gedeiht alles aus simplem Reklamemist.

Da, wo es um den Sinn des Lebens, um die Pension geht, da bedient sich die Politik (oder eben das, was sich dafür hält) der übelsten Gartenzwerg-Klischees aus der alles bestimmenden, werthaltigen Welt des Marktgeschreis. Hier wird, via Konsumismus (welcher Stumpfsinnigkeit und Gefühlsdiktat ja voraussetzt), der Mensch als Produkt seines eigenen Trugbilds behandelt, werden Frauen und Männer allen Ernstes eben nicht nur in „Werbezielgruppen“ eingeteilt, sondern auch ihres realen, individuellen Lebensalters sowie selbstverständlich ihres Verstandes entkleidet – und schon steht es da, und es wird umso weniger peinlich, je freiwilliger man sich damit identifiziert, mit der vielleicht nicht immer lebens-, aber allzeit konsumfrohen Spielfigur unserer Zeit, dem Produkt pensionistischer Taschenspielkunst: zum Beispiel dem fröhlichen Senior, Vorzeigemodell einer „Generation 50(!)plus“.

Der hat selbstverständlich allen unjugendlichen, das heißt nicht durch Fernsehwerbung behandelbaren Alterserscheinungen wie Erfahrung, Bedachtsamkeit, Klugheit, leidenschaftslose Objektivität, Überblick oder gar – horribile dictu – Altersweisheit (wie dringend die Politik auch all dessenbedürfte, wie ungemein nützlich das auch für all die gewinnselig vor sich hin managenden Unternehmen wäre!) möglichst raschnach Beendigung seiner dynamisch-damischen Konkurrenzphase entsagt und sich zusammengepacket in seinen zweifellos wohlerworbenen Schrebergarten.

Weg ist er, und recht hat er.

Seine Schöpfer freilich, die Menschenmaterialisten, die haben noch viel rechter. Leute nämlich, die andere Leute nach Lebensaltern in werbungsrelevante „Zielgruppen“ einteilen und dafür allen Ernstes ernst genommen werden, auf so gut wie allen Gesellschaftsebenen, solche Leute neigen, verständlicherweise, zu ideologischer Uferlosigkeit – wie sich ja auch frisch angelernte Betriebswirtschaftler mit Vorliebe für Ökonomen halten und damit enorme (leider nicht nur wirtschaftliche) Flurschäden anrichten.

Insgesamt ist es durchaus verständlich: Leute, die in Werbezielgruppen denken (oder doch zumindest kalkulieren), die die straffe, faltenlose Jugendlichkeit eines prallen Geldsackes für ein Lebensziel halten, solche Leute eben mögen den Anblick alter Säcke nicht.

Menschen samt all ihren so unterschiedlichen Eigenschaften und Bedürfnissen, Neigungen und Begabungen, mit all ihren erworbenen Hand- und Geistesfertigkeiten, mit all dem Ertrag ihrer Jahre sind störend in einer normungsfreudigen, konsumkategorischen Welt der primitiven Kulissen, der einfältigen Klischees und sorgsam eingeübten Brands und Labels – welche gut gehenden Markenartikel natürlich ihrerseits dazu neigen, sich selbst entsprechende Charaktere zu reproduzieren.

Schon das Rezept ist leicht zu reproduzieren: Da ist nicht allzuviel gefragt – nur Spaßfreude, Emotion und spontane Begeisterung, eine kritiklose Konsumhetz und ein, das haben wir schon bei den Basics erwähnt, hohes Maß an Als-ob; ein extrem hohes Kitsch-Level.

Kurz und gut: Das Geschäft (unddie von ihm gnadenlos diktierte Politik) braucht keine alten Deppen.

Sondern junge.

Also weg mit den alten, fort in die Einflusslosigkeit, auf die Ferieninseln, in die Langstreckenflieger, auf wessen Kosten auch immer – das muss es uns einfach wert sein.

Weil es eben junge Deppen viel seltener merken, wenn aus ihnen zwecks Hebung sowohl sachgüterlicher als auch politischer Umsätze altjugendliche, um nicht zu sagen: jung gebliebene Deppen gemacht werden sollen. Daher gehört alles andere, und zwar möglichst gschwind, in den wohlverdientenEhschowissen. – Der tatsächlich historische Dung, aus dem das beängstigend und schier unüberwindbar gedeiht, ist der vormals christkatholischeWahn von der Arbeit als Strafe – samt derviel später und gewiss aus Verzweiflungselbst dazugebastelten Ergänzung vomRentnerdasein als irdischem Paradies. Daraus, nämlich aus der daraus entwachsenen Verachtung des eigentlich tätigen Menschen, des Homo Faber, schufen sich die Verwalter der jüngsten, der werbepolitischen Welt alle wohlverdienenden Erscheinungsformen des stets wohlgelaunten Käufers noch der Totesten Hosen und machten ihn ungestraft zum Credo aller politischen Bequemlichkeit.

Diese politische Bequemlichkeit rührthauptsächlich daher, dass praktisch alle sie schätzen und ebenso praktisch alle sie ignorieren, sodass es sich quasi von selber ergibt, dass und wie hierzulande all die hier und jetzt und für jedermann und allen gegenteiligen Beteuerungen der politischenTürlschnapper zum Trotz sperrangelweitoffen gehaltenen „Hintertürln“ zum vorgesetzlichen Ruhestand in Wahrheit einladende Haupteingänge sind...


Was wir daraus lernen?
Ganz einfach: Die Pension, und zwar die „Sobaldwiemöglichweilibinjanetdeppert“-Pension, der Inbegriff des politischen Kitsches, ist vermutlich bis nahe an den Jüngsten Tag sowohl aus der politischen wie auch aus der persönlichen Kultur des Homo politicus austriacus nicht wegzudenken.

Schon deshalb, weil ja auch Wegdenken schließlich so etwas wie einen Denkvorgang erfordert. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.01.2012)

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