Der Herr der Ringe

Hilfsarbeiterkind aus Steyr. Damit der Sohn studieren kann, schuften die Eltern. In den nächsten Tagen wird er promoviert, zum zweiten Mal – und zum zweiten Mal „sub auspiciis“. Ein Familienporträt.

Er hat einen, bekommt in Kürze einen zweiten. Die Verleihung des begehrten goldenen Sub-Auspiciis-Ringes aus dem Juwelierhaus Köchert wird seinem alten Vater eine Freude machen und so – indirekt jedenfalls – doch auch ihm selbst.

Natürlich freut sich Bruno Schneeweiß über seine bevorstehende, zweite Sub-Auspiciis-Promotion. Doch wenn man mit ihm spricht, gewinnt man den Eindruck: Der Weg ist sein Ziel. Ein glückliches Lächeln huscht immer dann über sein Gesicht, wenn er vom Lernen, vom Studieren, von der Arbeit spricht. Just von Arbeit ist in der Familie nicht viel geredet worden, aber sie war bei ihm zu Hause stets präsent. Aufgewachsen ist Bruno Schneeweiß, Jahrgang 1955, mit vier Brüdern in Steyr, in einer 1939 errichteten Arbeitersiedlung namens Münichholz. „Hitlerbauten“ hat man die Häuser genannt, die schon von außen die Hierarchie der Bewohner erkennen ließen: Direktorenvilla neben industriellen Kleinhäuslerbauten. Dazwischen viel Grün: Wald, die nahen Ufer der Enns.

Der Vater, gelernter Rauchfangkehrer, kam in den 1950er-Jahren hierher, um in den Steyr-Werken als Hilfsarbeiter, später als Arbeiter in der sogenannten „Härterei“ der Fabrik zu schuften. Wenn Schneeweiß aus seiner Kindheit erzählt, hört man nichts von Armut, schon gar nichts von Arbeitsleid. Wirtschaftswunder-Aufbruchszeit, auch in Steyr? „Es gab in den 1960er- und 1970er-Jahren viele Kinder in der Straußgasse, wo wir wohnten“, erzählt er. Ihnen hat man gesagt: „Wenn du jemanden kennst, kommst du in die Steyr-Werke. Wenn nicht, musst studieren.“

In dem die Region dominierenden Industriebetrieb gab es etwas, was es heute, wie Schneeweiß bedauernd hinzufügt, nicht mehr gibt: eine Bücherei. Dorthin pilgerte der Vater regelmäßig mit den Söhnen. Heimgeschleppt wurden große Taschen mit schwerwiegendem Inhalt: Schiller, Goethe, Nietzsche. „Die philologischen Schriften, in Latein verfasst“, sagt Schneeweiß. Doch nicht nur positive Erinnerungen verbindet der früh Belesene mit der Werksbibliothek im Fabriksgelände: „Dort habe ich meinen Vater das erste Mal in seiner schweren, schmutzigen Arbeitskluft gesehen. Ich bin in Tränen ausgebrochen, so sehr tat er mir leid.“ Die anstrengende körperliche Arbeit untertags hat den Vater nicht gehindert, abends noch zu lesen: „Neben seinem Bett lagen immer Berge von Büchern.“ Die Mutter, als Hausmädchen bei einer Familie namens Scholz in Steyr beschäftigt, erzählte ihren Söhnen vom „Bruckner-Toni“, mit dem eine Großmutter der Scholzens noch persönlichen Kontakt gepflegt hatte.

Latein statt Maturareise

Auch das interessierte Bruno Schneeweiß: Musik. „In der Siedlung haben viele klassische Musik gehört, nicht nur wir. Im Sommer konnte man aus den offenen Fenstern hören, welche Schallplatte gerade lief.“

In der Hauptschule entdeckt Schneeweiß eine weitere Leidenschaft für sich: die Mathematik. Später, in der HTL, wächst sich diese Passion aus, er bittet die Lehrer um schwierigere Schularbeiten. Beim praktischen Unterricht gibt ihm ein Schmied einen Satz mit, der ihn prägen wird: „Eine Freud musst haben.“

Schneeweiß freut sich schon auf sein Technikstudium. Dann erkrankt der Vater schwer. Der Sohn muss mit ansehen, wie er sich unter Schmerzen auf dem Boden wälzt. An diesem Tag entscheidet er sich für ein Medizinstudium. Statt einer Maturareise bringt er sich in den Ferien im Selbststudium Latein bei. Was er damals nicht weiß: Um ihm das Studium zu finanzieren, leben seine Eltern jahrelang hauptsächlich vom eigenen Obst- und Gemüsegarten. Der Sohn ist aus dem Haus, studiert in Wien. Er schläft, was für Studenten nicht unüblich ist, wenig. „In einer Disco war ich nie“, sagt er und hängt eine Frage, halb an sich selbst gestellt, an: „Ob ich was versäumt habe?“ Die Nächte verbringt er mit dem, was ihn am meisten fasziniert: dem Lernen. Parallel vergräbt er sich immer tiefer in die philosophischen Schriften der Antike. Eine Schnittstelle beginnt sich abzuzeichnen, die ihn ein Leben lang begleiten wird: hie der Humanismus, die Ethik, da der technisierte, kommerzialisierte Alltag. Später, im Berufsleben: die Realität im Medizinbetrieb des Arztberufs, zuerst im Wiener AKH, später in einem oberösterreichischen Spital.

Doch er liebt den Kontakt zu den Menschen, der Vater mahnt ihn: „Pass auf deine Patienten auf!“ Das ist in unserem System nicht immer leicht, erklärt Schneeweiß. Er spricht von „reduzierten Belegdauern“, von Patienten, die den Arzt bitten, noch im Spital bleiben zu dürfen. Nicht, weil sie so krank sind, sondern weil es zu Hause kalt ist. Er deutet an, welche Entscheidungen im OP-Raum und in der Ordination heute anstehen: Wer bekommt welche Operation, welche Therapie?

Schneeweiß: „Man darf Konflikte nicht scheuen. Ich möchte in meinem Leben Spuren hinterlassen, auch wenn ich Narben und Schrammen dabei abbekomme.“ Wenn er sagt: „Ich will helfen“, so klingt es überzeugt, nicht pathetisch. Die Arbeit als Arzt sei „auf der persönlichen Ebene oft schwer ertragbar“. Doch es gebe nie nur den einen, sondern immer verschiedene Gesichtspunkte. Durch das permanente Studium der Philosophen vermeide man eine beschränkte Sichtweise. „Auch als Arzt muss ich abstrahieren“, fügt Schneeweiß hinzu. Er zitiert Thomas Manns „Doktor Faustus“, Homers „Ilias“. Der Tod, ob Helden- oder Krankheitstod, beherrscht als eines der ewigen Themen die Kunst. „Lesen Sie ein Gedicht der Sappho“, empfiehlt Schneeweiß.

„Kürzlich fuhr ich im Speisewagen. Ich las Homer. Mein Sitznachbar fragte mich: ,Was ist denn das?‘ Ich habe dann aus der ,Ilias‘ auf Griechisch zitiert und auf Deutsch erklärt, worum es geht. Plötzlich hat sich der ganze Speisewagen um mich geschart und aufmerksam zugehört.“

Nachsatz: „Literatur, die sich über Jahrtausende hält – da muss irgendetwas dran sein. Darin geht es um wesentliche Fragen zum Menschsein und zur Welt. Ein Großteil der literarischen Produktion der folgenden Jahrtausende nimmt sich dagegen als Fußnote aus.“ Einen Atemzug später kann man sich mit Schneeweiß über Karl Kraus, über James Joyce unterhalten: „,Ulysses‘ ist ja mehrsprachig, da kommt Griechisch vor, Englisch aus verschiedenen Epochen“, schwärmt er. Auch in Dantes „Göttlicher Komödie“ ist er zu Hause: „Wissen Sie, was für mich eine Höllenstrafe wäre? Wenn ich 24 Stunden lang fernsehen müsste.“ Sehen das seine Kinder auch so? Sohn und Tochter waren ebenfalls stets Vorzugsschüler. „Sie wurden genauso wenig als Streber gemobbt wie einst ich.“ Nein, doch, einen „Zwischenfall“ gab es: Als der Vater mit einem seiner Volksschulkinder Musik hört, ihm die Partitur näherbringt, springt der Begeisterungsfunke auf den Kleinen über. Kurz darauf wird der Sohn im Unterricht der dritten Klasse nach seinen Musikvorlieben gefragt. Seine Antwort, „Tristan und Isolde“, bringt ihm einen Eintrag ins Mitteilungsheft ein. Der Vater wird vorgeladen: „Ihr Kind ist abnormal“, hat die Lehrerin vermerkt. Schneeweiß verlangt ein Sechsaugengespräch mit Lehrerin und Direktorin.

„Ich gehe keinem Konflikt aus dem Weg“, wiederholt er. Schon gar nicht in Sachen Lernen und Unterricht. Auf die schwelende Bildungsdebatte angesprochen, kontert er mit einem Beispiel: „In meiner Schulzeit haben sich die Lehrer für mich eingesetzt. Die sind extra nach Linz in die Bücherei gefahren, um mir Literatur mitzubringen, die meine Fragen beantworten konnte. Das verstehe ich unter Pädagogik.“ Neben der erwähnten Freude sei auch das Wollen ein Schlüssel: „Ich habe meinen Vater gebeten, in eine höhere Schule gehen zu dürfen.“ An der Lektüre von Kant und Hegel habe er sich als Teenager geradezu berauscht, und sein Lieblingsfach sei immer das gewesen, das gerade auf dem Lernplan stand.

„Ohne etwas Neues wird es fad“

Am heutigen Universitätsbetrieb kritisiert er, der selbst Vorlesungen an der Technischen Universität – Medizingrundwissen für Medizininformatiker – und an der Medizinischen Universität hält, dass alles „verschult“ sei. Das bremse die Eigeninitiative, die ihn, gemeinsam mit der Neugierde, immer angetrieben habe.

Wenn Schneeweiß, zusammen mit denjenigen Kollegen, die das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung aus den über tausend Sub-Auspiciis-Kandidaten noch ausfindig machen konnte, am 6. März in der Aula der Wissenschaften am feierlichen Akt anlässlich des „60-Jahr-Jubiläums der Promotion unter den Auspizien des Bundespräsidenten“ teilnehmen wird, wenn er knapp eine Woche später ein zweites Mal, abermals sub auspiciis, für das Studium der Klassischen Philologie promoviert wird und einen weiteren Ring erhält, dann wird das in seinem Fall wie eine Art von goldener Hochzeit zu verstehen sein. Er hat sich mit der Wissenschaft vermählt (frühzeitig – wie übrigens seine Eltern mit 19 geheiratet haben und bis heute ein Paar sind), er ist ihr, mit allen ihren geistigen Reizen, nach wie vor verfallen. So wird ihm erneut ein Ring der Treue überreicht werden. Heute verleiht ihn der Bundespräsident. In der Monarchie erhielten die anfangs vorwiegend aus dem Adel stammenden Kandidaten einen mit Diamanten besetzten Ring mit den Initialen des Kaisers.

Zwischen diesem auch materiell wertvollen Ring der Monarchie und dem funktionalen Modell der Republik klaffte in der Ersten Republik eine Lücke – es gab bis 1952 keine Sub-Auspiciis-Promotionen, die übrigens in der Wissenschaftswelt ein österreichisches Unikum darstellen. Viele der Promovenden wissen bis zum Promotionsansuchen gar nicht, dass sie zu den Betroffenen gehören. So ging es auch Schneeweiß bei Promotion Nummer eins.

Wenn jemand für den Fall einer freien Minute stets Reclam-Ausgaben philosophischer und literarischer Werke bei sich trägt, hauptberuflich für seine Patienten da ist, fachspezifische Kongresse besucht, lehrt, „nebenbei“ ein Instrument lernt – und zwar Wiener Oboe, „gottlob bei einem strengen Professor“ – und bei Musikaufführungen mitwirkt, wo bleibt die Zeit zum Leben? Schneeweiß: „Leben? Leben ist Lernen! Ohne etwas Neues wird es fad.“ ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.03.2012)

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