Interesse: null.

Die Werkverzeichnisse stagnieren, die Editionen der Noten humpeln dahin, die weltweit wichtigste einschlägige Sammlung, die der Wienbibliothek, wird ausgehungert. Über die ganz normale hiesige Johann-Strauss-Pflege und einen ihrer letzten Hoffnungsträger: die derzeit ausgetragenen „Tanz-Signale“.

Feine Fakten zuerst. Heuer (noch bis zum 18. März) gibt es zum neunten Mal in Folge, umtriebig organisiert vom Wiener Institut für Strauss-Forschung (www.johann-strauss.at) und der aktuellen Familie Strauss (mit dem Gerichtspräsidenten Eduard eifrigst an der Spitze), die sogenannten „Tanz-Signale“. Dahinter verbergen sich Konzerte, ein Symposion, Geselligkeit und punktuell Internationalität. Diese bereits Wiener Institution (immer um den Geburtstag – 14.März – des Dynastiegründers Johann Strauss, des legendären Vaters, platziert sowie benannt nach dessen Walzer op. 218, in wackerer Zusammenarbeit heuer mit den „Wiener Vorlesungen“, dem Wiener Institut für Musikwissenschaft der Universität und Sponsoren für Speis & Trank) stellt ihr Jahresfest stets unter ein Motto, das auch Anlass für Forschung und Gedankenaustausch sein soll. Diesmal bedient man sich des Titels vom Papa-Walzer op. 49 und propagiert mit „Das Leben ein Tanz oder Der Tanz ein Leben!“, was immer darunter gerade heute verstanden werden mag, vor allem gesunde Empirie und Nostalgie. (Übrigens: Nach Wunsch und Beweisführung der Nachkommen darf man heute nur mehr „Strauss“ schreiben, weil die meisten alten Quellen so lauten, auch wenn im zeitgenössischen Schrifttum ein „Strauß“ durchaus auch seinen Platz hatte.)

Noch einmal Fakten für Strauss und Co und überhaupt. Manche Musik aus der Strauss-Dynastie zählt noch immer zur bekanntesten weltweit. Die ersten Takte des Walzers „An der schönen blauen Donau“ sind zum Musikglobalmotto geworden, man mag es mögen oder nicht. Neben (wenigen) Wiener Liedern, Operetten, (wenigen) Classics und ein paar Volksweisen aus anderen Ländern, die international Toposcharakter bekamen, liefern (einige) Strauss-Melodien, auch jenseits von sowieso oft nur mehr rudimentär vorhandenen musikalischen Einzelkulturen, die weltweit mit- und nachsingbarsten Stücke/Melodien/Phrasen/Ornamente, vergleichbar nur etwa mit Mozart oder manchen Volksmusik-Pulks. Es sind die am leichtesten sich jenseits aller Nationen einprägbaren und die am liebsten mit- und nachgesungenen Stücke et cetera. Es geht dabei nicht, eigentlich nie um ganze Werke. Es geht darum, dass das System nach Strauss und Konsorten dasjenige kodifiziert hat, was wir nun überall und weiterentwickelt als Softklang- und Schallglockenumgebung bewusst wie unbewusst erleben, erdulden, danach süchtig gemacht, einfordern.

Unser Musikumfeld, in welches sich die Erde immer mehr wie in akustische Daunendecken hüllt, ist – was seine Basis, seine Wurzeln, seine primitiven Systeme ausmacht – vor allem ein Abklatsch von mitteleuropäischer/österreichischer/wienerischer Gesangsmusik des 19. Jahrhunderts, von der Schubert-Zeit über die Sträusse und Partner bis zur geschmeidigen Hoch- und Spätromantik. Alles andere auf der Palette der Dauermusik seit Jahrzehnten, des Musikhintergrund-Schundes, der Vermeidung von Stille besteht dann nur mehr aus lieb gewordenen Nationalismen und Kolorierung.

Mangel an Forschernachwuchs

Aber! Die jährlichen „Tanz-Signale“ stellen sich all dem. Arbeiten so manches soziologisch und werkkundlich auf. Rücken die Musik(traditionen) Wiens und Österreichs europa- und weltweit auf die rechten und ihnen zustehenden Positionen. Schließlich hat man dort in den vergangenen Jahren auch so Aktuelles wie Frauenthemen, Geschäftemacherei oder Bühnen/Medien-Probleme mit der Historie und einem gelebten Frohsinn an dieser zu verbinden gewusst. Außerdem, es sollte doch die Beschäftigung mit einem so wirkungsvollen Riesenfeld der Österreichmusik, welches zudem im Gegensatz zu so ziemlich allem sonst uns nachhaltig und nachhaltend Weltgeltung verschafft, kaum an einem allgemeinen Interesse, an neuen, spannenden Themen und am Forschernachwuchs mangeln . . .

Drehen wir die Fragestellungen vor den jetzt anstehenden, ziemlich schroffen Antworten noch einmal um. Warum mag man Strauss-Musik im Hinblick auf „lustig“? Warum besonders zu Neujahr? Aus Eskapismus, Angst? Woran liegt es, dass die Kompositionen der Sträusse und Co so ungemein eingängig geblieben sind? Dass sie noch allemal Basis für Philharmonisches und Hausfrauennachmittage abgeben? Dass das alles von innovativen Gruppen (seit Kurzem) frisch gedeutet und von Pseudo-Ensembles (in Kleidung und Interpretation im Stadium der absoluten Frechheiten) vor Massenpublikum verhunzt werden kann und dennoch erst so das ganz große aktuelle Geschäft darstellt? Dass aus den mehr als 2000 Werken der Dynastie kaum vier Dutzend tatsächlich Welthits geblieben sind (die allerdings mit Publikums-Suchtgefahr)? Dass es sich prozentuell (Hits und Gesamtwerk) bei den Strauss-Trabanten und Nachfolgern ebenso verhält (nach den Fahrbachs von Suppè, Ziehrer, Jurek und Millöcker über die Schrammeln und Adepten, über Lehár, Fall, Eysler, Abraham oder Kálmán bis zu Benatzky oder Stolz)? Warum sind dennoch weder die Musik und das jeweilige Umfeld noch die Voraussetzungen und die Wirkungen der Sträusse und Co schon so erforscht und katalogisiert, wie das bei vergleichbaren Großmeistern der Musik selbstverständlich ist (von Bach über Mozart, Beethoven bis Schönberg, wobei Österreich das meiste sowieso gleichsam an das Ausland delegiert hat)?

Nun, die bisherigen „Tanz-Signale“-Veranstaltungen brachten keinerlei Klärung, die heurige wird es ebenfalls nicht schaffen. Und das ist recht und plausibel so. Denn jede aktuelle Zusammenfassung dieses Komplexes wirft (würfe) andere, scheinbar neue, ziemlich brutale Fragen im Fach und weiter dann in den diesbezüglichen Wissenschaften und für die Praxis auf.

Zum dritten Mal Fakten. Strauss-Musik, das ist im Bewusstsein der Rezipientenmassen und der Musikveranstalter vor allem ein erratischer Block von wenigen Hits, mit denen man punktgenau Erfolge und ein „Cassabuch mit viel Haben“ (© Johann Strauss junior) erzielen kann. Alles andere in diesem Genre besteht aus gelegentlichen Ausgrabungen, aus tagesbezogenen Musiken, schematischen Laufbandklängen, die dann als Neuentdeckungen verkauft werden. (Die Wiener Philharmoniker tun das Jahr für Jahr geschäftstüchtig beim Zusammenstellen ihrer Neujahrskonzerte, welche dann als E-U-Musik-Weltsensation-Nummer eins und manchmal in – nun, sagen wir – diskussionswürdigen Interpretationen verkauft werden.)

Strauss-Musik ist trotzdem viel zu wenig erforscht und zugänglich gemacht. Die öffentliche Hand schert sich nicht mehr um so eine Vergangenheit. Es ist das ein Umstand, der hierorts schon öfter heftig beklagt wurde. Denn die umfassende Musikforschung, vor allem die Quellenaufarbeitung, wird in Österreich kaum mehr gefördert. Das oben genannte Wiener „Tanz-Signale“-Institut fristet vor allem aus Privatinitiativen sein Dasein. Die dort zu erarbeitenden Strauss-Werk-Verzeichnisse (die Köchelverzeichnisse für die Sträusse) stagnieren. Die kritischen Editionen des Notenmaterials (oft aus schnödem Gewinnstreben parallel geführt in Österreich) humpeln ziemlich.

(Man ist dabei – auch das wurde bereits zornig beklagt – in guter Gesellschaft. Österreich hat seine Minisubventionen für die Herausgabe von Schriften und Noten zum Beispiel Arnold Schönbergs oder Gustav Mahlers sowieso eingestellt, aber einen aktuellen Hilferuf der Creme der einschlägigen Geisteswissenschaft, gerichtet an Bundeskanzler und Ministerrat, durch eine nachgeordnete Dienststelle mittels eines Götz-Zitates auf Höflich beantworten lassen.)

Und die jährlichen „Tanz-Signale“ stellen sich all dem und beschämen so die Offiziellen? Sie versuchen es und ermöglichen hübsche Vorlesungen und Präsentationen (heuer auch über die gesellschaftliche Rolle des Tanzes an sich). An den Wurzeln kann das Problem aber so gar nicht gepackt werden. Die liegen in ganz anderen Zusammenhängen, in einem Beinahe-Tabu begründet. Und ein Tabu ist schwer zu verbalisieren. Umkreisen wir es also zunächst einmal vorsichtig.

Leicht wäre zu konstatieren (als Ausrede?), dass – wie eben am Beispiel Strauss-Erbe – die Wissenschaft einem wachsenden öffentlichen Desinteresse gegenübersteht. Es betrifft dieses aber nicht nur vor allem kunsthistorische oder philologische Einzelwissenschaften und Quellenforschung, sondern eben auch Bereiche, wo Österreich mit seinem eigenen quasi Schatz des Silbersees aus Vergangenem international punktet.

Die Leere dehnt sich aus

Was im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch eine Selbstverständlichkeit war – zum Beispiel Wiener/österreichische Großausstellungen und Weltkongresse über Musikthemen, zumeist von den öffentlichen Kulturinstitutionen gemeinsam mit Universitäten und Bibliotheken auf die Beine gestellt sowie sodann auch europa- oder weltweit herumgeschickt –, wurde beinahe abrupt abgebrochen. Die „Tanz-Signale“ oder manche gerade noch ermöglichte Symposien seitens kluger, aber kleiner Musikuniversitätsinstitute überbrücken mühevoll diese Leere, welche sich immer mehr ausdehnt. Mehr noch. Forschungsprojekte wurden sistiert oder neue seitens der aktuellen Mitarbeiter gar nicht erst in Angriff genommen. Man wird in ein paar Jahren mit Verblüffung und Erschrecken die jetzt fleißig gegrabenen Löcher beklagen.

Fallbeispiel bei den Sträussen: Die Musiksammlung der Wienbibliothek, seinerzeit die Basisinstitution für Ausstellungen und Parallelforschungsinstitute im Großmaßstab, die bedeutendste Strauss- und Wiener U-Musik-Sammlung der Welt und theoretisch mit einschlägigen Arbeitsposten ausgestattet, wird sukzessive ausgehungert. Allein, es ist das gar nicht so sehr eine Sache von Ignoranz und Ablehnung. Es findet vielmehr, seit einigen Jahren schon, eine selbst herbeigeführte und verschuldete Umwälzung statt. Die Wissenschaft von Kunst, von (ihrer) besonderen Historie, eine über kreative Zusammenhänge und Quellen, die verläuft sich irgendwie. Es werden keine Themen mehr formuliert durch das, was weiland österreichische Musikwissenschaft und Musikdarstellung genannt worden ist. Das Schrifttum jenseits betulichen Spezialistentums stagniert. Die Angebote der gewaltig überbesetzten Universitätsinstitute stagnieren und lesen sich wie vor 50 Jahren. Neue Ansätze werden weder erdacht noch formuliert. Der Output, außer Absolventen, die wiederum nur das fortsetzen, worin sie sich durchfressen mussten, ist vergleichsweise kaum mehr zu messen. Die generelle Furcht, sich gemeinsam dem Formulieren einer Neu-Auf-Sicht des Phänomens Musik zu widmen, ist offenbar größer denn je. Seit Dezennien wurde keine gültige Neusicht etwa dessen, was Musik-,Wissenschafts- oder Theatergeschichte Österreichs aktuell heißen mag, formuliert und publiziert. Von einer grundlegenden Darstellung dessen, was österreichische Geistesgeschichte im Hinblick auf ein Österreich heute in jener zerbröselnden, jedenfalls aber wackelnden EU darstellt und wie das zu bewerten wäre, ist nicht einmal mehr zu träumen.

Das Beharren auf Methoden und – mehr noch – auf der Handhabung und Veröffentlichung dieser ist die Methode des Tabus selbst. Im Zeitalter der tatsächlich kaum im Einzelnen nachvollziehbaren, akzelerierenden Entwicklung von Datenmassen und deren auch intellektuell begründeter Verknüpfung bleibt die Geisteswissenschaft, vor allem jene über die Historie der Musik und über ihre bis ins Heute reichenden Phänomene, offensichtlich ganz gezielt stehen. Die Stagnation geschieht wie stets im Kopf, aber sie passiert genauso in den Gliedern. Beispiele gefällig – gewonnen aus dem engen Kreis des angesprochenenThemas? Seit Jahrzehnten schon wird diequellenkritische Erfassung des einzigen noch immer offenen Bereichs der österreichischen Musikhistorie intendiert, die Zeit ab/in der Klassik bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein jenseits der Geniebeschreibung. Partnerschaften fanden sich keine. Unterstützungsanträge wurden zum Teil mit Hohn zurückgewiesen. (Und das nun war sozusagen das Großexempel. Ein kleines noch, dialektisch gesetzt?) Über die „Tanz-Signale“ und Ähnliches werden,auch nun schon seit Jahrzehnten, betreute Diplomarbeiten und Publikationsmöglichkeiten angeboten, jüngst sogar honoriert für interessierte Studenten. Interesse: null, tatsächlich.

Die „Tanz-Signale“, derart zwischen den Fronten? Man wird so vielleicht die öffentliche Hand wieder weniger schelten dürfen, denn sie kann diese ihre Hand vernünftigerweise nur in ein bereitetes Gefäß stecken. Und man wird sich, tatsächlich und imaginär, die Haare zu raufen anfangen, wird an einen ehemaligen österreichischen, etwas eigentümlichen Finanzminister denken, der vor nicht einmal einem Jahrzehnt über angebliche Orchideenfächer der Universitäten und vor allem im Kreis der Geisteswissenschaften zu spotten beliebte.

„Der Tanz ein Leben“ – in den Jahren nach 1968 brach auch die österreichische Musikwissenschaft auf. Die Revolutionen verliefen weitgehend im Sand, wie in mehr oder weniger allen geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplinen. Es ist trotzdem ziemlich spannend, jetzt nachzulesen, was damals, manchmal noch holprig, fast immer aufsässig, stets aber erst nach einem klärenden und alle Leute vom Fach einzubeziehen bestrebten Denken formuliert worden ist. Also. Kramen wir doch nun ein wenig in den Schriften und Pamphleten von damals; ein paar Sätze stechen immer wieder hervor, bleiben hängen, lassen sarkastisch schmunzeln, verblüffen ob ihrer gebliebenen Aktualität vier reiche, selbstbestimmte und oft verantwortungslos verplätscherte Jahrzehnte hindurch. „Abstraktion im Kleid der Empirie, als kaum miteinander verknüpfbare Stränge, ist dennoch anzustreben.“ – „Einen stets sich wandelnden Begriff von Musik sich zu erarbeiten ist vordringlich; besonders aber einen Begriff davon zu bekommen, was man unter dem subsumieren muss.“ Und: „Das Scheitern der Musikwissenschaft geschieht in ihren Methoden selbst.“

Die „Tanz-Signale“, die als eine der wenigen diesbezüglichen aber steten Folgeinstitutionen solche Folgerungen immer wieder in ihre Programmüberlegungen einbeziehen, offerieren heuer übrigens auch Statements, die über eine bloße Strauss-Hagiografie hinausgehen. Und – man eröffnete die Sache musikalisch passend bedächtig-fesch mit dem Strauss-väterlichen Opus 116, dem „Wiener Gemüths-Walzer“. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.03.2012)

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