Worte wie dürre Zweige

Ich sehe mich mit beiden Beinen in zwei Sprachen stehen, wobei ich zugeben muss, dass das slowenische Standbein dann und wann ein wenig wackelt. In Kärnten ist es schwer, die spielerische Balance zwischen den Sprachen zu halten. Geschichte eines Grenzgangs.

Berg-Orte üben auf mich eine geheimnisvolle Wirkung aus. Sie setzen in mir einen Erinnerungsmechanismus in Gang und wecken gleichzeitig meine Fluchtinstinkte. In jedem Bergdorf halte ich automatisch Ausschau nach Straßen und Wegen, die aus dem Ort ins Tal oder anderswohin führen. Bergdörfer machen mich unruhig, weil sie mich an meine Kindheit erinnern und daran, wie sehr ich in meinen Texten nach einer Verortung, nach einem Ausgangsort suchte, um ihn gleich darauf verlassen zu wollen, denn das Weggehen und das Zurückkommen vollzogen auf eine mir nicht immer bewusste Art die Bewegung meines Schreibens nach.
Ich weiß, dass es die von mir heraufbeschworenen Berg-Orte nur noch ganz vereinzelt gibt, dass sich mittlerweile viele Bergdörfer in Durchzugs- und Tourismussiedlungen verwandelt haben, dass sie ihre alten Geschichten und Erinnerungen abgelegt haben. Und doch sind es gerade die Berg-Orte mit ihrer exponierten Topografie, die das Gehen, das Überqueren von Pässen, Klüften und Übergängen, das Wandern in unwegsamem Gelände zwischen den Sprachen und Grenzen repräsentieren, das wiederum meine Existenz als Autorin bestimmt. Die Berg-Orte sind es auch, die mit ihren Verweisen auf die Tradition den Sinn für die Veränderung, für den Wandel, für den Charakter der Erinnerung schärfen.


Komme ich in ein Bergdorf, erinnere ich mich augenblicklich an Kindheitsgerüche, die ich in meinem Gedächtnis mittrage, an Geschichten, die ich schon vergessen glaubte und die ich, zu kleinen Bündeln gerollt, wieder in meinen Taschen finde. Bei meinen Orts- und Erinnerungserkundungen gewinnen die Geschichten vom Ablegen einer alten Kultur, einer alten Sprache, von den nachgelassenen Wörtern an Kontur. In einem entvölkerten Bergdorf vollzieht man, ohne es zu wollen, einen kulturellen Wandel nach. Wie sonst könnte man das Bedürfnis erklären, dass man sich nach einem Berggang auch in etwas anderes verwandeln möchte. Sobald man vom Berg herabsteigt, möchte man das Berggewand tauschen mit etwas Städtischem, sich leichtere Schuhe anziehen, wie man sich als Schülerin, bevor man in den Bus stieg, der in die Stadt fuhr, schnell noch die Wimpern tuschte oder andere Hosen anzog.
Einen nicht auf den ersten Blick erkennbaren Erzählfaden aus meinem Roman „Engel des Vergessens“ möchte ich an dieser Stelle aufnehmen. Es ist die Erzählung vom Verlassen einer Sprache und vom Hinübergleiten in eine andere, die schon immer da war, auch wenn sie in meiner Familie nicht unmittelbar gesprochen wurde. Es ist die Geschichte eines Übergangs, einer Metamorphose, eines Verlusts vielleicht, der nicht nur mich betrifft, sondern uns grundsätzlich zum Nachdenken darüber anregen sollte, ob uns der Wandel einer Kultur, das Verlassen einer Sprache ärmer oder reicher machen, wohin die Übergänge führen, zu kulturellem Reichtum oder zur geistigen Verarmung, Versteppung.

Gegen das Verstummen


Am Beispiel des Slowenischen in Kärnten kann man diese Veränderungen sichtbar machen. Die slowenische Sprache wird in Kärnten von etwa 12.000 Personen gesprochen oder verstanden. Diese Sprache ringt seit Jahrzehnten um ihren Bestand, sie ringt um ihre Funktion im gesellschaftlichen Alltag und um die Anerkennung als zweite Landessprache. Sie ringt darum, ein selbstverständlicher Bestandteil des öffentlichen Lebens zu sein und sich nicht erst durch lautstarke Proteste bemerkbar machen zu müssen. Sie behauptet sich in Familien und in dörflichen Gemeinschaften, aber in den politischen und kulturellen Institutionen des Landes fristet sie das Leben einer Außenseiterin. Sie ist noch immer ein Politikum, das bedeutet, sie muss sich einem Bekenntnisprinzip unterordnen, man kann für oder gegen sie sein, man deklariert sich mit ihr. Sie hat in den vergangenen Jahrzehnten an Geschmeidigkeit und an Lebendigkeit eingebüßt. Sie hat aber auch durch die zweisprachigen Bildungseinrichtungen an Befähigung gewonnen. Die Kärntner Slowenen wehren sich beharrlich gegen die tägliche Spracherosion, gegen das Verstummen der slowenischen Verständigung; sie haben aber nicht die finanziellen, wirtschaftlichen und politischen Mittel, um sich darüber hinaus als gesellschaftlich einflussreiche Gruppe zu behaupten. Sie sind in der Defensive.
Seit ich denken kann, bin ich in Kärnten Zeugin einer Verlustgeschichte der slowenischen Sprache. Sie schien immer gegen den Geist der Zeit zu stehen und in politischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen immer an der Schwelle zur Erosion. Immer waren es die Beharrlichen, die an ihr festhielten, und die Verunsicherten, die sie aufgaben. Dabei ahnten die Beteiligten längst, dass eine Sprache nur von ihrem Gebrauch lebt, als museales Kleinod jedoch verschwindet. Eine Sprache kann nicht nur die Vergangenheit bemühen, sie muss auf ihrer Präsenz im Alltag bestehen. Denn das Gedächtnis ist nicht vererbbar. Die Sprache des Kollektivs und sein Gedächtnis zeugen sich nicht einfach fort. Sie müssen immer wieder neu angeeignet, vermittelt, etabliert, und mit gezielten Praktiken und Maßnahmen am Leben erhalten werden. Die Beherrschung des Slowenischen in Kärnten verschiebt sich zusehends in eine passive Kompetenz mit erfreulichen Ausnahmen, aber wie wir wissen, sind die Ausnahmen eben nicht die Regel.


Vor diesem Hintergrund hat die Sprache der Kärntner slowenischen Literatur schon viele Jahre etwas von einer Beschwörung an sich. In den literarischen Texten wird die slowenische Sprache fantasiert und gefeiert. Autorinnen und Autoren behaupten, dass das Slowenische eine Art Prägestempel sei, der sich ihrem kulturellen Gedächtnis eingebrannt habe und darum das Schreiben bestimmen müsse. Auch ich habe vor mehr als zehn Jahren noch so gedacht und so empfunden. Auch ich wollte durch mein Schreiben auf Slowenisch ein politisches Zeichen setzen und gegen das Verschwinden der slowenischen Sprache in Kärnten ankämpfen. Was aber ist in der Zwischenzeit geschehen? Zu welchen Verschiebungen ist es in meinem Schreiben gekommen?


Mit meinem Weggang aus den heimatlichen Enklaven habe ich offensichtlich begonnen, mich aus den slowenischen Wörtern zu schälen, mir neue Sprachkleider anzuziehen, mich in neuen Geschichten und Zusammenhängen zu sehen. Ich habe Ausschau nach einer anderen Schreibsprache gehalten, die mir nicht gänzlich fremd ist und mir die größtmögliche gedankliche Bewegungsfreiheit erlaubt. Die deutsche Sprache ist mir zugewachsen, sie ging mir zur Hand. Ich fühlte mich in ihr freier, ungebundener als im Slowenischen, da das Slowenische mit dem schlechten Gewissen der Fortgegangenen belastet war. Aus dem inneren Kern der slowenischen Geschichte bin ich jedoch nie ausgewandert. Noch immer sehe ich mich in ihr verankert. Womit ich wieder auf den Ort, auf die individuelle Zugehörigkeit zu sprechen komme.
Ich habe in „Engel des Vergessens“ den Versuch unternommen, das in der slowenischen Sprache beheimatete Gedächtnis, die in ihr innewohnende kollektive Erfahrung der Slowenen in die deutsche Sprache zu transferieren. Es fand eine Übertragung von Erfahrung statt, die vielleicht dazu beigetragen hat, dass sich viele Menschen durch den Text angesprochen fühlen, in einer besonderen Weise auch diejenigen, die noch Restbestände des slowenischen kulturellen Gedächtnisses in sich tragen, aber aufgrund der Assimilation und des Verdrängens der slowenischen Sprache den lebendigen Zusammenhang damit verloren hatten.
Auch ich habe mich erst über die deutsche Sprache den schmerzlichen Erinnerungen annähern können, habe wieder zum Gedächtnis meines Körpers zurückgefunden und bin zu den Gerüchen der Kindheit zurückgekehrt. Über die Sprache ist mir ein neuer Nervenstrang gewachsen, der alle emotionalen Verschüttungen und Verkrustungen überwinden und überlisten konnte.

Manchmal laufen mir Worte nach


Den großen Vorteil einer lebendigen Zweisprachigkeit sehe ich gerade darin, dass man beim Wechsel aus einer Sprache in die andere keinen Bruch und keine Fremdheit empfindet, dass sich über den lebendigen Austausch zwischen den Sprachen auch der persönliche Ausgangsort verdoppelt. Ich sehe mich also mit beiden Beinen in zwei Sprachen stehen, wobei ich zugeben muss, dass das slowenische Standbein dann und wann ein wenig wackelt. In Kärnten ist es schwer, die spielerische Balance zwischen den Sprachen zu halten, weil das Verhältnis der beiden Sprachen nicht ausgeglichen ist.
Manchmal, wenn ich durch meine Berg-Orte gehe, laufen mir die Worte nach, wie verspielte Welpen, die voller Übermut ihr Nest verlassen haben. Sie wedeln mit ihren Schwänzen und lecken mir die Füße, damit ich sie aufhebe und an ihnen schnuppere. Manchmal prallen die Wörter in meinem Kopf aufeinander oder sie verbinden sich, legen sich übereinander, bilden ein neues Worttier, werfen Schatten in die andere Sprache. Das Schreiben ist ein Prozess, der weiterführt, voller Versprechen, aber auch mit Ängsten beladen. Für mich ist es ein Prozess der Neuschreibung, ein Übergang, ein Grenzgang, ein Aufbruch. In meiner Schreibbewegung gedenke ich immer wieder meiner slowenischen Erstsprache, wie im folgenden Gedicht:

gedächtnis, vergissmeinnicht, monument

was der aufgerissene acker, vor dem
ich stehe, alles versät. die herbstsonne
bewirft schon die wolken mit prunkvollen
farben. auch bei geschlossenen lidern
lodert ihr flammendes kolorit. in der
nähe der höfe, die ich umkreise,
suche ich nach worten, die abgelegt
worden sind, wie ausrangierte geräte,
lese sie auf, wie man dürre zweige
von den waldsteigen aufhebt und sie
am wegrand häuft. aus den tälern wachsen
die bergrücken zu höheren gipfeln heran.
in meiner stimme kristallisiert die alte
sprache und memoriert die chiffren der
erinnerung: spomin, spominčica, spomenik.
gedächtnis, vergissmeinnicht, monument. ■

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