Natur sei Dank!

Wasserkraft ist Teil der österreichischen Identität: wie es dazu kam – und was daraus noch folgen könnte. Eine Tour d'horizon von 1850 bis übermorgen.

Gerade die aktuelle Globalisierung führt zu neuen Periodisierungsansätzen für das klassische 19. und 20. Jahrhundert. Bis vor Kurzem dominierte noch die These des britischen Historikers Eric Hobsbawm vom „kurzen 20. Jahrhundert“ (1918 bis 1989) und dem „langen 19. Jahrhundert“ (1789 bis 1914/1918). Der Erste Weltkrieg und seine Folgen werden daher als zentraler Wendepunkt für die prägenden Entwicklungen des 20. Jahrhunderts mit dem Zweiten Weltkrieg, dem Kalten Krieg und dessen Ende 1989/1991 analysiert. Dagegen hat der deutsche Historiker Michael Geyer von der University of Chicago neulich im Rahmen einer Wiener Vorlesung zu Recht darauf hingewiesen, dass – global gesehen – die Intensität und Brutalität der Kriege ab 1850 deutlich zunehmen und der Erste Weltkrieg in Kontinentaleuropa diese Entwicklung zu einem grausamen Höhepunkt führte.

Die Frage, warum weltweit die Kriege – Bürgerkriege (allein in China mit 20 bis 50 Millionen Toten), Kolonialkriege – immer brutaler und grausamer wurden, begründet ein Erklärungsmodell insofern, als dies mit den tief greifenden gesellschaftlichen und kulturellen Änderungen als Folge der zweiten industriellen Revolution und der Globalisierung zusammenhängt. Gleichzeitig kann durchaus ein Vergleich mit der ersten Globalisierung ab 1850 dazu beitragen, Technologiefolgen in der zweiten Globalisierung seit Mitte der 1980er-Jahre präziser zu fassen und zu erklären.

In einem vom Verbund initiierten Forschungsprojekt zur Geschichte der Elektrizitätswirtschaft hat ein Team von Historikern – Hannes Leidinger, Richard Hufschmied, Andreas Kuchler und der Autor dieses Beitrags – diese zentrale Frage nicht nur hinsichtlich des Habsburger Imperiums und Österreichs nach 1918 analysiert, sondern auch im Vergleich mit den Entwicklungen im zaristischen Russland respektive der Sowjetunion und den USA sowie in Europa kontextualisiert.

Dabei war es uns besonders wichtig zu analysieren, warum letztlich die ökonomischen und sozialen Auswirkungen dieser ersten Transformationswelle in Österreich-Ungarn im internationalen Vergleich nicht so erhebliche Folgen gehabt haben.

Die Industrialisierungswelle sowie die „erste Globalisierung“ wurden im Habsburgerimperium erst mit rund 20 Jahren Verzögerung ab 1870 aufgrund des Beharrungsvermögens des kaiserlichen Absolutismus und der feudalen Strukturen des Adels wirksam und als „Gründerzeit“ idealisiert und politisch schubladisiert. Diese Veränderungen wurden zu Recht von den herrschenden Eliten als Basis für tief greifende gesellschaftliche und politische Veränderungen angesehen, die zum Machtverlust oder sogar zur totalen gesellschaftlichen Gleichschaltung führen würden. Dazu gehörten auch die jüdischen Bankiers und Unternehmer, die lange ausgegrenzt blieben.

Zeichen der Zeit erkannt

Um hier nur ein Beispiel zu geben: Die Wiener Rothschilds wurden erst 1887 bei Hofempfängen zugelassen, nachdem vor allem Fürstin Pauline von Metternich aktiv geworden war. Antiliberale Grundgesinnung und Antisemitismus und Antislawismus sollten erfolgreiche Unternehmerpersönlichkeiten lange von den Entscheidungsträgereliten des Hofes fernhalten und meiner Meinung nach die Basis für eine unternehmerfeindliche Grundeinstellung der österreichischen Gesellschaft vor 1918 liefern – trotz der Erfolge in der Gründerzeit. Während zumindest Thronfolger Erzherzog Rudolf die Zeichen der Zeit erkannte, die „Internationale Elektrische Ausstellung“ in Wien eröffnete und den „neuen Fortschritt“ proklamierte, fehlte nach seinem Selbstmord ein vergleichbarer politischer Hoffnungsträger am Hof des Kaiserhauses.

Als Grundthese gilt hier, dass offenere Gesellschaften wie Großbritannien oder die USA, die breitere Partizipation und größeren politischen beziehungsweise wirtschaftlichen Handlungsspielraum zuließen, rascher und wirksamer diese wirtschaftlich rasanten Transformationen nutzen konnten. Überdies waren das Innovationspotenzial und die ökonomische Umsetzungsbereitschaft wesentlich größer.

So nahm erst 1897 die erste elektrische Tramway ihren Betrieb in Wien auf, und bis 1915 wehrte sich Kaiser Franz Joseph gegen die ihn störenden Oberleitungen am Ring oder in der Mariahilfer Straße. In Sarajewo hingegen wurde bereits 1885 die „Elektrische“ im Ganztagsbetrieb auf zehn Kilometer Länge ausprobiert – auch ein Symbol für die Binnenkolonie Bosnien-Herzegowina. In Budapest hingegen sollte 1896 die erste U-Bahn auf dem europäischen Kontinent eröffnet werden.

Erst nach 1918 begann das elektrische Zeitalter für die Metropolen in Österreich – so für Wien, wo zwischen 1922 und 1925 die sozialdemokratische Stadtverwaltung als Stadtunternehmerin eine Aktion umsetzte, „in jedem Haushalt Gas und Strom“ zu ermöglichen. Bauernhöfe hingegen wurden häufig überhaupt erst nach 1945 mit Elektrizität versorgt, während dies in den USA ein zentraler Faktor in der Wirtschaftsförderung des New Deal und der Tennessee Valley Authority in den 1930er-Jahren war. Es sollte letztlich Jahrzehnte dauern, ehe in Österreich der Rückstand beim Ausbau der Wasserkraft und der Nutzanwendung von Elektrizität für Privathaushalte und Industrie aufgeholt werden konnte.

Dass die Zwischenkriegszeit im über Nacht mit demokratischen Strukturen versehenen „Reststaat“ (Deutsch-) Österreich nicht wirklich Boden gutmachen konnte, wird anhand erstmals umfassend verwendeter Quellenmaterialien sichtbar. Von den bis 1933 gebauten 44 Großkraftwerken wurden bereits 21 in der Monarchie gebaut und in der Zwischenkriegszeit ausgebaut, aber immerhin konnten 16 der 19 neu errichteten Wasseranlagen bis 1927 in Betrieb gehen, weitere drei bis 1930 – ein Faktum, das in der bisherigen Literatur nicht erkannt wird. Die ökonomische Krise sowie der Preisverfall der Kohle reduzierten aber ebenso das ursprüngliche Interesse an einem weiteren Ausbau der Kraftwerksanlagen.

Mit erheblichem Propagandaaufwand begann der Nationalsozialismus eine Reihe von bereits länger diskutierten Großprojekten wie Kaprun und Ybbs-Persenbeug, um dann aber rasch nach Kriegsbeginn auf deutlich reduzierte Bauziele umzustellen – auch unter massiver Ausbeutung von Zwangsarbeitern und Zwangsarbeiterinnen – und ohne die Kraftwerke wirklich fertigzustellen. Erst nach 1945 sollte es in Österreich gelingen, in einem nunmehr wieder demokratischen Umfeld durch großkoalitionäre Strategieziele und massive Investitionen durch das European Recovery Program (Marshall-Plan) einen umfassenden Ausbau der Wasserkraftwerke bis Ende der 1950er-Jahre durchzusetzen.

Übrigens hat es schon 1919 eine ähnliche Vision gegeben: Richard Hufschmied bietet in unserem Band einen interessanten Einblick in die Pläne des Staatssekretärs für Finanzen, Joseph Alois Schumpeter, der vorgeschlagen hat, amerikanisches Kreditkapital zum Ankauf der Lebensmittel für die Arbeiter des Kraftwerksbaus und amerikanische Rohstoffe zu verwenden, um entsprechende Kredite zu bekommen.

Heute wird nicht berücksichtigt, dass die Marshall-Plan-Hilfe ein Ergebnis der Zwänge im Kalten Krieg gewesen ist. Ohne die Furcht vor der Ausbreitung des Kommunismus sowjetischen Typs mit seinen stalinistischen Terrorprägungen hätte weder die umfassende ERP-Hilfe noch die europäische Integration funktioniert. Gerade durch die nicht unumstrittenen großen Investitionen in den Bau von Wasserkraftwerken und großen grenzüberschreitenden Leitungssystemen verfolgten US-Experten auch in Österreich eine Stärkung eines antikommunistischen westeuropäischen Wirtschaftsraums. Meist vergessen wird dabei die wichtige Funktion der westeuropäischen Elektrizitätsnetzwerke und institutioneller Koordinierungsstellen wie dem UCPTE (L'Union pour la Coordination de la Production et du Transport de l'Electricité): ohne transnationale Strompools kein funktionierender Beginn der europäischen Integration.

Demokratie vor Totalitarismus

Übrigens haben Karl Marx und Friedrich Engels in der Theorie und Lenin und Stalin in der konkreten Anwendung in der Sowjetunion erkannt, welche immanente Bedeutung die Elektrifizierung und der Ausbau von Wasserkraftwerken für die Transformation, aber auch Homogenisierung des russischen Imperiums hatten, wie Hannes Leidinger anhand neuer Quellen unter Bezug auf die zaristischen Wurzeln dieses Prozesses nachgewiesen hat. Letztlich haben aber nicht die totalitären Konzepte reüssiert, sondern die Adaptionen von „New Deal“ und dem Tennessee Valley Projekt und damit die bei Weitem höhere gesellschaftliche Akzeptanz des demokratischen Modells – trotz diverser Schwächen.

Andreas Kuchler konnte bezüglich der Debatte um die Errichtung des Atomkraftwerks Zwentendorf in den 1970er-Jahren in Österreich wiederum die verzögerten Auswirkungen der starken Westintegration skizzieren. Diese Verspätung in der Atomkraftdebatte hängt meiner Meinung nach mit der emotional aufgeladenen identitätsstiftenden Funktion von Wasserkraftwerken wie Kaprun im Nachkriegsösterreich zusammen – etwas, was sich in dieser Form in vergleichbaren Ländern wie Schweden und der Schweiz nicht wiederfinden lässt. Wasserkraft ist Teil der österreichischen Identität und der Wiederaufbauleistung unter extremen Rahmenbedingungen geworden.

Bis heute gehören die Österreicher zu den Nationen, in denen „Natur“ einen zentralen Stellenwert im Selbstverständnis einnimmt. Seit den 1980er-Jahren werden das Thema Nachhaltigkeit und die Bedeutung der Wasserkraft wieder Bestandteil von Unternehmenskultur, nachdem die Atomlobby die 1970er-Jahre in Atem gehalten hatte. Der Kreis zur ersten Globalisierung scheint sich zu schließen – wenngleich mit zusätzlichen nachhaltigen Produktionsformen wie solarer Energieerzeugung, Windenergie oder geothermischer Stromproduktion. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.04.2012)

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