Srebrenica, ha!

(c) EPA (Sasa Stankovic)
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Du weißt nicht, was Küssen ist, bevor du küsst, und du weißt nicht, was Sterben ist, bevor du stirbst. Und du weißt nicht, was Krieg mit dir macht, bevor du mittendrin bist. – Boudewijn Kok, Besuch bei einem Veteranen.

Du weißt nicht, was Küssen ist, bevor du küsst, und du weißt nicht, was Sterben ist, bevor du stirbst. Boudewijn, die Hände zu Fäusten geballt, streckt die kleinen Finger und drückt sie in die Winkel der Augen, er wartet und schnäuzt sich, Boudewijn Kok ist 38: nicht heulen jetzt!

Und du weißt nicht, was Krieg ist, bevor du mittendrin bist, sagt er mit tiefer Stimme.

Krieg ist... Wenn du nicht weißt, ob mandich erschießt, weil du einer alten Frau Wasser reichst. Wenn Männer sich aus Angst erhängen. Wenn du plötzlich ein schreiendes Kind in den Armen hast und es der Frau reichst, von der du meinst, sie sei die Mutter, und zwei Tage später in einer Mülltonne ein totes Baby entdeckt wird, ich hatte nicht den Mut, es anzusehen, wollte nicht wissen, ob es das Kind war, das ich auf meinen Armen getragen hatte.

Srebrenica! Boudewijn Kok sitzt in der Gaststube des Cafe de Buren, das er seit vier Jahren führt, 7738 PA Witharen, 70 Einwohner, Niemandsland im niederländischen Norden, es ist Montag, Ruhetag, keiner hier. Er sitzt an einem dunkeln Tisch, klebrig noch vom Bier der Nacht, Zigaretten neben sich und seinen Hund Diabolo. – Weshalb wurdest du Soldat? – Aus Langeweile, sagter, aus Lust auf Abenteuer, ich war 18, noch ein Kind. Er schnäuzt sich. Abenteuer!, Srebrenica,ha! Boudewijn zieht den Rauch tief in den schmalen Leib. SchwerstesKriegsverbrechen in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg! Genozid! Im Juli 1995 überrannten 5000 christliche Serben, ausgestattet mitPanzern und Kanonen, das Dorf Srebrenica, überfüllt mit muslimischen Flüchtlingen, beschützt von einer Truppe der Vereinten Nationen, 300 Blauhelmen aus den Niederlanden, Dutchbat III.

8000 tote Bosnier, zumeist Männer und Knaben zwischen 12 und 77, industriell hingerichtet, maschinell verscharrt.

Aber wären wir, sagt Boudewijn unter dem großen Bild, das in seiner Kneipe hängt, weinende Frauen darauf, schreiende Soldaten, Völkermord im Juli 1995, aber wären wir nicht dort gewesen, wären nun Zehntausende tot.

Glaubst du das wirklich? – Ob ich das glaube? – Ja. – Mir bleibt nichts anderes übrig, sagt Boudewijn und dreht das Gesicht ins Licht. – Was heißt das? – Er kratzt den kurzen hellen Bart im hellen Gesicht, zieht an seiner Zigarette: Dass ich lerne, meinen Krieg zu ertragen.

Noch Schüler sei er gewesen, etwas faul und naiv, sagt Boudewijn Kok, Sohn eines Fabrikarbeiters in Hardenberg, Provinz Overijssel, Freund von Kriegsfilmen, Bier und Mädchen, als er beschlossen habe, Soldat zu werden. Das hätte er nicht werden müssen, weil zwei seiner drei älteren Brüder es schon waren, und trotzdem, bereits das schöne Entlassungsgeld von 25.000 Gulden vor Augen, unterschrieb Boudewijn Kok für vier Jahre, wurde am 2. Oktober 1992, 18-jährig, Soldat 740625267 der Koninklijke Landmacht der Nederlanden, grüne Uniform,drei Monate in Weert, Provinz Limburg, rennen, schießen, rennen, warten, rennen, warten, warten, dann drei Monate in Utrecht, Ausbildung zum Automechaniker, zwei Monate in Soesterberg, Panzermechaniker, ein Monat Veldhoven, Lastwagenmechaniker, schließlich Havelte, Korporal in der 43. Panzergeniekompanie, nicht weit von Hardenberg,wo die Eltern wohnten, totale Spießer, mit denen ich kaum noch sprach.

Du warst ein braver Soldat? – Ach, knurrt er über den Tisch, es warmein Beruf, nichts anderes. – Das hast du, bis Srebrenica geschah, niebereut? – Doch. – Erzähl! – Er sei halt nicht ei-ner gewesen, der Befehle nie hinterfragt habe, militärischer Gehorsam, dieses Gestelze ohne Sinn, die ganze Disziplin habe ihm zu schaffen gemacht, immer wieder, spricht Boudewijn in den Morgen, aber schließlich, nicht ganz auf den Kopf gefallen, habe er sich zu helfen gewusst, er sei Minimalist geworden, habe sich lieber hinter seinen Motoren versteckt als vorgedrängt, ich war nichtbrav, schon gar nicht stolz, aber brauchbar, scharf auf mein Bier und das Austrittsgeld nach vier Jahren, 25.000 Gulden. In der Armee, lacht er nun, sei ja nicht entscheidend, wer man sei, sondern wen man kenne, zum Beispiel den Küchenchef, der einem heimlich eine Wurst zustecke, den Telefonisten, der dich gratis telefonieren lasse, den Feldwebel, der, wenn man zu spät nach Hause komme, nichts verrate.

In Bosnien war Krieg, Serben gegen Bosnier, Christen gegen Muslime, ein Schlachten unter Nachbarn. Im März 1993 reiste General Philippe Morillon, Kommandant der United Nations Protection Force in Bosnien, UNPROFOR, einer internationalen Schutztruppe der Vereinten Nationen zur Überwachung von Waffenstillständen in den Jugoslawienkriegen, ins ostbosnische Srebrenica, gebaut für 6000 Menschen. Nun drängten sich dort 50.000 Flüchtlinge aus den Dörfern der Umgebung, Bosniaken, Muslime, umzingelt und gejagt von serbischen Truppen, die näher kamen. Kaum Wasser, kaum Strom, wenig Nahrung, keine Medikamente. Morillon, als er das Elend nach zwei Tagen verließ, gelobte, die UNO werde Srebrenica und seine Bewohner nicht im Stich lassen.

Srebrenica war jenseits meiner Vorstellung, sagt Boudewijn Kok unter dem Bild des Völkermords, darauf, unten rechts, der Artikel aus einer Zeitung, 4. Dezember 2006: Srebrenica was zelfmoordmissie... Jetztkrümmt er sich zum Tier, das nicht von ihm weicht, und streichelt sein Fell, die Ohren, die Nase: Einmal im Leben möchte ich mein Hund sein.

Drei Tage nach der Drohung der Serben, Srebrenica zu erobern, wenn es sich nicht innerhalb von 48 Stunden ergebe, am 16. April 1993, erließ der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Resolution 819, rief das Dorf und seine Umgebung zur Schutzzone aus, verbot jeden Angriff oder unfreundlichen Akt. Und wieder zwei Tage später fuhren zum Schutz der Belagerten 170 Kanadier vor und schlugen ihr Lager auf, weiße Container, gesäumt von einem hohen Zaun.

Lustlos fuhr Korporal Boudewijn Kok ins deutsche Seedorf, Niedersachsen, Mechanisierte Brigade 41 des Heeres der Niederlande, kroch unter Lastwagen, reparierte, was zu reparieren war, legte nachts eine Matratzeauf die Werkbank, trank sich warm, schlief schnell weg, Februar 1994, ein ganzes Jahr lang, hieß es, habe er in Deutschland zu bleiben. Im März rückten die ersten Niederländer in Srebrenica ein, versehen mit kugelsicheren Westen und blauen Helmen, das Dutchbat I, im Juni, 20 Jahre alt geworden, erhielt Boudewijn den Bescheid, er sei bestimmt, nach Bosnien zu fahren. Wo ist das?, fragte er. Am Arsch der Welt!

Boudewijn, du hättest dich weigern können! – Dann hätte ich meinen Job verloren. – Was sagten die Eltern dazu? – Ich weiß nicht mehr, ob ich es ihnen erzählte. – Und deine Freundin? – Komm heil wieder.

Ein Arzt warnte vor Tripper, Syphilis, Aids, vor Chlamydien und Trichomonaden, ein Offizier redete über die Waffen der Serben, Panzer, Mörser, Haubitzen, ich kann mich nicht erinnern, was man uns noch erzählte, ich weiß nicht, ob jemand erklärte, um was es ging in diesem verdammten Krieg am Ende der Welt. Du weißt nicht, was Küssen ist, bevor du küsst.

Im August hieß es, das Dutchbat III, dessen Mitglied Boudewijn bald sei, reise im Oktober. Im Oktober sagten sie, im Jänner. Sie bestellten Korporal B. Kok nach Assen, Provinz Drenthe, 13 Luchtmobiele Brigade, 13. Luftmobile Brigade, Stolz der Armee, weltweit schnell einsetzbar. Am 6. Jänner 1995 war Abschiedsfeier, die Eltern, nun doch, standen im Hof der Kaserne von Assen, drei Brüder, die Freundin, Musik spielte, dann hörte sie zu spielen auf, alles war ruhig, jemand schluchzte, meine Freundin.

Und du? Hast du geweint? – Nein. – Hast du in Srebrenica nie geweint? – Einmal, als die Bosniaken Raviv van Renssen umbrachten, einen von uns. – Weshalb? – Weil die wollten, dass wir mit ihnen gegen die Serben kämpfen.

Boudewijn Kok zündet sich eine Zigarette an, Blumen stehen in einem hohen Gefäß, Rosen aus Stoff, Grünzeug aus Plastik, draußen fährt ein Bus vorbei, laut und schwer, dieScheibe zittert, Regen fällt im Hinterland.

Der 9. Jänner 1995 war ein Montag, Schnee lag in den Straßen von Assen, als die Soldaten, die nach Srebrenica sollten, in die Busse stiegen, vorbei an denen, die zurückblieben, aufgestellt in Reihen, die Hand an der Schläfe.

Wie fühltest du dich? – Ich habe vergessen, wie ich mich fühlte, lacht Boudewijn an seinem Tisch, darauf die Zigaretten, das Handy, eine kleine Geige aus grobem Holz, bespannt mit vier dünnen Drähten.

Sie reisten zum Flughafen Schiphol, stiegen ein, landeten gegen drei Uhr in Zagreb, Kroatien, und hatten zwei Stunden, sich umzusehen auf dem Gelände der UNPROFOR, Burger King, Duty Free, Boudewijn Kok kaufte ein Aftershave der Marke Davidoff.

Dann die Fahrt durch die Nacht. Srebrenica. Ein Leben in Containern, drei Betten, zwei Fenster, eine Tür. Zwei Dosen Bier pro Mann pro Tag. Bruce Springsteen ab CD, Garth Brooks. Und ab und zu eine Gewehrsalve in den Wäldern.

Du wusstest, wo die Front war? – Auch das habe er vergessen, sagt Boudewijn, er sei Mechaniker gewesen, zuständig für alles, was Diesel verbrauchte, vom Lastwagen bis zur Kettensäge, Teil der Kompanie Charly, 5000 Gulden Sold im Monat, keine Angst, eher Routine, Davidoff nach der Rasur, nachts ein Anruf nachHause, gratis, weil erden Telefonisten kannte. Manchmal stand ein Mädchen am Zaun, langes schwarzes Haar, zwölf Jahre alt. What's your name? Kok. And your name? Samira. Boudewijn schenkte ihr Schokolade, eine Tube Zahnpasta, er gab ihr Geld, damit sie im Dorf Zigaretten für ihn kaufte, ein paar Eier.

Nach zwei Monaten gab es kaum noch Diesel im Lager des Dutchbat III, keine Ersatzteile mehr, kein Gemüse, die Serben fingen den Nachschub ab, März 1995, Hunger in der Schutzzone Srebrenica. Boudewijn Kok, seine neue Aufgabe, zog von Wachposten zu Wachposten, notierte stündlich die Zahl der Salven, die zu hören waren, ständig mehr, April, Mai, Juni 1995. Abends stand er hinter der Theke in der Bar, schenkte Bier aus, zwei Dosen pro Mann pro Nacht.

Das kommt mir heute zugute, sagt er undkrächzt sein tiefes heiseres Lachen. Boudewijn schweigt und schaut hinauf zum Bild des Völkermords, und oben links, unter den Rahmen geschoben, eine Urkunde, in Ausführung des ministeriellen Beschlusses vom 18. Juni 2006 überreiche ich, Henk Kamp, Verteidigungsminister des Königreichs der Niederlande, hiermit B. Kok das Ehrenabzeichen des Dutchbat III, 4. Dezember 2006.

Manchmal kam Post aus Hardenberg, Provinz Overijssel, das Lokalblatt De Toren, und Boudewijn, obwohl jede Kamera verboten war, holte aus der Unterhose seine Kamera, fotografierte sich lesend und schickte das Bild der Zeitung. Weshalb? Ich war noch ein Kind, sagt Boudewijn.

Einem Knaben, der stumm am Zaun stand, schenkte er seine Adidas Torsion. Am Morgen des 25. Juni 1995weckte mich ein Kamerad, Kok, steh auf, am Zaun sind Kinder, dierufen nach dir! Ich ging zum Zaun, Samira war dort und andere Mädchen, dann sangen siemir zum Geburtstag ein Lied – seine Stimmestockt: nicht heulen jetzt!Die sangen mir ein Lied und warfen dann diese kleine Geige über den Zaun, ein Geschenk, darauf, mit Bleistift, die Worte: UNPROFOR, DUTCHBAT III, SREBRENICA.

Boudewijn krümmt sich zum Hund und streichelt seinen Rücken, die Ohren, die Nase.

Anfang Juli 1995. In Srebrenica verhungerten Menschen. Der Kommandant des Dutchbat III bat die UNPROFOR, die Stellungen der Serben, die immer näher kamen, aus Flugzeugen zu beschießen, die Flieger kamen nicht, einzig zwei niederländische Maschinen zerstörten einen Panzer. Die Serben drohten, einige Blauhelme, die sie gefangen hielten, beim nächsten Angriff zu töten.

Angst? – Noch nicht, sagt Boudewijn Kok, ein silbernes Kettchen am Arm. Dann ging alles sehr schnell, sagt er. Am 6. Juli 1995, einem heißen stickigen Donnerstag, strömten Flüchtlinge ins Lager der Niederländer, 25.000 Menschen, vielleicht 30.000, und wir waren 300, du weißt nicht, was jetzt passiert, du weißt nichts mehr, es gibt nichts mehr, worauf du vertrauen kannst, nur Chaos, nur Panik, du siehst in den Gesichtern der Menschen Angst, Angst, Angst, das ist es, was ich nie vergessen werde, die Angst in den Gesichtern dieser Menschen, was ich nie löschen kann. Eigentlich, sagt jetzt Boudewijn Kok, die Hände zu Fäusten geballt, eigentlich kann man darüber nicht reden.

Immer häufiger schlugen die Granaten ein, immer näher, Häuser brannten, Felder, schließlich fuhren die Serben mit Lastwagen vor, mit Bussen, 5000 Serben, und drängten die Bosniaken in alte Fabriken, kein Wasser, keine Luft, kein Entkommen, manche erhängten sich. Ich sah alte Menschen, verdurstend, sterbend, irgendwo, am Straßenrand, von keinem beachtet, und in den Gesichtern der Serben der Tod, der Hass. Man kann darüber nicht reden. Und wir waren 300, sagt Boudewijn Kok. Zu Hause nannten sie uns Feiglinge! Sie riefen uns Nazis! 20 Schuss Munition besaß ich. Wer nicht dort war, versteht nicht. Die Serben, unter Mladić,gut bewaffnet, begannen, die Flüchtlinge in Busse zu treiben, getrennt nach Geschlechtern, die Niederländer stellten sich daneben,manche halfen den Menschen ins Fahrzeug, am Abend des 13. Juli 1995 war Srebrenica geräumt, kein Muslim mehr im Dorf. 8000 tote Bosniaken, zumeist Männer und Knaben zwischen 12 und 77, hingerichtet zwischen dem 13. und 17. Juli, sofort verscharrt.

Er erinnere sich nicht, wie lange sie noch in Srebrenica geblieben seien, sagt Boudewijn, er sei, sagt er, als er Srebrenica verlassen habe, 15 Kilo leichter gewesen als ein halbes Jahr zuvor, aber um 15 Albträume schwerer.

Der Ministerpräsident kam nach Zagreb geflogen, um seine Soldaten abzuholen, mantrank wie seit Monaten nicht mehr, manche weinten, andere tanzten, auch Kronprinz Willem Alexander war da und reichte jedem die Hand.

Ich verweigerte sie ihm. – Weshalb? – Ich kam mir betrogen vor, im Stich gelassen. – Von wem? – Von der ganzen Welt. – Du kamst als anderer Mensch zurück? – Boudewijn Kok drückt die Schulter hoch und nickt.

Wieder unter einen Motor gekrümmt, erschrak 740625267 der Koninklijke Landmacht bei jedem Hammerschlag, beim Geschrei eines Babys. Er roch, wo es nach Schweinen roch, den Gestank der Flüchtlinge, die tagelang in alten Fabriken ausharrten, ohne Wasser, ohne Zuversicht. Kollegen fragten, wie viele Leichen hast du gesehen?, erzähl!, und das Lokalblatt De Toren, dem er einst sein Foto geschickt hatte – ein Hardenberger in Srebrenica –, schrieb über Boudewijns Rückkehr ins Dorf. Ach, du bist das, du Feigling, du Nazi, sagte jemand auf der Straße.

Ende Oktober 1995 stellte der niederländische Verteidigungsminister eine Untersuchung vor, 106 Seiten. Um Exzesse zu vermeiden, habe der Bataillonskommandant damals beschlossen, beider Evakuierung derFlüchtlinge mitzuarbeiten, was aber nicht bedeute, man habe mit den Serben kooperiert. Es wird immer an uns haften bleiben, dass wir diese Katastrophe nicht verhindern konnten, sprach der Verteidigungsminister.

Weiße Autos machten mir Angst, weiß wie die Fahrzeuge der UNO, sagt Boudewijn Kok am klebrigen Tisch. Ende Februar 1996 verließ er die Armee, zog zu den Eltern, dann in ein Bauernhaus, abends fuhr er nach Amsterdam oder Utrecht und trankdurch die Nacht, die Freundin gab auf, kam zurück, gab auf, Boudewijn schlief kaum noch, versuchte sich als Mechaniker, aha, du warst in Srebrenica!, warum hast du dort bloß zugeschaut?

Im April brannte das Haus ab, das er gemietet hatte, übrig blieb der Helm, nun grau statt blau, und Samiras kleine Geige, UNPROFOR, DUTCHBAT III, SREBRENICA.

SREBRENICA! hieß das Theaterstück, dasman in Amsterdam spielte, eine Abrechnungmit dem Dutchbat III, die Zeitungen berichteten, Radio, Fernsehen, Mai 1996, Roberto, ein Blauhelm, lärmt freudig von der Bühne, ich hörte die Knochen der Muslime krachen unter den Rädern, und ich dachte, gut, krepiert nur, ihre Schweinehunde.

Nichts ging mehr, sagtBouldewijn Kok unter dem Bild, das in seiner Gaststubehängt, daneben das graue T-Shirt der Vergangenheit, DUTCHBAT III, C-CIE, nichts.

Eines Nachts setzte er sich auf das Geleiseder Bahn, die nach Zwolle fährt, er saß und wartete, ich weiß nicht wie lange, dann stand er auf, ich weiß nicht, wie ich wegkam von dort, irgendwann saß ich wieder im Auto, benommen, bewusstlos, und fuhr nach Hause.

Schluss mit der Freundin. Schulden.Boudewijn Kok war nun Vertreter für Reklame im Internet, er lernte eine andere Frau kennen, heiratete, 27. Februar 1999, ließ sichein Jahr später scheiden, saß eines Nachts wieder auf dem Geleise der Bahn.

Nichts!

Du weißt nicht, was Krieg mit dir macht, bevor du es selber erlebst.

Er steht auf, holt sich eine zweite Flasche Cola. Wo sind wir stehen geblieben?

Im Jahr 2000 lernte Boudewijn Silvia kennen, langes schwarzes Haar, er begann zu erzählen, nächtelang, 2005 gebar sie einen Sohn, 2007, zusammen mit Silvia und einigen Kameraden, reiste er nach Srebrenica, bosnische Polizisten an der Seite, einer sagte, du bist doch Kok, bist du nicht Kok?, es war der Mensch, dem ich zwölf Jahre zuvor meine Adidas geschenkt hatte.

Wieder drückt er die kleinen Finger in die Winkel der Augen, draußen fährt ein Bus vorbei, das Fenster zittert.

Und wie geht es dir heute?

Im März 2008 übernahm Boudewijn Kok, 34, Kriegsveteran, das Cafe de Buren in Witharen, 70 Einwohner, er stellte künstliche Blumen auf die Simse, weiße Orchideen, Laternen, an die Wände hängte er Reklame, Heineken, Jack Daniels Tennessee Whiskey, manchmal lädt er zu einer Partie Billard oder zu einer Runde Bingo, Poker, Dart – unter dem Bild von Srebrenica.

Und immer seltener denkt er an Samira, langes schwarzes Haar, die ihm zum Geburtstag sang am 25. Juni 1995, zwei Wochen, bevor ich ihr in den Bus der Serben half, der sie wegbrachte, irgendwohin, ihr Name steht auf keiner Liste, nicht auf der der Toten, nicht auf der der Lebenden.

Es gehe ihm nicht schlecht, sagt Boudewijn, vermutlich. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2012)

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