Vorerst eine EM der Abwehrkünstler

Auch bei Österreichs Auftaktspiel gegen Ungarn werden vermutlich nicht viele Tore fallen – eines sollte aber.

Die Fußball-EM 2016 ist etwas schleppend angelaufen, die Faszination des Spiels ist bisher oft verborgen geblieben. Die Euro leidet an Torarmut, spielerische Glanzpunkte hat man bisher oft schmerzlich vermisst. Selbst große Fußballnationen haben sich schwergetan, der Favoritenrolle gerecht zu werden. Sogar Weltmeister Deutschland hatte in seinem ersten EM-Spiel Mühe, die Ukraine in die Knie zu zwingen. Unter dem Strich gab es ein 2:0 zu bejubeln, die Mannschaft von Joachim Löw ist bislang das einzige Team, das ein Spiel mit einer Differenz von zwei Toren gewinnen konnte.

In Frankreich zeichnet sich ein Trend ab, der den Fußball sicher nicht attraktiver macht. Kernstück fast aller Mannschaften ist und bleibt eine solide Abwehr. Das Credo ist klar: lieber Tore zu verhindern. als selbst auf Torjagd zu gehen. Alles dreht sich um Vierer- bzw. Dreierketten oder gar die berühmte Doppel-Sechs.

Dass ein Verteidiger einer der Stars dieser EM wird, muss man dann aber eher doch bezweifeln. Natürlich braucht man auch unermüdliche Kämpfer in der Mannschaft, aber sie sind gewiss nicht diejenigen, die am Ende ausgezeichnet werden. Dass bisher kaum eine Mannschaft mit einem wirklich offenen Visier gespielt hat, hat nichts mit Neulingen, dem aufgestockten Teilnehmerfeld oder den mitunter herausragenden Torhüterleistungen zu tun. Viele Vorrundenspiele schrumpften zu einem taktischen Kräftemessen, Glanzlichter vermochte dabei fast niemand zu setzen.

Wenn die EM heute für Österreich gegen Ungarn beginnt, dann spricht vieles dafür, dass auch dieses Duell nicht zum Torfestival wird. Auch in Bordeaux wird eher die Vorsicht regieren, die Defensivreihen sollen das Match gewinnen. Auf ein 1:0 oder 0:1 zu tippen, ist sicherlich kein Fehler.

Für Österreich spricht die größere individuelle Klasse, die Ungarn haben keinen David Alaba, auch keinen Marc Janko oder Marko Arnautović. Der Stoke-Legionär, der in jüngster Zeit durchaus mannschaftsdienlich agiert, ist zwar auf dem Weg, erwachsen zu werden, aber er hat sich eine gewisse Kindlichkeit bewahrt.

Österreich wird zum Auftakt sicher nicht auf Teufel komm raus stürmen. Einer, der den Weg zum gegnerischen Tor aber unaufhaltsam suchen wird, ist Arnautović – und so kann er gegen Ungarn womöglich auch den Unterschied ausmachen. Ein Genieblitz könnte entscheidend sein. Arnautović, der Eins-gegen-eins-Situationen sucht und liebt, sich in diesen oft behauptet, bringt dafür auch die nötige Portion Frechheit mit, samt erfrischender Unbekümmertheit.

Kernstück wird gegen Ungarn, erstmals seit 1986 bei einem Großereignis vertreten, dennoch eine solide Abwehr bleiben. Das entspricht dem Trend dieser EM. Wer auf viele Tore hofft, wird wahrscheinlich enttäuscht. Eines würde ja auch schon reichen.

wolfgang.wiederstein@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.06.2016)

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