Stadt des radikalen ukrainischen Freiheitskultes

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Am 9. Juni starten die Vorrundenspiele der Europameisterschaft in Lemberg, der Touristenhochburg der Ukraine. Die Stadt im Westen des Landes ist seit jeher plurikulturell, doch der Nationalismus blüht.

In der „Stadt der Denkmäler“, die nicht zuletzt ob deren Fülle zum Unesco-Welterbe zählt, ist gerade die Freiheitsstatue originell konzipiert, aber durchaus nicht reißerisch platziert. Anders als die Bronzeskulptur des Leopold Ritter von Sacher-Masoch: Vor vier Jahren hat die westukrainische Stadt Lemberg ihren berühmten Sohn, der Mitte des 19. Jhs. nach Graz ging, um zu studieren und später in Wien und Hessen Bücher wie die „Venus im Pelz“ zu veröffentlichen, mit denen er zum Namensgeber für den Masochismus wurde, als Tourismusmagnet entdeckt. An der Ecke zur Altjüdischen Straße muss sich sein Bronzeleib nun von glücks- und libidoheischenden Passanten durch den Hosenschlitz aufs allerbeste Stück greifen lassen.

Die faule Freiheitsstatue

Zur Freiheitsstatue langt indes niemand hinauf. Hoch über dem Eingang zum ethnografischen Museum der 750.000-Einwohner-Stadt nahe der polnischen Grenze wurde sie positioniert. Aber nicht stehend wie in Amerika: Die hiesige Freiheitsstatue sitzt, weshalb sie im Volksmund auch „die Faule“ genannt wird. Das ist nicht wenig paradox für eine Stadt, die mehrmals dem polnischen, dann dem habsburgischen, später dem deutschen und schließlich dem sowjetischen Reich einverleibt wurde und daher nicht nur über einen atemberaubenden Architekturmix verfügt, sondern auch beinahe zwanghaft einen Kult um die Freiheit pflegt.

Zuletzt kam sie dadurch in Verruf, weil sie fahrlässig mit dem Extrem spielte, der ultrarechten Partei „Svoboda“ (Freiheit) bei den Regional- und Kommunalwahlen ein Drittel der Stimmen gab und ihr damit aufgrund des Wahlsystems zu mehr als der Hälfte der Abgeordneten im Stadtparlament verhalf. „Die Zustimmung ist bereits wieder um die Hälfte zurückgegangen“, rät Bürgermeister Andriy Sadovy, der als Parteiunabhängiger seit 2006 die Stadt leitet, zum Augenmaß: „Das war eine reine Protestwahl.“ Überhaupt würde die Ukraine Europas Weg zur Demokratie im Zeitraffer durchlaufen. Soll heißen, einmal wirft es alle nach vorn, dann wieder viele zurück.

Sadovy nennt in diesem Kontext den in Europa in Ungnade gefallenen Staatspräsidenten Viktor Janukowitsch nicht beim Namen. Aber er gibt zu verstehen, dass der Höhenflug der Neofaschisten auch darum passierte, weil Janukowitsch aus Angst vor seiner blonden Erzrivalin Julia Timoschenko eine Registrierung ihrer Partei bei den Wahlen verhindert hatte. Und das in dem Landstrich der Westukraine, die 2004 die „Orange Revolution“ gegen das autoritäre Vorgängerregime losgetreten und Timoschenko an die Staatsspitze gehievt hatte.

„Boykott der EM trifft die Bürger“

Zwar ist man auch in der ukrainischsprachigen Westukraine von Timoschenkos mäßigen Erfolgen enttäuscht. Aber dass der aus dem russischsprachigen Osten gebürtige Janukowitsch sie im Vorjahr wegen des Abschlusses eines unvorteilhaften Gasliefervertrags mit einer siebenjährigen Gefängnisstrafe neutralisieren ließ, wird man ihm hier nie verzeihen. Das tun auch die EU und ihre Mitglieder nicht: Einer um den anderen ihrer offiziellen Vertreter sagte die Teilnahme an der Fußball-EM in der Ukraine ab. Doch wer meint, dass sich Janukowitschs westukrainische Gegner darob freuen, irrt: „Ein Boykott eines politischen Treffens ist das eine. Ein Boykott der EM ist ein Schlag gegen alle Bürger.“

Der solches sagt, hat zu viel erlebt, um nicht jedes Wort abzuwägen. Zehn Jahre lang war Myroslav Marynovych in sowjetischen Arbeitslagern am Ural, weil er 1976 die ukrainische Helsinki-Group für Menschenrechte mitgegründet hatte. Wir treffen ihn in der Katholischen Universität von Lemberg. Studierende wuseln durch die hohen Gänge, Ukrainisch mischt sich mit Polnisch, Russisch mit Englisch, das neben Philosophie und Humanwissenschaften unterrichtet wird. In der hintersten Ecke des Dachbodentrakts bereitet Vizerektor Marynovych eine internationale Konferenz vor. „Wahrscheinlich gibt es keinen zweiten Vizerektor auf der Welt, der kein Doktorat hat“, sagt Marynovych, der auch Präsident des ukrainischen PEN-Clubs ist, lächelnd: „Mein Doktorat war der Gulag.“

Der Gulag schärfte den Blick fürs Detail und die großen Zusammenhänge. Dass jüngst ukrainische Geheimagenten in die Uni kamen und den Rektor zur Kooperation bei der Kontrolle der Studenten gewinnen wollten, trägt Marynovych mit Humor. Dass der historisch bedingte und durch gegenseitige Nichtkenntnis begründete Graben zwischen Ost- und Westukraine als Spielfeld politischer Emotionalisierung dient und auch nicht durch Inlandsflugverbindungen verringert wird, scheint ihn zu schmerzen. Dass aber das Bildungsministerium seiner Uni die Lizenz entziehen will, dass der Bildungsminister die Westukrainer öffentlich „dumm“ genannt hat und dass die Russisch-Orthodoxe Kirche die Ukraine unter dem Sammelbegriff „russische Welt“ subsumiert, deutet Marynovych als Signal eines russischen Neoimperialismus.

Die Mitschuld der EU

Daran habe auch der Westen Mitschuld, weil er der Ukraine jegliche Beitrittsperspektive zur EU verwehrt und das Land auf dem Nato-Gipfel 2008 in Bukarest der russischen Einflusssphäre überlassen habe, sagt er. „Ich weiß, dass die Hauptschuld bei uns selbst liegt. Aber der EU ist Energiepolitik wichtiger als Geopolitik.“

Es ist dies die akademische Rationalisierung der antiimperialistischen Stimmungen, die wenige Meter weiter im Stadion des Lemberger Fußball-Erstligisten Karpaty in einem diffusen Gemisch von Flaggen zu Tage treten. Hier Rot-Schwarz als Erinnerung an die ukrainischen Partisanen im russischen Bürgerkrieg nach der Revolution 1917; dort die Flagge für den ukrainischen Che Guevara namens Stepan Bandera, der im Kampf gegen die polnischen und später sowjetischen Okkupanten 1941 vor dem Einmarsch der Hitler-Truppen ein Massaker an Juden und Kommunisten in Lemberg anrichtete und dann im KZ Sachsenhausen landete, ehe er 1959 vom KGB in München ermordet wurde.

Antirussisch aus Tradition

Dass unter den Fußballfans auch Symbole der aktuellen Svoboda-Partei auftauchen, wird vom Klub geleugnet. In Lemberg habe immer antirussische Stimmung wie im Baltikum geherrscht, erklärt Danylo Nikylenko, Funktionär des FC Karpaty: Der Klub sei das Symbol dafür, weil er 1969 als einziger Zweitligist jemals den UdSSR-Cup in Moskau gewonnen habe: „Die Väter haben den Triumph ihren Kindern weitergegeben. Und sie haben ihnen erklärt, dass das Stadion jener Ort war, wo man sich unbeachtet vom KGB unterhalten konnte – ein Tempel der Freiheit.“
Nicht zufällig heißt es in der inoffiziellen Klubhymne: „Wir sind die Jungs aus der Bandera-Stadt. In die Kirche gehen wir und unsere Eltern achten wir.“ In Lemberg seien selbst die meisten Fußballanhänger religiös, erklärt Nikylenko: Und schon deshalb seien sie nicht gewalttätig oder rechtsradikal.

In den westlichen Medien kamen sie in letzter Zeit indes weniger gut weg. Wegen der diffusen Flaggensymbolik und dem unreflektierten Umgang mit ihr wurde den Lemberger Fans und ihren Kollegen in anderen EM-Austragungsorten eine gesteigerte Gewaltbereitschaft attestiert, sodass westliche Fans schon vor einem Besuch gewarnt wurden.

In Lemberg, der Touristenhochburg der Ukraine, ist man über diese Darstellung empört: „Schlicht dummes Gerede“, sagt Vardkes Arzumanjan, gebürtiger Armenier und Besitzer dreier uralter Stadthäuser, die er in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit zu denkmalgeschützten Stadtrestaurants umgewandelt hat.

Was in Lemberg vor sich gehe sei simpler Lokalpatriotismus in einer traditionell multiethnischen Stadt. Auch Andreas Wenninger, österreichischer Wissenschaftsattaché in der Ukraine, mahnt zum nüchternen Blick und spricht von der schwierigen Suche der Lemberger nach ihrer Identität und der erst allmählich einsetzenden Aufarbeitung einer Geschichte, in der man nicht nur Opfer gewesen sei.

Langsam, aber sicher

Am „Freiheitsboulevard“ im Zentrum nimmt derweil die Fanmeile für die Vorrundenspiele Deutschlands, Dänemarks und Portugals Gestalt an. Weiter draußen absolviert das Personal des neuen Flughafens die Generalprobe. Und das neue Stadion ist nach langen Verzögerungen spielbereit. Als Uefa-Präsident Michel Platini vor einiger Zeit da gewesen sei, habe er sich in die Baugrube stürzen wollen, da er dachte, man schaffe es nie bis zum Beginn der EM, sagt Bürgermeister Sadovy, der neben dem Tourismus einen IT-Cluster hochzieht, der für westliche Konzerne fertigt und an der Produktion der jüngsten James-Bond-Filme mitwirkte. „Wir brauchen lange zum Einspannen der Pferde, aber wenn wir losfahren, sind wir nicht mehr zu halten“, zitiert er ein altes Sprichwort.
Arzumanjan erinnert indes an eine andere Grundhaltung der Stadt: die Freiheit. „Machthaber hat man hier nie geliebt. Damit muss jede Staatsmacht rechnen.“

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