Jetzt wird wieder geträumt. „Three Lions“ haben nach dem glücklichen Sieg über die Ukraine neuen Mut gefasst. Viertelfinalgegner Italien scheint wieder schlagbar.
Donezk/Ag/Sb. „Bringt uns Italien!“, „Der Riese ist zurück.“ Die englischen Tageszeitungen konnten am Tag nach dem glücklichen 1:0-Sieg der „Three Lions“ über die Ukraine das EM-Viertelfinale gar nicht mehr erwarten. Bislang waren große Töne auf der Insel ausgeblieben. Die schmerzlichen Erfahrungen der letzten Turniere waren noch zu frisch im Gedächtnis für Träumereien: Die Europameisterschaft 2008 durfte England nur vor dem Fernseher verfolgen, die Weltmeisterschaft 2010 endete in einem 1:4-Debakel im Achtelfinale gegen Deutschland. Auch die zahlreichen Verletzungen von Schlüsselspielern wie etwa Frank Lampard, Gareth Barry und Gary Cahill hielten die Erwartungen in England auf einem ungewohnt niedrigen Niveau.
Jetzt wird wieder geträumt. Der Traum ist seit fast 50 Jahren der gleiche. Endlich den zweite Titel nach dem WM-Triumph im eigenen Land 1966 zu gewinnen.
Hodgson versprüht Optimismus
Inzwischen ist der Glaube des jungen Teams an die eigene Stärke so groß geworden, dass auch ein Viertelfinalsieg über die Italiener möglich scheint. „Wir wollen dieses Turnier so lange wie möglich genießen und so gut wie möglich spielen – wer weiß, wie weit uns das bringen kann?“, meinte Teamchef Roy Hodgson, der nach dem fünften Spiel seit seinem Amtsantritt weiter ohne Niederlage (vier Siege, ein Remis) ist.
Dank des Gruppensieges blieb England auch das gefürchtete Duell mit Titelverteidiger Spanien vorerst erspart, erst im Finale könnte es zu diesem Aufeinandertreffen kommen. „Italien wird aber genauso schwer wie Spanien, das ist die K.-o.-Phase“, betonte Innenverteidiger Joleon Lescott von Manchester City.
Die Hoffnungen sind eng mit einer Person verknüpft, die beim Lokalrivalen Lescotts ihr gutes Geld verdient: Wayne Rooney, der nach dem Ablauf seiner Rotsperre aus der Qualifikation in seinem ersten EM-Spiel 2012 gleich zum Matchwinner wurde. Und das, obwohl dem Manchester-United-Stürmer die fehlende Matchpraxis deutlich anzumerken war. „So gut habe ich mich noch nie nach einem Tor für England gefühlt“, betonte Goldtorschütze Rooney nach dem Sieg in Donezk. „Ich habe lange Zeit nicht mehr in einem Turnier getroffen, und es gab so viel Gerede über mein Comeback vor diesem Spiel.“
Rooney beendet Durststrecke
Vor acht Jahren bei der Europameisterschaft in Portugal, wo sein Stern aufgegangen war, durfte Rooney seinen bisher letzten Teamtreffer bei einem großen Turnier bejubeln. 673 Minuten musste er auf dieses Erfolgserlebnis warten, seit dem 4:2-EM-Erfolg am 21.Juni in Lissabon gegen Kroatien hatte er nicht mehr getroffen. Die Erleichterung war nun so groß, dass der bullige, 1,78 Meter große Stürmer – ein Jahr nach seiner Haartransplantation – beim Torjubel in der 48. Minute scherzhaft die Nutzung von Haarspray andeutete.
Weder die über lange Strecken schwache Leistung gegen aufopferungsvoll kämpfende Gastgeber, noch die klare Fehlentscheidung beim nicht gegebenen Tor für die Ukraine konnten Rooneys Freude schmälern. „Jeder sagt, dass der Ball hinter der Linie war“, meinte Rooney zum vermeintlichen Ausgleich von Marko Dević (siehe Seite 16), „aber es war an der Zeit, dass wir auch einmal ein bisschen Glück haben.“
Rooneys Kopfballabstauber aus knapp einem Meter macht den Engländern zusätzlichen Mut. „Er wird mit jedem Spiel stärker, bekommt mehr Selbstvertrauen. Er ist so wichtig für uns“, pries ihn etwa Steven Gerrard. Lob gab es auch von Hodgson, der davon sprach, dass Rooney Charakter gezeigt habe: „Wir kennen seine Qualitäten. Diese 80 Minuten heute werden ihm erlauben, das nächste Spiel mit noch mehr Zuversicht anzugehen.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.06.2012)