Hoffen auf das grün-gelbe Wunder

FUSSBALL - FIFA WM 2014, Vorschau
FUSSBALL - FIFA WM 2014, Vorschau(c) GEPA pictures (GEPA pictures/ Fotoarena)
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In eineinhalb Wochen wird in São Paulo die Fußball-WM angepfiffen. Euphorie sieht aber anders aus, gejubelt wird derzeit nur im Werbefernsehen. Über Korruption, Baustellen und explodierende Grundstückspreise.

Erst mal ist keiner da. Dieser Besuch beginnt in einer Warteschlange, die sich nicht bewegt. Die Maschine landete pünktlich um 13.45 Uhr, doch die Kontrollkabinen der Migrationsbehörde sind unbesetzt. 20 Minuten lang bleiben diese Posten verwaist, es reihen sich weitere Ankömmlinge ein, sonst passiert nichts. Erst um 14.15 Uhr kehren die Beamten in aller Ruhe zurück, fahren die Computer hoch und nehmen nach und nach ihren Job auf. Selbst schuld, wer zur Mittagszeit ins Land der Fußball-WM reist.

Willkommen in Brasilien, dem Land der Ballzauberer, willkommen in Guarulhos, dem größten Airport des Landes, willkommen in São Paulo, der mächtigsten Metropole Südamerikas, wo in eineinhalb Wochen der Anpfiff stattfinden soll zu jener Weltmeisterschaft, die der Mehrheit der Brasilianer ziemlich gestohlen bleiben kann. Das besagen die Umfragen. Und das werden auch fast alle Leute sagen, die wir treffen auf dieser Visite wenige Wochen vor dem Kick-off.

Die Mittagszeit erweist sich dann doch noch als gutes Timing, denn die Marginal Tieté ist frei, die 20 Kilometer ins Zentrum schaffen wir binnen einer halben Stunde. Wenn sich die zweimal-neun-spurige Stadtautobahn füllt, dann kann diese Tour zwei Stunden dauern oder auch drei, wenn es noch dazu regnet.

Dieses Jahr blieb der Regen in der Region fast aus, anstelle der viel besungenen „Aguas de Março“ fielen nur ein paar Tropfen. Mitte Mai waren deshalb die Pegelstände des städtischen Wasserreservoirs auf alarmierende acht Prozent gesunken. Um Rationierungen während der WM und der darauf folgenden Wahlkampfzeit zu vermeiden, zapften die Behörden darum erstmals in der Geschichte unterirdische Reserven an. „Das bedeutet: Jetzt duschen und dann beten, dass nicht noch eine Regenzeit ausfällt“, scherzt mein langjähriger Bekannter Thomas, der die 20-Millionen-Metropole seit zwölf Jahren aus dem Blickwinkel deutscher Unternehmen erlebt und erleidet.

Wir treffen einander in einem Café auf einem Platz in der vergilbten Innenstadt, deren alte Wolkenkratzer noch das Fortschrittsversprechen jenes Brasiliens verkörpern, in dem der Wiener Emigrant Stefan Zweig 1940 ankam. Er beschrieb es als „das Land der Zukunft“. Bei unserem letzten Treffen war Thomas noch voller Optimismus, dass Brasilien endlich zum Land des Augenblicks geworden sei, wie eigentlich alle aus der großen deutschen Business-Gemeinde hier.

Damals sprachen wir über die neuen Fabriken deutscher Luxusauto-Bauer, die Chancen durch das Wachstumsbeschleunigungsprogramm PAC, die kometenhafte Karriere des deutschstämmigen Multis Eike Batista. Heute, wo dessen abgestürzte Ölfirma ihren Gläubigern einen Rückzahlungsplan über 25 Jahre anbietet, wo die Halden von Volkswagen bis auf den letzten Parkplatz voller unverkaufter Neuwagen stehen, wo die Banken jeden zweiten Autokreditantrag ablehnen, sagt mein Gesprächspartner: „Ich werde das jetzt freundlich ausdrücken: Die Stimmung ist sehr, sehr durchwachsen.“ Und die WM? „Na, schau' dich um!“

Gut, ab in die U-Bahn, Linie 3, Richtung „Itaquera Corinthians“, so heißt die neue Endhaltestelle 15 Kilometer im Osten. Schon bald wird die Untergrund- zur Hochbahn, was den Blick öffnet auf eine Szenerie, die einem Film von Tarkowski als Kulisse hätte dienen können. Offene Kanäle, Brücken, Bahnanlagen in Beton, Kabelstränge, Schienengewirr, aus deren Mitte neue Wohntürme aufragen. 20-stöckige Sozialbauten, gestaltet mit der Formfreude sozialistischer Plattenbauten. In der Ostzone von São Paulo wohnen fünf Millionen Menschen, zur Hälfte unter, zur anderen gerade über der Armutsgrenze.

Hier siedelt die von den Wirtschaftsleuten einst gefeierte „C-Klasse“ aus jenen Menschen, die – dank der Fördergelder der Regierungen Lula und Dilma – der Armut entrinnen konnte. Und die nun – vielfach verschuldet – riskieren, in die Armut zurückzurutschen. 291 Favelas gibt es in diesem Teil der Stadt, wo das durchschnittliche Familieneinkommen bei etwa 1900 Reals liegt, das sind etwa 620 Euro. Hier im tristen Osten lässt die evangelikale „Universalkirche des Königreichs Gottes“ gerade eine 70 Meter hohe und 200 Millionen Euro teure Replik des Salomontempels aus Jerusalem hinstellen und hier wird, zwischen armen Vierteln und Armenvierteln, immer noch am – zwischenzeitlichen – Mittelpunkt der Welt gebaut.

Schon bei der Einfahrt in den Endbahnhof gewahrt man sie rechter Hand: die silbrig schimmernde „Arena Corinthians“. Auf einem Höhenzug wirkt das metallisch glänzende Bauwerk in der Nachmittagssonne wie ein gigantisches Raumschiff, das just auf dem einzigen freien Hügel der Gegend gelandet ist. (Natürlich war der Hügel nicht frei, seine bisherigen Bewohner wurden umgesiedelt, es gab dabei unschöne Szenen.)

Doch nun ist das Stadion, in dem am 12. Juni erst Jennifer Lopez und dann Brasiliens Seleção die WM eröffnen sollen, endlich beinahe fertig. Auf der Brücke, die den Bahnhof mit dem Stadionvorplatz verbindet, wird der Fußboden geteert, einen Stock tiefer asphaltieren Bautrupps den Busbahnhof und verursachen damit einen jener infernalischen Staus, die in jedem São-Paulo-Bericht vorkommen müssen.

An den Hang unterhalb des Stadions legten Gärtner Bäume ab, die noch ihrer Pflanzung harren, und oben entsteht aus weißen Plastikbahnen eine Zeltstadt für Presse und Prominenz. Burschen in Baseball-Jacken verteilen Flyer, die Freuden in stadionnahen Etablissements versprechen, bebildert sind diese Zettel mit dem Lageplan und einer Sexbombe samt allen Attributen.

„Tudo bem“ im Stadion.
Vor dem Stadion lehnen drei Arbeiter an einem Kipplaster und paffen ihre Feierabendzigaretten. João, Sérgio und Moacyr haben ihren Beitrag zur Fußball-WM geleistet, der Sektor, den ihre Firma betonieren musste, ist soeben getrocknet: „Tudo bem“, sagt João, alles klar. Und, werden sie auch im Stadion sein, wenn dann dort der Ball rollt? „Das kann ich mir niemals leisten. Wir drei hier verdienen etwas mehr als den gesetzlichen Mindestlohn.“ Der liegt bei 724 Reals, umgerechnet etwa 240 Euro. „Die WM ist doch nur was für Reiche, Firmen und die Fifa-Fatzkes.“ Und wer wird die WM gewinnen? „Deutschland vielleicht, oder Spanien“, sagt João, der brasilianische Bauarbeiter. Und Brasilien? „Naja, vielleicht auch Brasilien.“

Aber eigentlich gibt es für die drei Männer andere Probleme. Wirtschaftsboom und die Baukredite haben den Wohnungsmarkt explodieren lassen, seit 2008 haben sich die Immobilienwerte in São Paulo verdreifacht. Und hier im armen Osten hat der Bau der Arena samt U-Bahnanschluss die Grundstückspreise in die Höhe gejagt. „Ich habe meine eigene Bleibe“, sagt João, „aber bei uns im Viertel gibt es viele Leute, die ihre Miete nicht mehr zahlen können.“

Solche Leute trifft man drei Kilometer südlich vom neuen Zentrum der Welt. Auch an dieser Baustelle wird noch gearbeitet. Doch wird hier kein Stahl verbaut, sondern Holz, und vor allem Plastikbahnen. Anfang Mai besetzte die „Bewegung der Arbeiter ohne Obdach“ einen Baugrund, auf dem eigentlich Wohntürme für die Mittelklasse entstehen sollten. Nun stehen dort Unterstände, Zelte, Verschlage für die Verlierer von Brasiliens Boom.

Vier Holzpfosten, ein Dach aus schwarzen Plastikplanen, der Fußboden aus gestampfter Erde, so sieht das neue Haus von Maria Ivette dos Santos Dias aus. „Heute kann man sich nicht mal mehr die Favela leisten“, sagt die 49-Jährige, die mit ihrer Tochter und vier Enkeln hierher kam. Die zwei Zimmer, die die beiden Frauen und vier Kinder mit drei Untermietern teilen mussten, wurden voriges Jahr um fast das Doppelte teurer, von 200 auf 350 Reals. „Das ist die Hälfte des Verdiensts meiner Tochter“, sagt die Großmutter, die wie alle der inzwischen 4000 Familien hofft, dass Stadt und Staat, die so viel für die WM ausgaben, ihnen bezahlbaren Wohnraum errichte. „Es ist doch absurd, dass der Staat Millionen für ein Stadion ausgibt und damit den Leuten das Obdach nimmt. Die Fußball-WM hier hat uns alles genommen und nichts gebracht!“


Freude im Werbe-TV. Später gibt es dann doch noch Menschen zu sehen, die sich mächtig auf die WM freuen: im Werbefernsehen. Dort tanzen Schönheiten Samba mit grün-gelbem Firlefanz über brauner Haut, und halbnackte Kraftprotze lassen ihre Sixpacks zucken. Ständig fliegen Bälle durchs Bild. Man sieht Straßen, angepinselt in den Nationalfarben, und Fahnen überall. Star der Spots ist Nationaltrainer Luis Felipe Scolari. Die sportliche Bilanz des Weltmeistertrainers von 2002 ist sehr manierlich: 13 Siege in 14 Spielen. Doch etwas störend könnte die Kunde sein, dass Scolaris Werbejobs nun Steuerfahnder in vier Ländern beschäftigen. Ihm sollen in seiner Zeit als portugiesischer Nationaltrainer zwischen 2004 und 2008 Honorare auf Konten in Übersee überwiesen worden sein, von sieben Millionen unversteuerten Euro ist die Rede.

Die Nachrichten zwischen den Werbespots zeigen ein anderes Land: In der heißen Hafenstadt Recife streikt die Polizei, es häufen sich Morde und Plünderungen. In Rio lassen die Busfahrer ihre Vehikel in den Depots und legen so die Stadt lahm. In São Paulo streiken die Lehrer, für mehr Investitionen in ihren Klassenzimmern. Und gegen jenes Spektakel, von dem sich die Fifa nach eigenen Berechnungen zwei Milliarden Dollar Gewinn verspricht.

„F-I-F-A G-O H-O-M-E.“ Zehn schwarze Tafeln liegen auf dem Boden, jede zeigt einen rosafarbenen Buchstaben. Um fünf Uhr greifen sich zehn junge Leute die Buchstaben, denn um fünf Uhr beginnt das, was die Organisatoren den ersten „Superdonnerstag“ getauft haben. Die Demo im Zentrum São Paulos war auf allen Kanälen angekündigt worden, via TV, Zeitungen, Facebook und Twitter. Eingefunden haben sich ein paar Hippies, studentische Basisgruppen, Trotzkisten, Chavisten und andere -isten in roten Hemden samt Revolutionssymbolen. Manche verteilen Flugblätter mit dem Motto der Protestbewegung: „Não vai ter Copa“. Es wird keine WM geben. Ein Skelett wird herumgetragen, den Leib bedeckt eine Canarinha, das brasilianische Nationaltrikot, über dem Totenschädel halten dünne Armknochen den WM-Pokal hoch. An den Straßenrändern nimmt die Militärpolizei Aufstellung.

Stehen Massendemos an? Viele der jungen Leute bekommen hier Medienerfahrung, weil es von Reportern nur so wimmelt. Die Redaktionen daheim wollen wissen, ob die Copa wirklich in Gefahr ist, ob wieder Massendemonstrationen anstehen. Zumindest dieser Abend kann diese Fragen nicht beantworten. Zwei Stunden warten die Organisatoren, ehe sie den Marsch in Bewegung setzen. Mit Trommelwirbel, Fanfaren und Sprechchören gegen korrupte Politiker und Fifa-Funktionäre geht es friedlich und beseelt die Avenida Consolação bergab. Doch schon nach zehn Minuten schallt der erste laute Knall. Dann noch zwei weitere. Die Demonstranten streben auseinander, eine dichte Tränengaswolke zieht die Avenida empor. Die meisten Protestierer verziehen sich in die Querstraßen. Ein paar vermummte Gestalten werfen Steine auf Polizisten und Fensterscheiben.

Diese Bilder werden tags drauf im Fernsehen laufen, sie werden Proteste mit Gewalt in Verbindung bringen. Sie werden bewirken, dass normale Menschen Angst bekommen, gegen die Korruption und Verschwendung zu marschieren. Längst häufen sich Berichte, dass infiltrierte Agenten für die Gewaltakte verantwortlich sind. An der Demo durch São Paulo wolle die Mittelklasse nicht mehr teilnehmen. Das, so berichteten die Zeitungen später, sei mit Erleichterung aufgenommen worden.

Die Copa, die keiner will, kann kommen.

Fakten

Am 12. Juni wird die 20. Fußball-WM in der „Arena Corinthians“in São Paulo eröffnet: Erst findet eine große Samba-Show statt, dann spielt Brasiliens Seleção gegen Kroatien.

Zum zweiten Mal ist Brasilien nach 1950 das Gastgeberland.

64 Matches werden insgesamt gespielt, Titelverteidiger ist der Weltmeister von 2010, Spanien.

Am 13. Juli findet das Finale in Rio de Janeiro statt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 01.06.2014)

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