England: Selbst im Fußball blüht der Londoner Osten

Kevin Nolan celebrates Andy Carroll of West Ham United´s second goal against Swansea City during their English Premier League soccer match at Upton Park in London
Kevin Nolan celebrates Andy Carroll of West Ham United´s second goal against Swansea City during their English Premier League soccer match at Upton Park in London(c) REUTERS (EDDIE KEOGH)
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Ham United vollzieht in dieser Saison einen Wandel und erlebt als Tabellenvierter ein ungeahntes Hoch. Die Mannschaft von Allardyce überrascht nicht nur mit Resultaten, sondern auch mit ihrem attraktiven Spiel.

London. Wer ein echter Londoner Fußballfan ist, drückt die Daumen nicht für einen neureichen (Chelsea) oder prätentiösen (Arsenal) Klub, sondern für eine bodenständige Truppe mit jeder Menge raubeiniger Tradition wie West Ham United, Millwall oder Leyton Orient. Für Anhänger dieser Vereine ist das Leiden mit dem wechselnden Glück ihrer Lieblinge Ehrensache. Umso willkommener sind da seltene Augenblicke des Hochgefühls, wie sie dieser Tage West Ham United erlebt: Nach 16 Runden belegen die Ostlondoner mit dem vierten Tabellenplatz ihre beste Platzierung seit mehr als 15 Jahren. Weitere Siege sind gewiss. Am Samstag empfangen sie Leicester City, den Tabellenletzten.

Dabei überrascht die Mannschaft von Manager Sam Allardyce nicht nur mit ihren Ergebnissen, sondern auch mit attraktiver Spielweise. Mit 26 Toren hat West Ham bereits doppelt so viele Tore geschossen als zum selben Zeitpunkt vor einem Jahr. Auch die Erfolgsliste der „Irons“ ist beachtlich: Darauf stehen in dieser Premier-League-Saison schon umjubelte Heimsiege gegen Meister Manchester City (2:1) und Liverpool (3:1).

Stehaufmännchen „Big Sam“

Der Siegeszug schmeckt den Fans im Ostlondoner Boleyn Ground, wo seit 1904 ununterbrochen die Heimspiele der „Hammers“ ausgetragen werden, umso süßer, wenn sie auf das Jammertal der vergangenen Saison zurückblicken. Vor genau einem Jahr wurde West Ham im FA-Cup von der Zweitligamannschaft Nottingham Forest mit 0:5 verprügelt, ehe es beim nachfolgenden Meisterschaftsspiel gegen ManCity mit 0:6 eine noch höhere Schlappe setzte.

Die Tage von Manager Allardyce („Big Sam“) schienen mehr als gezählt. Selbst nachdem im Mai mit viel Blut, Schweiß und Tränen der Klassenerhalt in der Premier League doch noch geschafft worden war, ließ die Kritik an dem Trainer nicht nach. Fans bezeichneten ihn auf Transparenten als „Totengräber unseres Vereins“ und warfen ihm eine veraltete Fußballphilosophie in der Tradition des schlechten, alten englischen „Kick and Rush“ vor.

Diese Zeiten sind vorbei, und es zeigt, wie sehr der Profifußball vom schnellen Wandel geprägt ist. Denn just dieselben Fans preisen „Big Sam“ nun als taktisches Genie. „Allardyce ist ein Trainer im Stil von Alex Ferguson oder José Mourinho in dem Sinn, dass er die Spielanlage dem Gegner anpasst und weiß, wie man sie besiegt“, pries ihn etwa der ehemalige Arsenal-Verteidiger Martin Kweon. Das scheint eine sehr ambitionierte Ehrenbezeugung, bedenkt man, dass der 60-Jährige noch nie einen Titel gewonnen hat und seine Qualifikation bisher immer darin gesehen wurde, kleinere Klubs wie Bolton oder Blackburn vor dem Abstieg zu bewahren.

Aber unbestritten ist: Noch nie in den vergangenen 20 Jahren hat West Ham so attraktiven und variantenreichen Fußball gespielt: „Wir haben nicht nur einen Plan A. Wir haben jetzt einen Plan B, Plan C und Plan D“, sagt der spanische Tormann Adrian.

Biotop im rauen East End

Dafür hat „Big Sam“ nach dem vielleicht besten Transfersommer aller Vereine erstmals in seiner West-Ham-Karriere, die 2011 begann, offenbar auch die richtigen Spieler: Die Stürmer Enner Valencia und Diafra Sakho kosteten zusammen nicht mehr als 15 Millionen Pfund (19 Mio. €), was vermutlich billiger ist als der Wert der Autos auf dem Spielerparkplatz von Manchester City.

Sie erwiesen sich als Volltreffer. Die Leihspieler Carl Jenkinson und Alex Song sind das Um und Auf der Mannschaft, Stürmer Andy Carroll feierte zuletzt mit zwei Toren und einem Assist ein glanzvolles Comeback nach mehr als einem Jahr Verletzungspause.

Angesichts der Londoner Rivalität freut die Fans der „Hammers“, deren Klub 1895 als Thames Ironworks FC gegründet worden ist, besonders, dass mit Jenkinson und Song zwei ehemalige Arsenal-Spieler in ihren Reihen aufblühen. Traditionell war es meist umgekehrt: Mit Spielern wie Rio Ferdinand, Joe Cole oder Frank Lampard brachte West Ham Talente hervor, die anderswo zur Entfaltung kamen. Nur Klublegende Bobby Moore, Kapitän der englischen Weltmeistermannschaft von 1966, blieb den Ostlondonern stets erhalten.

Das raue und (bisher) gentrifizierungsresistente Umfeld des tiefen Londoner East End ist auch das Biotop für einen vergleichsweise ungeschliffenen Charakter wie Allardyce. Wenn er von seinem Vater spricht, sagt er „the old man“, seine Frau bezeichnet er als „the missus“ und seinem Stürmer Carroll ruft er ein väterliches „my son“ zu. Über sich selbst sagt er: „Mein Vorteil ist, dass ich seit zwanzig Jahren Manager und seit dreizehn Jahren in der Premier League bin. Da wirft mich nichts mehr aus der Bahn.“ Seinen Spielern sagt er: „Zuerst kommt Disziplin. Das hat mich mein Vater gelehrt.“

Die Ziele von West Ham United sind mittlerweile vom schlichten Klassenerhalt zur Qualifikation für einen internationalen Bewerb erhöht worden. „Wir müssen versuchen, unser Niveau zu halten“, sagt Allardyce. Mindestanforderung der Vereinsführung ist aber, dass die „Hammers“ bei der Übersiedlung ins Londoner Olympia-Stadion 2016 weiter in der obersten Liga mitmischen. Das mag bescheiden klingen, ist aber langjähriger leidvoller Erfahrung geschuldet. Frank Lampard sr., Vater der Spielerlegende und selbst Exspieler des Vereins, sagte einmal: „West Ham United geht schneller hinunter als die Weihnachtsdekoration vom Christbaum.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.12.2014)

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