Mailand: Der Niedergang einer Fußballmetropole

AC Milan's supporters seat on tribune to draw word Basta, before Italian Serie A soccer match against Genoa
AC Milan's supporters seat on tribune to draw word Basta, before Italian Serie A soccer match against Genoa REUTERS
  • Drucken

Von der Grandezza früherer Zeiten ist in der einstigen Fußballhauptstadt Mailand nur wenig übrig. Milan und Inter sind gefallene Größen, die Misere in Mailand plagt die Serie A.

Die Fans der Rossoneri sind mit ihrer Geduld am Ende. Sie formierten sich in der Südkurve des Giuseppe-Meazza-Stadions zu einem riesengroßen „Basta“. Dann wurde die eigene Mannschaft ausgepfiffen. Der Grund: Der AC Milan spielt eine Katastrophensaison – und das, obwohl die vorherige Saison mit dem achten Ligaplatz schon eine der enttäuschendsten in der jüngeren Vereinsgeschichte war. Nach einem 0:3-Debakel bei Napoli und fünf Spielen ohne Sieg war Milan nur noch Mittelmaß in der Tabelle.

Auch beim zweiten großen Mailänder Traditionsklub Inter sieht es nicht besser aus. Vier Runden vor Saisonende liegen die Nerazzurri immerhin vor dem Stadtrivalen auf Rang acht. Das jüngste Derby della Madonnina, benannt nach der Madonnenstatue auf der Turmspitze des Mailänder Doms, endete vor drei Wochen unspektakulär mit 0:0.

Natürlich stehen die heruntergewirtschafteten Mailänder Klubs für die noch lang nicht überstandene Krise des italienischen Klubfußballs. Es ist eine Krise der veralteten Stadien, des Hooligan-Terrors und eines reformunfähigen Verbandes. Und dennoch sorgen italienische Klubs aktuell in Europa für Furore. Juventus Turin ist wieder in die europäische Spitze vorgedrungen, hat im Halbfinalhinspiel der Champions League Real Madrid besiegt und gute Chancen auf das Finale. In der Europa League ist ein rein italienisches Endspiel noch denkbar, Napoli (1:1 gegen Dnjepr) und Florenz (0:3 gegen Sevilla) sind unter den letzten vier. Hinter Spanien sammelten italienische Klubs in dieser Saison die meisten Punkte in der Uefa-Länderwertung.


Abgehalfterte Stars. Milan und Inter hatten damit nichts zu tun. Inter scheiterte im Achtelfinale der Europa League chancenlos an Wolfsburg, Milan war international gar nicht dabei. Tatsächlich ist Mailand die einzige Stadt, die zwei Champions-League-Sieger beheimatet, doch an die Königsklasse denkt in der norditalienischen Metropole derzeit niemand. Inter kann sich noch für die Europa League qualifizieren, Milans Chancen dafür existieren nur noch auf dem Papier. Nächste Saison droht ein Europacup ohne Mailänder Beteiligung. Das gab es erst einmal, in der Saison 1956/57.

Auch national ist die einstige Fußballhauptstadt des Landes nicht mehr von Bedeutung. Gegen den Alleinherrscher Juventus ist man machtlos. Die Turiner haben bereits ihren vierten Scudetto, den italienischen Meistertitel, in Folge fixiert. Addiert man die jeweiligen Städtevertreter der Serie A, hat Mailand weniger Punkte als die Vertreter aus Turin, Rom und Genua.

Milan-Trainer Filippo Inzaghi wirkt geschockt. „Es fällt schwer zu verstehen, was passiert“, gab er zu. Nach einer Niederlage gegen Udinese und einem Krach im Mannschaftsbus verordnete der ratlose Trainer einen „ritiro“, ein Straftrainingslager mit Ausgangssperre auf unbestimmte Zeit. „Wir müssen die Saison mit Würde beenden“, meinte Inzaghi. Spätestens dann wird er wohl ersetzt werden.

Inzaghi ist nicht der erste ehemalige Milan-Spieler, der an einer vorschnell in Angriff genommenen Trainerkarriere scheitert. Nach der erfolgreichen Ära von Carlo Ancelotti (2001–2009) blieben auch die beiden Jungtrainer Leonardo und Clarence Seedorf weit unter den Erwartungen. Gelernt hat man daraus offenbar nicht. Nur eine Saison mit der U16, eine weitere mit der U19 und einen Trainerschnellkurs benötigte Inzaghi, um einen der traditionsreichsten Klubs in Europa zu übernehmen.

Seinem Inter-Pendant, Roberto Mancini, wie Inzaghi einst Nationalteamstürmer, droht ebenfalls der Rauswurf. Inter hat seit 2010 acht Trainer verbraucht. Damals gelang unter José Mourinho mit Ergebnisfußball und altitalienischem Beton das historische Triple aus Meisterschaft, Cup und Champions League. Im Finale besiegte Inter den FC Bayern mit 2:0.

Parallel zur sportlichen Misere rutschten die Mailänder Klubs im jährlichen Deloitte-Umsatz-Ranking rasant ab. Vor zehn Jahren lag Milan noch an der dritten Stelle, 2015 mit 250 Millionen Euro Jahresumsatz nur noch auf Platz zwölf. Inter bleibt mit 164 Millionen nur der 17. Rang. Zum Vergleich: Die Nummer eins, Real Madrid, setzt 550 Millionen um. Die Klubs haben mit ihren finanziellen Ressourcen auch ihre Identität verloren. Unter Ancelotti galt Milan von 2003 bis 2007 als die wahrscheinlich beste Mannschaft Europas, der Serienmeister Inter (2006 bis 2010) dominierte die Liga wie kaum eine Mannschaft zuvor. Dann verschwanden die Stars aus Mailand.


Schaulaufen und Catenaccio. Kaka, Thiago Silva, Ronaldinho, Robinho, Shevchenko, Samuel Eto'o und Luis Figo konnten nicht ersetzt werden. Ronaldo, Zlatan Ibrahimović, Mario Balotelli und der großartige Andrea Pirlo spielten sogar für beide Klubs. Talente wie Pato oder Stephan El Shaarawy sollten bei Milan zu Weltstars reifen, endeten aber als „Bankdrücker“. In der Saison 2008/09 gaben beide Vereine noch 128 Millionen Euro für Transfers aus, 2014 nur noch 25 Millionen. Heute bestehen die Kader der Mailänder großteils aus vermeintlichen oder tatsächlich abgehalfterten Stars.

Sandro Mazzola gilt noch heute als einer der Besten, die je für Inter gespielt haben. Er war Teil von La Grande Inter, jener Ära von Präsident Angelo Moratti in den Sechzigern, in der die Nerazzurri mit dem Catenaccio von Helenio Herrera ihre erfolgreichste Zeit erlebten. Heute stellt sich die Inter-Legende vor die Trainer Mancini und Inzaghi. „Wenn die Spieler nicht spielen können, kann der Trainer nichts machen“, sagte Mazzola und bescheinigte den beiden Kadern nur Mittelmaß. Auf den Punkt brachte es Alessandro Nesta, einer der besten Innenverteidiger aller Zeiten. Auf die Frage, wie viele Klassen zwischen seinem Milan (2002–2012) und der aktuellen Mannschaft liegen würden, meinte er: „Darauf kann ich nicht antworten, es wäre zu verletzend.“ Und so bleiben auch die Zuschauer aus. Das einst in Europa berüchtigte Giuseppe-Meazza-Stadion, die Heimstätte beider Klubs mit 81.000 Plätzen, ist zu einer verlassenen Ruine verkommen. Milan verzeichnete in dieser Saison einen Minusrekord bei den Jahreskarten (19.405), Inter nannte erst gar keine Zahlen.

Auch die Präsenz von Milan-Präsident Silvio Berlusconi im San Siro, so der frühere Name des Stadions, nimmt ab. Lieber schickt er seinen bei den Fans unbeliebten Geschäftsführer Adriano Galliani. Inters indonesischer Besitzer, Erick Thohir, zeigt sich ohnehin selten in der Stadt.

Weil vom Glanz des Mailänder Calcio wenig übrig ist, will Berlusconi seine frühere Wahlkampfmaschine Milan loswerden. Wegen eines Rekordverlustes im Jahr 2014 von 91 Millionen Euro und eines Schuldenbergs von 247 Millionen Euro würde sich der Verkauf außerdem in die Umstrukturierung von Berlusconis Medienimperium Fininvest mit seiner Tochter Marina an der Spitze einordnen. Der ehemalige italienische Regierungschef verhandelt parallel mit Bee Taechaubol und Richard Lee, zwei Unternehmern aus Thailand und Hongkong, hinter denen wiederum Partner in Abu Dhabi und chinesische Konzerne stecken.


Eine Herzensangelegenheit. Die Ära des 78-jährigen Berlusconi schien beendet, da verkündete er, doch Präsident bleiben zu wollen: „Milan ist eine Herzensangelegenheit. Ich werde 51 Prozent behalten.“ Er suche nur finanzielle Unterstützung, keinen Käufer. 1986 rettete Berlusconi Milan vor dem Bankrott. Weil er sich gern im Glanz des Erfolges präsentierte, war er auch bereit, Millionen zu investieren. Sein Ansehen stieg, er ging in die Politik und wurde Ministerpräsident. Nachdem er eine Strafe wegen Steuerbetrugs verbüßt hat, will er seine geschwächte Oppositionspartei Forza Italia für die Regionalwahlen am 31. Mai rüsten. Davor würde ein Verkauf des AC Milan kein gutes Bild abgeben. Gut möglich aber auch, dass Berlusconi nur Verhandlungstaktik betreibt. Die Erwartungen an neue Eigentümer sind in Mailand jedenfalls riesig.

Bei Inter hatte der Erdölmagnat Massimo Moratti, Sohn von Angelo Moratti, über eine Milliarde Euro Privatvermögen verpulvert. 2013 verkaufte er seine Mehrheit an Thohir. Die Folge war ein Sparkurs, der indonesische Geschäftsmann ist längst ein Feindbild der Fans. Doch Inters Formkurve zeigt ein klein wenig nach oben. Beobachter meinen, Thohir führe den Klub möglicherweise in die richtige Richtung. Doch auch vor über 100 Jahren war Inter schon einen Schritt voraus: Nachdem Milan 1899 gegründet worden war, spalteten sich 1908 einige Mitglieder ab. Sie waren verärgert, dass beim nationalistischen Verein nur Italiener spielen dürften. Ihr neu gegründeter Klub erhielt den Namen FC Internazionale Milano. Internazionale sollte für die Offenheit des Vereins stehen.

klub zu kaufen

Der FC Parma steht weiter zum Verkauf, noch ist kein verbindliches Angebot eingetroffen. Der Preis lag bei 20 Millionen Euro. Eine neue Versteigerung mit 25 Prozent Preisreduktion ist für Donnerstag geplant. Der norditalienische Traditionsverein hat Schulden in Millionenhöhe, die Spieler warten seit Monaten auf ihre Gehälter. Nur mithilfe der Liga kann Parma die Saison überhaupt beenden.

Il Presidente

Seit 29 Jahren
gehört der AC Milan Silvio Berlusconi, nun rückt ein Einstieg von Investoren näher.
Reuters

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.05.2015)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

ITALY SOCCER SERIE B
Fußball-International

Provinzklub Carpi lebt seinen Traum

Amateurliga, Konkurs, Neustart: Auf den erstmaligen Aufstieg ins Oberhaus mussten die Fans in Carpi lang warten. Ein Klub mit kleinem Budget und großer Vision.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.