Englands neuer Abwehrschreck: Der Torjäger mit der Fußfessel

Jamie Vardy
Jamie Vardy(c) APA/AFP/LINDSEY PARNABY
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Leicester City ist das Team der Stunde auf der Insel. Der Verein von ÖFB-Kapitän Fuchs führt die Liga vor den Großklubs aus Manchester und London an.

Leicester. Jamie Vardy ist kein typischer Fußballprofi des 21. Jahrhunderts. Er wurde nicht als Achtjähriger von Talentsuchern entdeckt, er genoss weder eine moderne Taktikausbildung noch wachten Sportwissenschaftler und Ernährungsberater über seine Entwicklung. Der 28-Jährige ist ein Fußballer jener Sorte, wie sie in England geliebt werden.

Mit 22 stürmte Vardy noch in der achten englischen Liga, arbeitete wie seine Teamkollegen in der Fabrik und machte die Pubs von Stocksbridge, einem Vorort von Sheffield, unsicher. Weil dort auch rauere Sitten herrschen, musste er nach einer Schlägerei für ein halbes Jahr eine Fußfessel tragen. Um den Hausarrest nicht zu verletzen, sprintete Vardy nicht selten schon nach der ersten Halbzeit nach Hause . . .

Dennoch traf er am laufenden Band. Für 200.000 Euro, das ist die Rekordsumme für einen Amateurspieler, wechselte er später zum Fünftligisten Fleetwood Town. Angeblich schoss er im ersten Training zwölf Tore. Leicester-Trainer Nigel Pearson holte Vardy schließlich in die zweite Liga. 1,24 Millionen Euro zahlte der Klub für einen Spieler aus der fünften Liga, der Aufschrei war groß.

Tatsächlich brauchte der Stürmer ein Jahr, um sich an das Niveau zu gewöhnen. Dann schoss er Leicester 2013/2014 mit 16 Toren zum Aufstieg, die Fans hatten einen neuen Liebling. Heuer gab er im Juni schließlich sein Nationalteam-Debüt.

Fuchs erarbeitet Stammplatz

Vardy ist das Gesicht des Höhenflugs von Leicester City. Nach 13 Spieltagen hat der Verein aus den Midlands die Tabellenführung vor den Großklubs aus Manchester und London übernommen. Beim 3:0-Auswärtserfolg in Newcastle hat Vardy zum zehnten Mal in Folge getroffen und den zwölf Jahre alten Premier-League-Rekord von Ruud van Nistelrooy egalisiert. „Du glaubst, dass jedes Mal etwas passieren kann, wenn er den Ball hat“, kommentierte Trainer Claudio Ranieri den Rekord und verglich Vardy gar mit dem Argentinier Gabriel Batistuta, einst sein Schützling in Florenz.

Im Sommer hat der 64-jährige Ranieri überraschend Pearson auf der Leicester-Trainerbank abgelöst. Immerhin hatte Pearson das Team ein Jahr zuvor in die Premier League geführt und die Saison auf Platz 14 beendet. Ranieri zu engagieren, war ein Alleingang von Klubeigentümer Vichai Srivaddhanaprabha: 2010 hat der Duty-Free-Milliardär und neuntreichste Mann Thailands den Klub übernommen. Vor einem Jahr sorgte er für Aufsehen, als nach einer Partie ein Helikopter mitten im King-Power-Stadion landete, um den Chef abzuholen.

Trotz des Mäzens wütet Leicester nicht auf dem Transfermarkt. Die Neuverpflichtungen sind nicht zu vergleichen mit dem Transferwahnsinn der Liga, Christian Fuchs kam im Sommer gar ablösefrei nach Leicester. Nach Startschwierigkeiten ist der ÖFB-Kapitän inzwischen Stammkraft, von den jüngsten sechs Ligapartien verpasste der Linksverteidiger nur eine verletzungsbedingt.

„Ein netter Junge“

Obwohl Ranieri und Vardy im Mittelpunkt stehen, basiert der Erfolg auf dem unter Pearson geformten starken Kollektiv. Schon kurz nach seiner Ankunft meinte Ranieri, noch nie zuvor eine solch „fantastische Einstellung“ erlebt zu haben. Der Italiener ist weit gereist, coachte über ein Dutzend Topklubs, darunter Juventus, Inter und Chelsea. „Wir geben niemals auf, kämpfen füreinander bis zum Ende, das macht sich bezahlt“, erklärt Stürmer Vardy.

Dennoch war nicht auszudenken, dass Leicester einmal die Premier League anführt. „Momentan sind wir oben. Aber ich will uns am Ende dort sehen“, sagte Ranieri. Vardy („Ein netter Junge“) habe sich übrigens nach seinem Rekord in der Kabine bei allen bedankt, erzählte der Coach. Topklubs hätten freilich angeklopft, man habe dankend abgelehnt. Wie einst die Verteidiger in der achten Liga zittern nun die millionenschweren Premier-League-Abwehrspieler vor dem Torjäger. (joe)

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.11.2015)

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