Die Definition des wahren Tottenham-Fans

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FBL-ENG-PR-TOTTENHAM-ARSENALAPA/AFP/IKIMAGES
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Während sich die Londoner Rivalen Tottenham und Arsenal gegenseitig das Leben schwer machen und "Spurs"-Anhänger ihren Hass auf "Gunners"-Anhänger pflegen, nähert sich Leicester City dem Titel in der Premier League.

Leichter hätte der Gewinn des ersten Meisterschaftstitels seit 2004 für Arsenal wirklich nicht fallen können. Die üblichen Konkurrenten, Chelsea, beide Manchester-Klubs und auch Liverpool, sind in der laufenden Saison weit entfernt von einer ernsten Ansage. Doch schwerer hätten es sich die „Gunners“ nicht machen können. Statt mit dem Titel davonzulaufen, müssen sie nach dem 2:2 im Nordlondoner Derby gegen Tottenham (Kevin Wimmer spielte durch) mittlerweile schön langsam auf ein Wunder hoffen.

Noch ist in der Premier League nichts entschieden, aber selbst vor dem Anpfiff gegen Watford blieb Leicester City, das Sensationsteam mit Christian Fuchs, an der Tabellenspitze. Nur noch neun Runden trennen die „Foxes“ von einer der größten Sensationen der englischen Fußballgeschichte. Vom vermeintlichen Fixabsteiger zum Meister – das ist mehr, als sich selbst die kühnsten Optimisten erhofft hatten. Zu Saisonbeginn boten Buchmacher für Leicester als Meister eine Quote von 5000:1 an. Und selbst Leicester-Manager Claudio Rainieri scheint sprachlos: „Wir wollen einfach weiter träumen.“


Hinter den Spurs? Gegen das Überraschungsteam aus den East Midlands den Titel zu verlieren, sollte für das Starensemble von Arsenal schon Schmach genug sein. Noch schlimmer aber ist für eingefleischte Fans, in der Londoner Hackordnung hinter den ewigen Rivalen Tottenham Hotspur zu rutschen. „Die Zeiten der Dominanz von Arsenal und Chelsea sind vorbei“, verkündete Tottenham-Verteidiger Kyle Walker zuletzt selbstbewusst.

Seinen Anteil daran hat auch Kevin Wimmer, der sich zuletzt zum Stammspieler mauserte. „Er ist ein sehr cleverer Spieler“, streut Manager Mauricio Pochettino dem 23-jährigen Oberösterreicher, den er im Sommer von Köln nach London geholt hatte, Rosen. „Er hat große Qualität und spielt mit großer Reife.“ Tottenham hat nicht nur die beste Verteidigung der Premier League mit den wenigsten Gegentreffern, die „Spurs“ stellen auch die jüngste Mannschaft. Sie läuft mehr als alle anderen Teams, macht die meisten Tacklings mit Ballgewinn und begeht die meisten Fouls.

Das ist die Handschrift von Manager Pochettino. Der Argentinier führte nicht nur ein gnadenloses Fitness- und Übungsregime ein – Wimmer berichtete am Anfang seines London-Abenteuers von „wirklich hartem Training“ –, er hat die Mannschaft mit hohem Pressing und rasantem Tempowechsel auch auf eine neue Ebene gehoben.


Revolution White Hart Lane. Von einer „Fußballrevolution“ an der White Hart Lane spricht etwa auch der Reporter Jeremy Wilson. Neben der Meisterschaft ist Tottenham auch noch in der Europa League engagiert. „Früher hat es als Saisonziel gereicht, vor Arsenal in der Tabelle zu liegen“, sagt der ehemalige „Spurs“-Manager Harry Redknapp, erinnernd an Jahrzehnte des klubinternen Minimalismus. „Das ist vorbei. Jetzt hat man den Titel im Auge“, fügt Redknapp hinzu. Es wäre der erste seit 55 Jahren.

So lang haben nicht einmal Chelsea und Manchester City, die sich ihren Aufschwung mit Oligarchen- und Ölmilliarden erkauften, warten müssen. Die gesamte Geschichte Tottenhams ist mehr auf Legende denn tatsächliche Siege gegründet. Zwei Meistertitel in der obersten Spielklasse seit der Vereinsgründung 1882 und acht Cupsiege sind nicht weltbewegend. Doch die Rivalität mit Arsenal (13 Meistertitel, zwölf Cupsiege) ist praktisch so alt wie die beiden Klubs selbst. Nur vier Meilen trennen ihre beiden Stadien; das einzige Mal in der Geschichte, dass Arsenal im Tottenham-Stadion Heimspiele austragen durfte, war während des Zweiten Weltkriegs.

Kein Derby ist Freundschaftssache, weltweit nicht. Egal ob Rapid gegen Austria. AC Milan gegen Inter Mailand. Dortmund gegen Schalke, derer gibt es sonder Zahl. Aber kaum eines wird mit so viel Erbitterung, Häme und Feindschaft bestritten wie Arsenal gegen Tottenham; von Fans wie von Spielern. Als Arsenal im Mai 2015 gegen Aston Villa den FA-Cup gewann, feierte Mittelfeldspieler Jack Wilshere mit den Massen, indem er rief: „Was denken wir über Tottenham?“ Zurück tönte es wohlgeübt: „Scheiße“. Darauf Wilshere: „Was denken wir über Scheiße?“ Die Masse erwiderte: „Tottenham“.

Die Abneigung beruht ganz auf Gegenseitigkeit, sie ist regelrecht ein Kulturgut geworden für beide Vereine und ihre Anhänger. Der Regisseur Theo Delaney sagt: „Ich verachte Arsenal. Ich hasse einfach alles an ihnen. Es ist geradezu die Definition des wahren Tottenham-Fans, dass er Arsenal hasst.“ Diese Feindschaft ist weder politisch noch ethnisch und nicht einmal recht soziologisch erklärbar: Zwar wurde Arsenal in den vergangenen 20 Jahren unter dem französischen Manager Arsene Wenger zum Lieblingsverein eines linksliberalen Milieus mit überdurchschnittlichem Einkommen und stolzem Selbstwertempfinden. Der klassische Arsenal-Fan ist auch von exakt demselben Schlag wie der klassische Tottenham-Fan und „pfeffert“ munter seine Sätze mit vierbuchstabigen Worten, die mit F beginnen und durchwegs nicht Foul lauten.


Vom Denkmal zur Mumie. Während die Saison in die Zielgerade einbiegt, machen sich unter den „Gunners“-Fans Sorge und Missmut breit. Man zahlt nicht gern Jahr für Jahr die höchsten Ticketpreise, die es dem Verein erlauben, auf 160 Millionen Pfund Cash zu sitzen, um ein aufs andere Mal zu den großen Verlierern der Liga zu gehören. Während die Konkurrenz bereits für das nächste Jahr aufrüstet – Manchester City holt Pep Guardiola, bei Chelsea wird Antonio Conte erwartet, bei Manchester United ist José Mourinho ante portas –, wird Wenger von den Fans immer heftiger infrage gestellt. Vom Denkmal zur Mumie ist es nicht mehr weit. Über dieses ewige Scheitern aber weiß der Schriftsteller und Arsenal-Anhänger Nick Hornby („Fever Pitch“): „Der natürliche Zustand des Fußballfans ist bittere Enttäuschung. Egal wie der Spielstand lautet.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2016)

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