Dem Feuerwerk folgten Raketen und Kugeln

Ukraine und Kiew verabschiedeten sich 2012 mit einem 4:0-Finalsieg der Spanier, einem grandiosen Feuerwerk – die Gegenwart sieht hingegen trist aus.
Ukraine und Kiew verabschiedeten sich 2012 mit einem 4:0-Finalsieg der Spanier, einem grandiosen Feuerwerk – die Gegenwart sieht hingegen trist aus.Reuters
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Der Gastgeber der Euro 2012 wird vom Konflikt mit Russland geplagt, Euphorie, Emotion und Aufbruchstimmung sind verhallt. Klubs und Spieler flüchten, Stadien stehen leer – das Fußballteam verkörpert aber weiterhin den Nationalstolz.

Kiew/Donzek. An die Frühsommertage, als britische, französische und spanische Fußballfans durch das Zentrum zogen, erinnern sich Bewohner von Donezk gern. Sie sind stolz, dass ihre ostukrainische Stadt einer der Austragungsorte der Euro 2012 war. Es war ein Fußballfest, mit Toren, lauter Siegern, Emotionen. Fotos erinnern daran, aber die Freude ist längst verflogen. Auch ist der EM-Tross nach Frankreich weitergezogen, zurück blieben Tristesse, Einschusslöcher und Raketen statt Feuerwerk.

Vor dem Startschuss der Euro 2012, die die frühere Sowjetrepublik mit Polen austrug, war die Großveranstaltung noch ein Streitthema gewesen. Viele zweifelten an der Fähigkeit der Ukraine, dieses Sportspektakel professionell austragen zu können. Es fehlte an allem: Hotels, Straßen, Stadien, Fremdsprachenkenntnissen. Die Regierung von Präsident Viktor Janukowitsch, international in der Kritik wegen ihres Vorgehens gegen Oppositionspolitiker, nutzte die Veranstaltung auf ihre Weise: Die Kosten explodierten. Letztendlich lief die Veranstaltung aber gut über die Bühne. Die Besucher schwärmten über die Fußballbegeisterung, das billige Bier, das Wetter.

Das EM-Stadion beschossen

Jetzt bestimmt der Konflikt in der Ostukraine, der im Frühsommer 2014 zwischen ukrainischer Armee und prorussischen Separatisten eskaliert ist und auch in Donezk ausgetragen wird, nicht nur die politische Landschaft, sondern hat auch den Fußball erschüttert. Direkt betroffen ist der FC Schachtjor, der in Donezk beheimatet war. Die Mannschaft musste fliehen, sie hat nun im westukrainischen Lwiw, dem ehemaligen Lemberg, eine neue Heimat gefunden – ausgerechnet im mitteleuropäisch geprägten Westteil des Landes, den Welten vom Kohlerevier Donbass trennen.

Mit der Mannschaft ist auch ihr Besitzer, Rinat Achmetow, nach Kiew abgewandert, weil es für den Oligarchen zu gefährlich geworden ist. Das Stadion, die Donbass-Arena, steht noch immer beinahe unberührt im Zentrum der Stadt. Viele vermuten, dass es – wie bei Achmetows Betrieben auch – Absprachen mit den neuen Lokalherrschern gibt. Denn anders als im Fall anderer Geschäftsleute ist sein Eigentum von den Separatisten nicht angetastet worden.

Der Ortwechsel hat Schachtjor als Mannschaft nicht geschadet: In der Saison 2015/16 ist der Klub Vizemeister geworden, Anfang Juni kam mit dem Portugiesen Paulo Fonseca ein neuer Trainer. Unfreiwillig sind dem Verein auch manche Fans nachgefolgt, in Lemberg haben sich mehrere tausend Binnenflüchtlinge aus dem Landesosten angesiedelt.

Diplomaten statt Touristen

Der Großteil der Investitionen im Zusammenhang mit der Euro 2012 betraf die Verbesserung der Infrastruktur: Straßen, Bahnlinien, Ausbau von Flughäfen. Während im Rest des Landes die Bevölkerung von der verbesserten Infrastruktur profitiert, sind im abtrünnigen Donbass diese Einrichtungen allesamt zerstört worden – insbesondere das Trümmerfeld anstelle des ehemaligen, teuer renovierten Flughafens erlangte internationale Berühmtheit. Hier verlief die Front, hier lieferten sich Separatisten und ukrainische Soldaten einen erbitterten Kampf, den die Separatisten im Jänner 2015 schließlich für sich entschieden. Andere Airports, die für die EM ausgebaut wurden und in Betrieb sind, sind nicht mehr vollständig ausgelastet. In Lwiw fliegt täglich nur eine Handvoll Flüge ab, der Airport Kiew ist wegen der gestrichenen Verbindungen nach Russland schwer in Mitleidenschaft gezogen. Touristen und Geschäftsleute bleiben aus, stattdessen kommen Diplomaten und NGO-Mitarbeiter, um das Land zu retten.

Dass nun ein Franzose in der Ukraine festgenommen wurde, der eine groß angelegte Anschlagserie geplant haben soll, passt ins Bild. Nur seine Motive, oder war es doch Waffenschmuggel, bleiben unklar.

Nationalteam als ganzer Stolz

Der Fußballbegeisterung und dem Nationalstolz hat der Konflikt hingegen nicht zugesetzt – im Gegenteil. Aktuell ist der Fußball, wie vieles andere auch, stark politisiert. In der Ukraine mehren sich kritische Stimmen, was die Austragung der WM in Russland 2018 betrifft. Da Russland für die Unterstützung der Separatisten verantwortlich gemacht wird, ziehen manche durchaus einen Boykott in Erwägung. Auch ukrainische Spieler, die als Legionäre in russischen Mannschaften spielen, stehen in der Kritik. So ist eine Debatte um den 30-jährigen Stürmer Jewhen Selesnjow entbrannt, der erst im Winter von Dnipro zum russischen Klub Kuban Krasnodar wechselte. Dass Selesnjow, der selbst aus dem Donbass stammt, sein Geld im „Feindesland“ verdient, stößt vielen sauer auf und wird ihm als „Arbeit für den Feind“ angekreidet.

Im Nationalteam ist er aber nicht der Einzige, bei russischen Vereinen spielen auch Olexander Sintschenko (wechselt nach der Euro von Ufa zu Manchester City) oder Bohdan Butko (Amkar Perm). Nach längerem Hin und Her wurde Selesnjow nun nachträglich in den Euro-Turnierkader von Trainer Michail Fomenko aufgenommen.

Die Ukraine trifft in Gruppe C auf Weltmeister Deutschland, Polen und Nordirland.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.06.2016)

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