Andrés Iniesta: Kleiner Künstler aus La Mancha

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Andrés Iniesta offenbart in seiner Autobiografie, dass er unter Angstzuständen litt. Guardiola, Messi und Co. liefern bemerkenswerte Anekdoten.

Vor dem Aufwärmen ging Andrés Iniesta zu Zeugwart Hugo und sagte: „Bitte schreib ,Dani Jarque für immer mit uns‘ groß auf ein Shirt.“ Mit dem Shirt unter Spaniens Trikot betrat er dann das Stadion in Johannesburg, 116 Minuten später hatte sich seine Botschaft auf der ganzen Welt verbreitet. Die Bilder vom WM-Finale 2010 ließen niemanden kalt: Spanien besiegte Holland in der Nachspielzeit, Iniesta schoss das Goldtor, riss sich das Trikot vom Leib und widmete den Erfolg seinem verstorbenen Freund.

Karriere und Leben von Andrés Iniesta sind untrennbar mit diesem Abend und diesem Shirt verbunden. Ohne dieses Tor wäre er nicht dort, wo er heute, mit 32 Jahren, ist: zweifacher Familienvater, Kapitän des FC Barcelona und einer der besten Fußballer aller Zeiten. Denn gerade hatte er das bisher härteste Jahr seines Leben hinter sich. „Ich fühlte mich wie im freien Fall“, offenbart er in seiner neu erschienen Autobiografie „The Artist: Being Iniesta“.


„Keine Sorge, Señor.“

Iniestas härteste Nacht aber liegt weit länger zurück. Er war zwölf Jahre alt und gerade in La Masia, Barcelonas berühmter Talenteschmiede, eingetroffen. Fernab der Heimat weinte er sich in den Schlaf, nur an den Wochenenden kam die Familie zu Besuch – sofern der alte Ford Orion auf den knapp 500 Kilometern von Fuentealbilla nach Barcelona nicht wieder streikte. Der Klub hätte dem Vater einen Job in Barcelona besorgt, doch was wäre, wenn es Andrés doch nicht zu den Profis schafft?

Die Brillanz des stillen, blassen Jungen blieb in La Mancha nicht lang verborgen. Ehemalige Trainer und Mitspieler sagen im Buch alle dasselbe: Andrés wusste damals schon, was zu tun war, bevor er den Ball überhaupt bekam, sein Instinkt ließ ihn nie im Stich; er war schüchtern, auf dem Platz aber bereits eine Persönlichkeit. Er selbst blicke mit „Glücksgefühlen und Wehmut“ auf seine Kindheit zurück, schreibt Iniesta. Doch die unbekümmerten Stunden auf dem Fußballplatz vor der Schule von Fuentealbilla wurden schlagartig vom harten Nachwuchsbetrieb in Barcelona beendet.

Iniestas erste Partie im Trikot der Katalanen endete 8:0, er schoss vier Tore. In La Masia hatte sich der kleine Junge aus La Mancha bald einen Namen gemacht. Mit Victor Valdes wachte eine Art großer Bruder über ihn, der sechs Jahre ältere Carles Puyol überließ ihm seine Matratze, als er in die Kampfmannschaft aufstieg. Iniesta sollte wenig später folgen. Zuvor hatte Erzrivale Real Madrid dreimal vergeblich versucht, seinen Vater zu kontaktieren. Aber der ging nicht einmal ans Telefon.

Louis van Gaal verschaffte Iniesta 2002 sein Debüt. „Er war fordernder und härter als jeder andere“, sagt Iniesta über den streitbaren Niederländer. Unter Frank Rijkaard kam er weniger zum Zug, im Champions-League-Finale 2006 gegen Arsenal saß Iniesta überraschend auf der Bank. „Als wäre ich betrogen worden. Ich verstand es nicht.“ Beim 0:1-Pausenrückstand musste Rijkaard handeln, er brachte Iniesta, Barcelona gewann 2:1.

Pep Guardiola hatte am meisten Vertrauen in Iniesta. Im Buch erzählt der Starcoach, dass die Erfolge zu Beginn seiner Ära ausblieben und Iniesta in sein Büro im Keller des Camp Nou kam. „Keine Sorge, Señor“, sagte Iniesta zu ihm. „Wir sind auf dem richtigen Weg. Wir werden alles gewinnen.“ Am Ende der Saison hatte Barcelona alle sechs möglichen Titel geholt. Guardiolas Interpretation des Ballbesitzfußballs von Barça-Chefideologe Johan Cruyff sollte Europa dominieren.

Doch das Champions-League-Finale in Rom 2009 (2:0 gegen Manchester United) war Iniestas vorerst letzter Freudentag. Er ging angeschlagen in die Partie, es war die vierte Muskelverletzung im rechten Bein innerhalb weniger Monate. Verletzt mühte er sich danach durch die Saisonvorbereitung, als ihn die Nachricht von Dani Jarques Tod erreichte. Mit dem Freund hatte Iniesta einst die U19-EM gewonnen, nun starb der Espanyol-Kapitän mit 26 Jahren im Trainingslager in Florenz an Herzversagen. „Ich fühlte mich im freien Fall. Wie wenn alles finster geworden wäre.“ Es war nicht wirklich eine Depression, auch keine Krankheit, Iniesta weiß auch heute noch keinen Namen dafür. Auf einmal war sein gesamtes Selbstvertrauen weg. „Nichts ist härter als das Gefühl, nicht mehr du selbst zu sein. Es war beängstigend.“

Im Verein wussten nur wenige Beschied. „Er war zerstört. Ich konnte es sehen“, erzählt Valdes. Auch Guardiola war eingeweiht, er sagte zu Iniesta: „Sobald sich etwas nicht richtig anfühlt, frage nicht um Erlaubnis, geh einfach.“ Oft musste er nach nur zehn Minuten das Training abbrechen. „Es war, als würde mein Herz explodieren.“

Auf dem Höhepunkt

Mit Wille und professioneller Hilfe kämpfte sich Iniesta zurück, aber erst das Tor im WM-Finale ein Jahr später war sein Befreiungsschlag. Noch in der Nacht zuvor wartete er im Hotel, bis alle schliefen und sprintete den Gang auf und ab. Er wollte sichergehen, bereit zu sein.

Das WM-Finale sollte aber nicht nur Iniestas Rettungsanker sein. Es war auch das erste Fußballspiel, das sich Jessica, die Frau von Dani Jarque, seit dessen Tod im Jahr zuvor ansah, außerdem das allererste ihrer zehn Monate alten Tochter. Im Buch spricht sie über Iniestas Botschaft, noch immer fließen dabei Tränen. Das Shirt gehört nun Espanyol, beim nächsten Gastspiel von Barcelona beim Stadtrivalen, einem 5:1-Sieg, wurde Iniesta mit Standing Ovations bedacht.

Iniesta war nun auf seinem Höhepunkt, verteidigte 2012 den EM-Titel, gewann 2011 und 2015 die Champions League. Im Finale 2011 im Wembley-Stadion gegen Manchester United (3:1) zeigte er eine nahezu perfekte Vorstellung, am Ende flehte Wayne Rooney bei Xavi um Gnade, wie sich Iniestas kongenialer Partner in einem Kapitel erinnert. Von der Klublegende hat Iniesta die Kapitänsbinde geerbt. Xavi ist überzeugt: „Er wird jeden Rekord brechen, den es gibt.“ Und Weltfußballer Lionel Messi sagt über Iniesta: „Wir reden beide nicht viel. Wenn Andrés etwas sagt, dann ist es ein Witz oder etwas Besonderes in einem speziellen Moment. Und dann hörst du zu.“

andrés iniesta

„The Artist: Being Iniesta“ ist am 8. September im Headline Verlag erschienen. Barcelona-Star Andrés Iniesta zeichnet in eigenen Worten und mithilfe seiner Familie, Wegbegleitern, Trainern und Teamkollegen wie Pep Guardiola, Lionel Messi, Neymar oder Xavi seinen Werdegang nach.
Ein Buch, genauso wie er es immer haben wollte, schreibt Iniesta.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2016)

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