Anschis Aufwachen in der Realität

(c) Clemens Fabry
  • Drucken

Der Oligarch Sulejman Kerimow finanzierte den kometenhaften Aufstieg von FC Anschi Machatschkala. Dann versiegte das Geld. Nun versucht die Mannschaft aus dem russischen Nordkaukasus den Neustart.

Jetzt geht es nur noch zu Fuß weiter. Die Polizei hat die Zufahrten zum Stadion abgesperrt, Autofahrer und Taxilenker müssen am Kreisverkehr abdrehen. Es wird gehupt und geflucht, wir kommen noch zu spät! Die Sonne ist gerade hinter den Bergen versunken, Spannung liegt in der Sommerluft. Die ganze Stadt scheint herbeizuströmen, Teenager, Freundinnen, Familien, viele junge Männer. Keine zehn Minuten sind es mehr bis zum Matchbeginn, jetzt aber schnell, schnell! Der Takt der Schritte beschleunigt sich, einer beginnt zu laufen, ein zweiter, mehrere. Der Menschenstrom zieht durch ein No-Name-Territorium aus Kränen, Betonblöcken und gelb bemalten Schuhschachtelblöcken mit Namen wie Kaspij City. Kaufen Sie hier Ihre Wohnung!

An diesem Abend beachtet niemand die farbenfrohen Werbebanner. Inmitten dieses Durcheinanders, aus dem in nicht allzu ferner Zukunft ein Wohnviertel werden wird, erscheint es. Das Stadion. Die Anschi-Arena steht hell erleuchtet da, eine glänzende Perle, nur einen Steinwurf vom Kaspischen Meer entfernt. Hinein, durch die Personenkontrolle und auf die Ränge. Ein paar Sitzplätze sind noch frei. Hier wollte sie hin, die Menschenmenge. Ein Blick auf die Uhr. 18.55 Uhr. Die Nacht legt sich über das Meer, und im Stadion gehen die Scheinwerfer an.

Vorhang auf für Anschi.

Aufstieg und Fall. Anschi, mit vollem Namen FC Anschi Machatschkala, gegründet 1991. Es ist Mai 2016, und die Mannschaft spielt an diesem Abend um ihre Zukunft im russischen Profifußball. „Unser Platz ist in der PremjerLiga“, steht auf einem Transparent als selbstbewusste Ansage. Der Beweis, das dem tatsächlich so ist, ist 90 Minuten später erbracht. Das Spiel endet 2:0 für Anschi. Die Mannschaft hat ein leichtes Spiel mit dem Gegner, angereist aus dem südrussischen Astrachan. Die Fans, deren Begeisterung für ihren Klub keine Grenzen zu kennen scheint, triumphieren. Familien mit Kleinkindern neben Halbwüchsigen und Mädchengruppen in hochgeschlossener islamischer Kleidung. „Viva Anschi“, schreit sich das Publikum die Seele aus dem Leib. Eine Trommel gibt den Takt vor. „An-schi Ma-cha-tschka-la, my s to-boi – na-wse-gda.“ Wir sind mit dir, für immer. Gut, wenn man so jemanden hat.

Anschi ist die Geschichte eines Vereins aus der russischen Provinz, für den ein häufig bemühtes Sprichwort zutrifft: Aufstieg kommt vor dem Fall. Anschi hat die Reißleine gezogen. In der vorigen Saison musste das Team noch den Rauswurf aus der russischen Premjer-Liga fürchten. Aktuell steht der Klub derzeit im guten Mittelfeld auf Platz sechs. Angeführt wird die Liga von den traditionell starken Moskauer Klubs Spartak und CSKA und dem St. Petersburger FC Zenit. Nach einer Periode wechselnder Trainer hat der Klub Ende Juni mit Pavel Vrba den früheren Coach der tschechischen Nationalmannschaft engagiert. Vrba, der in der Vergangenheit erfolgreich Viktoria Pilsen trainiert, aber mit der Performance der Nationalelf bei der diesjährigen EM enttäuscht hat, muss nun in Machatschkala eines unter Beweis stellen: dass es zwischen dem Aufstieg eines Kometen und seinem Verglühen noch etwas gibt. Langsames Auflaufen zur Hochform im Idealfall.

Die Geschichte des Vereins mit den Klubfarben Gelb-Grün und dem Symbol des Adlers teilt sich in zwei Epochen: vor und seit Kerimow. Sulejman Kerimow ist ein russischer Oligarch, der im dagestanischen Derbent geboren wurde. Ein Landsmann. Kerimow wurde mit dem Handel von Erdöl, Gold, Silber und Kali reich. Sein Vermögen wird aktuell auf 7,6 Milliarden Dollar geschätzt. Wie schon andere reiche Russen vor ihm, wollte sich Kerimow einen Fußballklub leisten. Im Jänner 2011 kaufte er Anschi.

Plötzlich hatte der Verein das nötige Kleingeld, um internationale Spitzenspieler zu verpflichten. Anschi wurde zur kurzzeitigen Heimstätte von Roberto Carlos, Samuel Eto'o von Inter Mailand, Mbark Boussoufa, Balázs Dzsudzsák, Christopher Samba und mehreren russischen Nationalspielern, die für Millionenbeträge auf dem Transfermarkt eingekauft wurden. Man nahm den holländischen Startrainer Guus Hiddink unter Vertrag. Bald konnte die Mannschaft Erfolge vorweisen: Anschi qualifizierte sich für die Europa League 2012/13 und schaffte es bis ins Achtelfinale. In der russischen Liga wurde der Verein Drittplatzierter – die bisher erfolgreichste Wertung.

Harte Wirklichkeit. Kerimow investierte auch vor Ort. Im Jahr 2013 baute er dem FC Anschi im Niemandsland zwischen Machatschkala und Kaspijsk ein richtiges Stadion. Die Anschi-Arena hat Platz für 26.200 Zuschauer; auf ihrem Territorium befinden sich ein Fanshop, Springbrunnen, Fast-Food-Imbisse und ein Hotel. Nebenan wurde eine Fußballakademie für den Nachwuchs eröffnet. Die Menschen in Dagestan waren mächtig stolz auf ihr Team, das plötzlich international bekannt war.

Doch mit dem Höhenflug änderten sich die Verhältnisse vor Ort: Die Fans bekamen ihre Spieler immer seltener zu Gesicht. Aufgrund der angespannten Sicherheitslage in Dagestan, das regelmäßig von Anschlägen islamistischer Gruppen erschüttert wird, reiste die Truppe zu jedem Match mit dem Flugzeug an. Die Legionäre zogen vor, in Moskau zu leben, wo sie auch trainierten. Es waren fette Jahre. Sie sind jetzt vorbei. Im August 2013 kündigte Kerimow die dramatische Kürzung des Budgets an: Statt 180 Millionen Dollar sollten künftig nur noch 50 bis 70 Millionen jährlich zur Verfügung stehen. Der Grund für das Sparprogramm waren Kerimows Finanzprobleme. In Machatschkala erzählt man sich, dass er das Interesse am Klub verloren habe, als der nicht sofort Resultate brachte. Die meisten Legionäre verließen Anschi im nächsten Transferfenster.

Mit Kerimows Kurswechsel brach eine neue Phase an. Anschi ist auf dem harten Boden der Realität angekommen. Der Verein muss nun beim eigenen Nachwuchs fündig werden. Heute prägen nicht mehr teure Legionäre das Image des Klubs, sondern Spieler wie Magomed Musalow. Musalow, 22 Jahre alt und in Dagestan geboren, spielte bisher in der Jugendmannschaft und ist seit vergangener Saison Verteidiger in der Stammelf. Er lebt nicht in Moskau, sondern im Hotel am Stadiongelände. „Das ist angenehm“, sagt er. „Es gibt immer etwas zu essen.“ Wobei, einen Konstruktionsfehler hat das Hotel: Die Fenster lassen sich nicht öffnen. Die kleinen Versäumnisse des hiesigen Baubooms. Musalow dreht sich um und zeigt auf die Blöcke in Schuhschachtelform ringsum. „Man stellt Häuser hin, aber auf Schulen und Kindergärten vergisst man.“

Wenn der drahtige Spieler in seinen schwarzen Sportklamotten über den Platz geht, laufen ihm die Buben nach, die in der Anschi-Akademie trainieren. Schlag ein, Freund! Für sie ist er ein Held. Dabei verbringt er seine Tage nicht viel anders als sie: Er steht um neun Uhr morgens auf, geht zum Training, besucht seine Eltern, die in der Nähe wohnen und geht mit seinem Bruder in Cafés. „Keine Clubs, das verbietet meine Religion.“ Er trinkt nicht, er raucht nicht, und er betet fünfmal täglich. Musalow ist einer, der seine Ziele mit Konsequenz verfolgt. „Fußball ist die Chance auf ein besseres Leben.“ In Dagestan ist die Arbeitslosigkeit hoch, der Alltag eine Anstrengung. Seine Familie baut ihm ein Haus, in dem er mit seiner Zukünftigen leben wird. Magomeds Braut ist schon gefunden, durch Vermittlung seiner Schwester. Sie hatten nur kurz Gelegenheit zu sprechen, er fand sie sympathisch, sie ihn wohl auch. „Bei meinen Eltern war es auch so“, sagt der 22-Jährige sachlich. „Die Liebe entsteht mit der Zeit.“ Vielleicht wird Magomed Musalow nicht ewig bei Anschi bleiben. Doch Spieler wie ihn braucht der Verein.

Kurz vor zwölf Uhr mittags ruft Musalows Handy zum Gebet. Der Fußballer verabschiedet sich und geht zurück in sein Hotelzimmer, dessen Fenster sich nicht öffnen lassen.

Steckbrief

Magomed Musalow
ist Verteidiger bei Anschi. Er wurde am 9. Februar 1994 in der russischen Teilrepublik Dagestan geboren. Ursprünglich beschäftigte er sich mit Kampfsport. Auf Anraten seiner Schwester fing er im Jahr 2000 mit dem Fußballtraining an.

Bisherige Stationen
seiner Fußballerkarriere sind der FC Jantar in Krasnodar (2003–2007) und der FC Rubin in Kasan (2009–2012).
Seit 2012 ist er bei Anschi unter Vertrag, zunächst in der Jugendmannschaft, seit vergangener Saison spielt er in der Kampfmannschaft.

Dagestan

Dagestan ist eine russische Teilrepublik im Nordkaukasus, die am Ufer des Kaspischen Meeres liegt.
Ihre Hauptstadt ist Machatschkala.

Die Bevölkerung beträgt knapp drei Millionen Menschen und ist multikulturell. Zu den größten ethnischen Gruppen zählen Awaren, Darginer, Kumyken, Lesgier und Russen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.09.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.