Auf die herbe Enttäuschung bei der EM in Frankreich folgte der misslungene Start in die WM-Qualifikation. Auf den erhofften Turnaround 2017 deutet wenig bis gar nichts hin.
Österreichs Fußball-Nationalmannschaft ist 2016 unsanft auf dem Boden der Realität gelandet. Nach der erfolgreichen Qualifikation für die Europameisterschaft, der ersten aus eigener Kraft überhaupt, wuchsen die Erwartungen hierzulande schlagartig gen Himmel, der Vorstoß unter die Top 10 der Fifa-Weltrangliste trug ebenso nicht zur Demut bei. Schwache Leistungen in den EM-Vorbereitungsspielen, die abhandengekommene Selbstverständlichkeit, das Verletzungspech mancher Leistungsträger; all diese Umstände waren deutliche Signale, nur als solche verstehen wollte Marcel Koller sie nicht.
In Frankreich erlebte die ÖFB-Elf eine Enttäuschung mit Ansage. Es fehlte an Form, Erfahrung und Lern- und Laufbereitschaft, auch Kollers taktische und personelle Ausrichtung sorgte für Stirnrunzeln. Fehlpassorgien und hochgradige Nervosität führten ins Verderben. Wie Ungarn und Island die rotweißrote Equipe in der Gruppenphase mit bescheidenen Mitteln düpierten, war höchst irritierend. Unter dem Strich spielte Österreich bei dieser Euro nur eine von sechs Halbzeiten jenen Fußball, der die Mannschaft bis zur Endrunde geführt hatte. Kollers Erkenntnis nach nur einem Punkt aus drei Partien: „Das reicht halt nicht.“
Nicht nur der Schweizer, wenige Monate zuvor noch landesweit als Heilsbringer gefeiert, auch die Teamspieler verspielten viel von ihrem Kredit. Gestandene Profis wie Aleksandar Dragović, Martin Harnik oder David Alaba blieben bei ihrem EM-Debüt praktisch alles schuldig, speziell Alaba wurde für seine Rolle als Freigeist im Mittelfeld, die er stets selbst einforderte, harsch kritisiert. Österreichs bester Fußballer der jüngeren Geschichte, und das ist erstaunlich, blieb auch in der laufenden WM-Qualifikation das größte Sorgenkind der Fußballnation. Nach dem überraschenden Rücktritt von Kapitän Christian Fuchs war die Position des Linksverteidigers im Sommer vakant geworden. Alaba, der diese Rolle bei Bayern München seit Jahren zur vollsten Zufriedenheit seiner Trainer ausfüllt, enttäuschte aber weiterhin im Zentrum, während Koller sich eingestehen musste, dass Fuchs-Nachfolger Kevin Wimmer doch ein Innen- und kein Außenverteidiger ist.
Unter immensem Druck
Der Preis für dieses Experiment war hoch: Österreich steht nach nur vier von zehn Spielen in der laufenden Qualifikation für die Weltmeisterschaft in Russland 2018 bereits mit dem Rücken zur Wand. Niederlagen gegen Irland und Serbien brachten das Team in eine missliche Lage, auf Tabellenführer Irland fehlen bereits sechs Punkte. „Wir müssen feststellen, dass das ergebnistechnisch kein erfolgreiches Jahr war“, analysierte Koller die mit sechs Niederlagen bei nur drei Siegen und drei Remis bisher schlechteste Bilanz seiner fünfjährigen Amtszeit. ÖFB-Präsident Leo Windtner formulierte es drastischer: „2016 ist einfach ein Seuchenjahr.“
Marcel Koller ist als Teamchef nicht mehr unumstritten, den Schein eines Fußball-Heiligen hat er innerhalb weniger Monate abgelegt. Gewinnt Österreich am 24. März in Wien nicht gegen die Republik Moldau, ist die WM-Qualifikation endgültig eine Illusion und das Ziehen von Konsequenzen wohl unausweichlich. „Da müssen wir die Pflicht erfüllen“, meinte Windtner, der vor dem Jahreswechsel aber keine Teamchef-Diskussion lostreten wollte. „Marcel Koller hat Österreich auf Platz zehn der Weltrangliste geführt, jetzt sind wir 31. Für mich ist er immer noch der gleiche Trainer wie zuvor.“
Doch hat Koller Antworten auf die vielen belastenden Fragen der Gegenwart? Wie lässt sich die Problemposition Linksverteidiger lösen, solange Alaba dafür keine Option ist? Findet er im Angriff Alternativen zu Marc Janko? Wechselt er das System oder gar den Arbeitgeber? Immerhin wurde der 56-Jährige zuletzt mit dem FC Basel in Verbindung gebracht, einem Job als Vereinstrainer war Koller zeit seiner Karriere beim ÖFB nie abgeneigt. 2017 kann nur dann ein erfolgreiches Jahr für die Fußball-Nationalmannschaft werden, wenn alle Beteiligten endlich aus den Fehlern der Vergangenheit lernen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.12.2016)