Brasilien: Schotten dicht mit einem neuen Helden

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Brasilien muss gegen Deutschland nach dem Ausfall von Neymar als Mannschaft noch enger zusammenrücken. Der Rekordweltmeister könnte damit am Dienstag in Belo Horizonte so defensiv wie noch nie agieren.

Die Stimmungslage im Land des Gastgebers ist nicht einfach zu beschreiben. Die erste Wut nach der schweren Verletzung von Superstar Neymar ist nun etwas verraucht, man besinnt sich wieder der kommenden Aufgabe. Sie wird schwer genug zu lösen sein, auf den Rekordweltmeister wartet im Halbfinale Deutschland, das ist nicht nur ein Klassiker, sondern für viele auch ein Gipfeltreffen der Giganten. Eine Konstellation, die es in der Geschichte von Weltmeisterschaften erst einmal gegeben hat, im Finale 2002 triumphierte die Seleção. Dank Ronaldo, dem WM-Rekordtorschützen. Er wurde damals in Yokohama zum Alptraum von Oliver Kahn.

Die Brasilianer sind angeschlagen, das ist auch im Teamcamp von Teresopolis spürbar. Also müssen andere in die Rolle der Mutmacher schlüpfen. Wie Pelé. Oder eben Ronaldo, der Deutschland-Schreck von früher. „Wenn die deutsche Mannschaft jetzt glaubt, sie würde gegen eine schwache und entmutigte Mannschaft spielen, dann wäre das ein enormer Fehler“, sagte der Torjäger i.R. Er zog eine Parallele zum Turnier 1962. Damals fiel der einzigartige Pelé verletzungsbedingt aus, Brasilien siegte dennoch. „Auch ohne Neymar“, behauptet Ronaldo nun, „ist Brasilien Favorit.“ Die Sportzeitung „Lance!“ sieht das anders: „Wenn es vorher ein ausgeglichenes Duell gewesen wäre, obwohl Deutschland besser spielte, dann sind jetzt, ohne Neymar, die Deutschen die Favoriten. Aber Brasilien kann sich übertreffen.“

Um die Favoritenrolle aber geht es in diesem Turnier gar nicht mehr. Keine der übrig gebliebenen Mannschaften verfügt über eine wirklich außergewöhnliche Elf, es sind höchstens noch ein paar Einzelspieler, die sich aus den nahezu perfekten Kollektivs abheben. Die einen haben Lionel Messi, die anderen Manuel Neuer oder Arjen Robben. Und Brasilien hatte Neymar. Bis Freitag kurz vor Spielende gegen Kolumbien.

Brasiliens Mannschaftsarzt hält einen Besuch des 22-Jährigen beim Halbfinale gegen Deutschland in Belo Horizonte aus medizinischer Sicht für möglich. Der Patient hat dem Volk und seinen Mannschaftskameraden jedenfalls eine Videobotschaft überbracht. Ein sehr persönliches Dokument, vielleicht in Zusammenhang mit Fußball die traurigste Nachricht dieser WM. Auch er übt sich als Mutmacher. „Mein Traum ist noch nicht zu Ende. Meine Kameraden werden alles dafür tun, dass ich meinen Traum verwirklichen kann: Weltmeister zu werden. Mein Traum war es auch, ein WM-Finale zu spielen, aber diesmal wird das nicht klappen. Meine Mannschaftskameraden werden aber diese WM gewinnen und Weltmeister werden. Und ich werde dabei sein, mit ihnen zusammen. Und wir Brasilianer werden feiern. Das ist alles. Danke. Ich umarme euch.“

Bernard oder Willian

Brasilien braucht nun einen neuen Helden. Cheftrainer Luiz Felipe Scolari versuchte am Wochenende die Situation zu entspannen, wenngleich er die Verletzung von Neymar als „Katastrophe“ bezeichnet. „Aber wir sind ruhig, sicher – und voller Selbstvertrauen“, behauptet er. „Es hat sich nichts geändert – wir wollen am 13. Juli im Maracanã das Finale bestreiten.“

Ersatz für Neymar in dem Sinn gibt es freilich keinen. „Aber wir haben auch andere gute Spieler“, so Scolari. Die Position des Barcelona-Superstars könnte der kleingewachsene Bernard, bei dieser WM bereits öfter eingewechselt, einnehmen. Denkbar aber ist auch die Variante mit Willian. Der wiederum aber hat sich am Samstag leicht verletzt. Tostao, Weltmeister von 1970, ist skeptisch. „Da müsste schon ein Messias kommen.“ Einer wie Amarildo, der 1962 für Pelé eingesprungen ist.

In der Abwehr wird Bayern-Legionär Dante für den gesperrten Thiago Silva in die Elf rutschen. Auch eine Rückkehr von Luiz Gustavo gilt als wahrscheinlich. Scolari wird hinten die Schotten dichtmachen. So fest wie möglich.

STATISTIK

Die WM-Torquote rutscht von Runde zu Runde weiter ab. Nach torreicher Vorrunde mit 136 Treffern kamen in den Achtel- und Viertelfinalspielen mit 180 Extraspielminuten in sechs Verlängerungen nur noch weitere 23 hinzu. Dadurch fiel der Vorrunden-Schnitt von 2,83 auf nunmehr 2,65 Tore pro Partie. Einen ähnlichen Schnitt (2,67) gab es zuletzt bei der WM 1998 in Frankreich.

Der Zuschauerschnitt ist weiter gestiegen. Knapp 52.800 Fans sahen im Durchschnitt die bisherigen 60 Spiele in den zwölf WM-Stadien. Die Marke der WM 2006 in Deutschland mit 52.491 wurde damit geknackt. Zuschauerrekord: WM 1994, USA (69.000).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.07.2014)

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