Zu dopen war für Lance Armstrong »wie Reifen aufpumpen«. Sein System war skrupellos, perfekt organisiert, erfolgreich, sehr gut bezahlt – und es wurde oft kopiert.
Lance Armstrongs TV-Beichte über seine rücksichtslosen Dopingpraktiken sorgt für gemischte Reaktionen. Für viele kam sein Geständnis zu spät, und jeder will ohnehin gewusst haben, dass es beim Texaner und all seinen Triumphen nie mit rechten Dingen zugegangen ist. Fans und Vertreter der von ihm 1997 ins Leben gerufenen Krebsstiftung „Livestrong“ schütteln verwundert den Kopf.
Das Märchen, dass der Mann, der den Krebs besiegt hat, ein Sportidol wurde, ist endgültig entzaubert. Was sich nun wohl all diejenigen denken, die stolz die gelben Plastikbänder getragen und den Texaner angehimmelt haben? Er selbst sieht es ganz nüchtern: „Mein Cocktail war EPO, Bluttransfusionen und Testosteron – Letzteres konnte ich auf eine seltsame Weise sogar rechtfertigen, bei meiner Geschichte mit dem Hodenkrebs.“
Radelnde Apotheken. Nur ein einziger Punkt seiner Aussagen zum Doping sollte die Sportwelt, sofern sie daran tatsächliches Interesse hat, aufhorchen lassen: wie leicht Betrug möglich war und wie viele Milliarden für Dopingjäger, deren Agenturen und Tests verpulvert worden sind. Lance Armstrong und sein 30-köpfiges Team sind von 1995 bis 2005 weit über 3000 Mal getestet worden – und nie gab es einen positiven Befund. Unmöglich, möchte man meinen...
In einem 1000 Seiten umfassenden Akt hatte die US-Antidopingagentur Armstrong im Vorjahr zu Fall gebracht. Detailliert wurde darin festgehalten, wie Armstrong sein System aufgebaut hatte. EPO-Lieferungen kamen während Tour-Etappen per Motorradboten. In Hotelzimmern wurden Infusionen gesetzt, in Campern Hormone und Pillen geschluckt, und sollte plötzlich ein Kontrolleur auftauchen, liefen sie ins Leere. Armstrong wurde gewarnt, er hatte seine Helfer allerorts. Und alles stand ihm zu Verfügung: das in Österreich bekannte Blutdoping, EPO (Erythropoietin). Cortison, Wachstumshormone (HGH), Testosteron. Der Tross von Lance Armstrong muss einer mobilen Apotheke geglichen haben.
Anders ist es nicht zu verstehen, und angesichts der seit Jahren bekannten Problematik wird klar, warum der Radsport sein Negativimage nicht los wird. Armstrong sagt: „Ich habe die Doping-Kultur des Radsports nicht erfunden, aber auch nicht versucht, sie zu beenden. Der Sport zahlt den Preis dafür. Aber zu sagen, unser Programm sei größer gewesen als das der DDR in den 70er- und 80er-Jahren, das ist falsch.“
In der DDR wurden auch nur Sieger mit Wohnungen, Reisen und Orden versorgt, in Armstrongs Teams wurde selbst der letzte Servicemann belohnt. Der Lieferant bekam 20.000 Dollar und eine Rolex, Kollegen beachtliche Dienstverträge, Ärzte dicke Kuverts und Armstrong extrem hoch dotierte Werbeverträge sowie stattliche Startgelder (Tagsatz: 75.000 Dollar plus Spesen) bei Radkriterien. 120 Millionen Dollar soll er so in seiner Karriere angehäuft haben. Wurde einer seiner Mitstreiter von einem anderen Rennstall abgeworben, ging es selten nur um sportliche Leistungen. Es war gewissermaßen eine Form von Industriespionage: Jeder wollte Armstrongs Doping-System kaufen und kopieren, um jeden Preis.
Lauter Freiwillige. Ob der Sieger nun Armstrong, Landis, Hamilton, Contador, Ullrich, Riis etc. hieß, war letztlich nicht von Bedeutung. Die Rechnung musste stimmen. Immer. Das wusste auch der Texaner, der sich der gekauften Loyalität seiner Weggefährten gewiss sein konnte. Widersprüche gab es allerdings auch keine. „Die Behauptung, dass jemand gedrängt, gezwungen oder ermutigt wurde zu dopen, ist nicht korrekt“, sagt Armstrong. „Ich habe nie gesagt, du musst das und das machen, wenn du die Tour im Team fahren willst. Zu dopen war für mich wie Reifen aufpumpen oder Wasser in die Flaschen füllen. Meiner Ansicht nach war das Teil des Jobs.“ Part of the Game, was sonst.
Zukunft des Dopings. EPO ist seit 2005 nachweisbar, die für Blutdoping benötigten „Zutaten“ wie Blutplasma-Expander seit 2001. Auch Neuentwicklungen wie Cera, das etwa Bernhard Kohl aus der Spur geworfen hat, werden in Labors in Urin- und Bluttests herausgefiltert. Schenkt man Armstrong zumindest einen Hauch Glauben, sind die Kontrollen besser geworden. Die Einführung des Biologischen Passes und die Langzeitlagerung von Blutproben können sprunghafte Leistungsexplosionen erklären.
Dennoch, bis auf Armstrong oder Contador wurden im Weltsport in den vergangenen Jahren keine prominenten Sünder mehr ertappt. Das nährt den Verdacht, dass die Jäger der Welt-Antidopingagentur wieder ins Hintertreffen gelangt sind. EPO-ähnliche Produkte wie Hematide (gegen Blutarmut) stehen hoch im Kurs. Und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der gezielte Eingriff in das Erbgut als Gen-Doping eingesetzt wird, sofern es das ohnehin nicht längst schon gibt. Gedopt wird weiterhin – auch ohne Lance Armstrong.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.01.2013)