Trendsport: Die Großstadt ist die Heimat des Parkour

(c) Reuters (LUKE MACGREGOR)
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Traceure versuchen, von einem Punkt der Großstadt direkt zu einem anderen zu gelangen – und das möglichst ohne Umwege. Beton, Wände, Treppen und Geländer sind ihre Spielwiesen – ein Erfahrungsbericht.

WIEN.„Das Abrollen trainieren wir nicht drinnen in der Halle auf einer Matte, sondern auf der Straße“, sagt Johnny Lehnert aus München. „Das ist sehr wichtig nach jedem Sprung. Und auf Beton spürst du gleich, wo deine Fehler liegen.“ Johnny Lehnert ist Traceur und Beton seine Welt. Er unterrichtet meine Gruppe in der Kunst des „Parkour“.

Parkour ist eine relativ neu „Sportart“ und kommt aus Frankreich. Ein Läufer, der Traceur, versucht von einem Punkt der Großstadt direkt zu einem anderen zu gelangen – und dabei so wenig Umwege wie möglich zu machen. Wände, Treppen und Geländer, die im Weg stehen, werden spielerisch in effiziente Bewegungen integriert und überwunden. Die einzige Spielregel ist einfach zu verstehen: Man darf nur seinen Körper benützen, es wird geklettert, gesprungen und balanciert. Außenherumlaufen gilt nicht.

Für einen Parkour-Workshop in Wien haben die Veranstalter eine leer geräumte Fabrikhalle auf dem Gelände des Arsenal bezogen. Doch schnell zeigt sich, dass diese Sportart nichts ist, was in einer Halle stattfindet. Die meisten der Coaches zieht es bereits ins Freie, wenn es lediglich darum geht, den Schützlingen die Grundlagen beizubringen.

Mission Kanaldeckel

„Draußen kann man der Kreativität völlig freien Lauf lassen bei der Suche nach der nächsten Mission“, sagt Johnny. „Für den Anfang reicht es, zu versuchen, auf einen Kanaldeckel zu springen und die Balance zu halten.“

Das ist nicht besonders schwierig. Die kleine Gruppe von Anfängern, zu der ich gehöre, steigert sich sehr schnell. Wir bekommen die Aufgabe, auf eine Mauer hinaufzuspringen – ohne Hilfsmittel. Sie steht frei im Gelände, und ist drei Meter hoch. „Du musst zuerst ordentlich Anlauf nehmen. Danach ist es wichtig, das Bein hoch anzusetzen. Wenn du dann im richtigen Moment nach oben greifst, kannst du es schaffen!“, versichert mir mein Coach.

Das ist doch wohl ein Witz, ist meine erste Reaktion. Ich versuche es ein paar mal. Schließlich fassen meine Hände über die Mauer. Es funktioniert, ich ziehe mich hoch. Ehrlich, ich bin von mir selbst überrascht. Mein Ehrgeiz ist endgültig geweckt.

Kopfüber am Geländer

Wenig später baumle ich schon kopfüber zwischen einer Wand und einem Geländer. Oder klettere nur mit Händen und Füßen einen Laternenmast hoch. Ich bemerke, ich bin eingetaucht in die Sache. Parkour ist etwas, das sehr schnell süchtig machen kann. Dreimal innerhalb von weniger als einer Stunde gelingen mir Dinge, die ich mir vorher niemals zugetraut hätte. Und es passiert auch nicht das letzte Mal an diesem Tag.

Was auch in etwa den Kern der eigenen Philosophie trifft, die Parkour begleitet: „Nie aufgeben, immer an sich glauben“, das sagen Traceure oft. „Seinen eigenen Weg muss man finden.“ Das ist auch der Grund warum Traceure keine Wettkämpfe im herkömmlichen Sinn veranstalten.

Nicht zu unterschätzen ist der körperliche Aspekt. Ich habe, und das meine ich ernst, mich niemals in meinem Leben so erschöpft gefühlt wie die Tage nach diesem Neun-Stunden-Workout. Eine Woche später steige ich aufgrund meines Muskelkaters immer noch Treppen nur unter beträchtlichen Qualen hinauf. Den ganzen folgenden Tag komme ich mir, mit vielen kleinen Kratzern und blauen Flecken gezeichnet, vor wie Porzellan: sehr zerbrechlich.

Genau dazu passt, was sich die Traceure über Parkour-„Erfinder“ David Belle erzählen: „Der ist so durchtrainiert, das ist unglaublich. Wenn der dir nur mal die Hand gibt – du merkst sofort, sein ganzer Oberkörper ist hart wie Stahl.“ Was Parkour braucht, sind höchste körperliche und geistige Fitness, schließlich könnte man Parkour etwas laienhaft auch als Mischung von Akrobatik und Stuntelementen bezeichnen. Und Fehler können schwere, vor allem schmerzliche Folgen nach sich ziehen.

„Es passiert immer und überall“

Die Umgebung ist für das Parkour-Erlebnis ein wesentlicher Faktor. Das städtische Gelände rings herum ist es, was Traceure mit allem, was wir zum Klettern und Springen brauchen, versorgt: Eine verlassene Eisenbahnschiene, eine Betontreppe und ein leer stehender Parkplatz. Der künstliche Hindernisparcours aus Stangen und Kisten, der in der Halle aufgebaut wurde, ist längst vergessen.

Für den Sport gibt es keine spezielle Ausrüstung, keine Regeln und schon gar nicht eine örtliche oder zeitliche Festlegung. „Es kann nicht genau abgegrenzt werden, was eigentlich Training ist und was nicht“, sagt Johnny. „Es ist nicht so, dass ich mir sage: Am Dienstag um 15 Uhr muss ich beim Verein sein. Es passiert einfach. Immer und überall.“

Von Vorgaben, wer für Parkour geeignet ist, will niemand etwas hören: „Jeder kann es machen, unabhängig von Alter oder Geschlecht“, meint Leech (19), ein Traceur aus meiner Gruppe. Er hält sich beinahe jeden Tag an den entsprechenden „Spots“ in Wien, der Donauinsel, den Senfbauten und dem Museumsquartier, auf. Die Enthusiasten kommen aus allen Bevölkerungsschichten.

Parkour ist bestimmt kein gewöhnlicher Zeitvertreib. Dennoch ist der Zuspruch ungebrochen. 120 Jugendliche sind zum Workshop gekommen. Vielleicht sind sie gerade hier, weil sie nichts gemeinsam haben – außer ihrer Einstellung, dem Spaß an der außergewöhnlichen Herausforderung. Aber sicher nicht, weil man Parkour in einer Halle nachgebaut hat.

Der Autor, Daniel von Eichhorn, absolvierte ein Praktikum in der „Presse“-Sportredaktion.

AUF EINEN BLICK

Parkour ist eine relativ neu „Sportart“ und kommt aus Frankreich. Ein Läufer, der Traceur, versucht von einem Punkt der Großstadt direkt zu einem anderen zu gelangen – und dabei so wenig Umwege wie möglich zu machen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.09.2008)

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