Liu Xiang: Seine Füße haben einfach Nein gesagt

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Jeder Chinese kennt die Geschichte von Liu Xiang: Aus einfachen Verhältnissen schaffte er es zum ersten chinesischen Olympiasieger in der Leichtathletik und Großverdiener. Den Höhepunkten folgten Dramen, nun trat er zurück.

Peking. Tränen rollen in diesen Tagen keine mehr. In den vergangenen Jahren sind zu viele geflossen. Liu Xiang ist wahrscheinlich Chinas beliebtester Sportstar gewesen. Seine Karriere war zugleich die tragischste. Vergangene Woche hat der 31-jährige Olympiasieger im Hürdensprint den Rücktritt erklärt. „Ich bin krank, und ich bin alt“, teilte er in dem chinesischen sozialen Netzwerk Weixin mit. „Das ist eine endgültige Entscheidung. Sie war schmerzhaft, ich habe keine andere Wahl.“ Eine Teilnahme bei der Weltmeisterschaft im August in Peking oder den Olympischen Spielen werde es nicht mehr geben.

Die öffentlichen Reaktionen in China blieben verhalten. Dabei genoss Liu Xiang über Jahre hinweg eine Popularität, wie es in der Geschichte der Volksrepublik nie vorgekommen ist. Bei Olympia 2004 in Athen hatte es der Hürdensprinter als erster Chinese geschafft, Gold in der Leichtathletik zu gewinnen. Kein chinesischer Sportler brachte es bis dahin zum Weltmeister, Olympiasieger und Weltrekordler zugleich.

Schmaler Hürdensprinter als Ikone

Die Geschichte von Liu Xiang kennt in China jeder. Aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen als Sohn eines Busfahrers, begann er im Alter von sieben Jahren mit dem Sport. Chinesische Funktionäre musterten ihn und wiesen ihn der Leichtathletik zu. Zuerst versuchte er es im Hochsprung. Doch eine Vermessung seiner Knochen ergab, dass er für diese Disziplin nicht groß genug werden würde. Also wechselte er zum Hürdensprint.

Sein legendärer Trainer Sun Haiping formte aus dem schmächtigen Athleten einen Sieger. 2002 gewann Liu Xiang die Asienspiele, in Athen 2004 wurde er Olympiasieger über 110 Meter Hürden und verbesserte 2006 in Lausanne den Weltrekord auf 12,88 Sekunden. Im Jahr darauf war er auch Weltmeister.

Mit dem Sport und den Erfolgen hat es Liu Xiang zu enormem Reichtum gebracht. Auch das war ein Novum in China. Er warb für Nike, Visa oder Coca-Cola – und sogar für einen chinesischen Tabakkonzern. In westlichen Medien musste er sich dafür viel Kritik gefallen lassen. In der Heimat tat das seiner Beliebtheit keinen Abbruch. Im Gegenteil: Seine Landsleute bewundern seinen Werdegang, dabei hatte seine Popularität auch System. Peking erhielt den Zuschlag für die Olympischen Spiele 2008, dafür brauchte das Regime jedoch eine Ikone. Und der schmale Hürdenspringer bot sich für die Rolle an.

Als 91.000 Zuschauer starr schwiegen

Dass dem jungen Athleten aus Shanghai der Erfolg keineswegs zufliegen würde, wie sein Name suggeriert (Xiang bedeutet auf Chinesisch „Fliege“), das haben er und sein Trainer stets gewusst. Die Karriere war nicht nur von hartem Training geprägt, sondern auch von tragischen Verletzungen, meistens war es die Achillesferse.

Schon den Weltrekord 2006 war Liu unter Schmerzen gelaufen. Unvergessen aber bleibt das nationale Drama beim großen Auftritt im Pekinger Olympia-Stadion, dem „Vogelnest“ an den Spielen 2008. Bereits beim Aufwärmen hatte Liu nur zwei Hürden genommen, bevor er in die Hocke ging und mit schmerzverzerrtem Gesicht vorsichtig zum Startblock zurückkehrte. Nach dem Fehlstart eines Konkurrenten im Vorlauf riss sich Liu die Startnummer vom Oberschenkel und humpelte von der Bahn. 91.000 Zuschauer im Stadion starrten fassungslos auf die Großleinwände. Es herrschte Totenstille. Aus war der Traum des Olympiasieges im Heimatland.

Liu Xiang weinte. Am nächsten Tag entschuldigte er sich vor der Weltpresse unter Tränen für sein Scheitern. „So viele Menschen fühlen sich betroffen und haben mich unterstützt. Es tut mir sehr leid. Aber ich konnte wirklich nichts tun“, sagte Liu. Eine ganze Nation weinte in diesem Moment mit.

Seine Fans warteten auf ein Comeback. Sie warteten vergeblich. Auch in den darauf folgenden Jahren hatte Liu immer wieder mit Verletzungen zu kämpfen. Sie kosteten ihn die Teilnahme an der WM 2009 in Berlin. Bei den Sommerspielen 2012 in London stolperte Liu ebenfalls im Vorlauf über die erste Hürde. Erneut musste er sich einer aufwendigen Achillessehnen-Operation unterziehen. Seitdem ist er zu keinem Rennen mehr angetreten. „Ich habe an dem Traum gearbeitet, wieder anzutreten“, schreibt er nun in seinem Abschied an seine Fans. „Aber meine Füße haben einfach Nein gesagt.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.04.2015)

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