Tour: Ein Höllenritt ins Gelbe Trikot

Tony Martin
Tony MartinAPA/EPA/YOAN VALAT
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Auf den Schreckmoment des Massensturzes folgte das gefürchtete Kopfsteinpflaster. Tony Martin jubelte über Tagessieg und Führung.

Unzählige Prellungen, Verstauchungen und Schürfwunden sowie sechs verletzungsbedingte Aufgaben lautete die Bilanz des Massensturzes auf der dritten Etappe der Tour de France. Fabian Cancellara hatte sich nach dem unfreiwilligen Überschlag zwar noch einmal auf das Rad gequält, nach der Zielankunft mit zwölf Minuten Verspätung folgte am späten Montagabend jedoch die Diagnose: Zwei Wirbelfrakturen im Lendenbereich und damit das vorzeitige Ende seines zehnten und wohl letzten Tour-Auftritts. „Ich hatte erwartet, das Gelbe Trikot zu verteidigen, und nicht, bei 80 km/h zu stürzen“, sagte der Schweizer. „Ich bin bitter enttäuscht.“

Am schwersten erwischte es William Bonnet, der das Hinterrad eines anderen touchiert und den Crash ausgelöst hatte. Der Franzose erlitt einen Halswirbelbruch und musste operiert werden. Am Ende waren über 50 Fahrer verwickelt und Tour-Direktor Christian Prudhomme ließ das Rennen neutralisieren. Als „gefährlichen Präzedenzfall“ bezeichnete das Patrick Lefevere, Chef von Etixx-Quick Step. Schließlich gehören Stürze zur Tour dazu, gilt doch gerade beim wichtigsten Rennen der Saison: Wer nichts riskiert, gewinnt nichts. „Bei der Tour bremst jeder vier bis sieben Meter später als anderswo“, erklärte der Deutsche Tony Martin. „Bei der Tour will jeder vorne sein, da muss man immer konzentriert sein. Aber irgendwann macht einer einen Fehler“, sagte Matthias Brändle, der wie Marco Haller glimpflich davonkam.

Albtraum aus „Würfelzucker“

Viel Zeit, die Wunden zu lecken, blieb den Fahrern allerdings nicht. Auf dem Weg nach Frankreich erwartete sie am gestrigen Dienstag eine der gefürchtetsten Etappen. Mit 223,5 km war das Teilstück von Seraing nach Cambrai das längste, die größten Qualen warteten jedoch auf exakt 13,3 km. Sie führten über das berüchtigte Kopfsteinpflaster, das vom Frühjahrsklassiker Paris−Roubaix bekannt ist und nicht umsonst als „Hölle des Nordens“ bezeichnet wird. Zum zweiten Mal in Folge führt die Rundfahrt über jene Passagen, die bis 1985 regelmäßiger Bestandteil waren. Schließlich ist das Epos vom Leiden der Gründungsmythos der Tour, und gerade auf den „Pavés“ werden echte Dramen geschrieben. Auf den in der Region liebevoll „Würfelzucker“ genannten Steinen lässt sich wenig gewinnen, aber viel verlieren. 2010 endeten hier die Titelträume von Fränk Schleck, im Vorjahr wurde Chris Froome bereits der Kampf um die beste Ausgangsposition in der Anfahrt auf die erste Pavé-Passage zum Verhängnis.

„Für die Fahrer ist es das Allerletzte – für uns Zuschauer ein Spektakel“, sagte Exprofi Jens Voigt. Denn es geht nicht über gepflegtes Kopfsteinpflaster wie in der Wiener Innenstadt, vielmehr gleicht der Untergrund aus dem 19. Jahrhundert einer Kraterlandschaft. In Höchstgeschwindigkeit müssen die Fahrer über ein Minenfeld navigieren, zwischen den eher wahllos aneinander gereihten Steinen klaffen zum Teil große Lücken, die mit Sand und Rollsplitt gefüllt wurden. Eine Ideallinie gibt es nicht, gefragt sind stattdessen Kraft, Konzentration und Mut. Fast alle Teams hatten die Abschnitte im Vorfeld besichtigt und schickten die Fahrer mit Spezialrädern mit breiteren, nicht ganz so hart aufgepumpten Reifen ins Rennen.

Passage aus Kopfsteinpflaster
Passage aus KopfsteinpflasterREUTERS

Entscheidende Attacke von Martin

Pünktlich zu den letzten sechs der sieben Kopfsteinpflasterpassagen gut 45 km vor dem Ziel setzte kurz leichter Regen ein, eine erneute Rutschpartie blieb aber aus. Stattdessen brannte der Staub in Lungen und Augen. Von den Favoriten machte Titelverteidiger Vincenzo Nibali die beste Figur. Trotz mehrerer Attacken des Astana-Kapitäns aber hielten im Gegensatz zum Vorjahr, als sich Alberto Contador auf den Pavés 2:35 Minuten hatte abnehmen lassen, die Konkurrenten diesmal mit.

Etwa drei Kilometer vor dem Ziel setzte sich Tony Martin erfolgreich ab und sprintete vor vor seinem deutschen Landsmann John Degenkolb und Peter Sagan (SVK) zum Tagessieg. Damit übernahm der mehrmalige Zeitfahr-Weltmeister auch das Gelbe Trikot von Chris Froome. Der Brite überstand im Gegensatz zum Vorjahr, als er nach einem Handgelenksbruch hatte aufgeben müssen, die sieben Kopfsteinabschnitte diesmal ohne Sturz. Neben Froome kamen auch Nibali, Nairo Quintana und Alberto Contador mit der von Degenkolb angeführten Gruppe ins Ziel.

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