Mythos zwischen Nostalgie und Altlasten

CYCLING - Tour de France 2015
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Chris Froome feiert heute in Paris seinen zweiten Sieg bei der Tour de France – ein unscheinbarer Gewinner verglichen mit einstigen Helden wie Eddy Merckx.

„Ce jour où Merckx a disparu.“ Der Tag, an dem Merckx verschwand. Es ist der Tag der ersten Alpenetappe Digne-les-Bains über den 2250 Meter hohen Col d'Allos nach Pra Loup, an dem das Tour-Organ „L'Équipe“ eine ganze Seite der Erinnerung an 1975 widmete. Damals, vor vierzig Jahren auf der Pra-Loup-Etappe, verlor der große Eddy Merckx das Gelbe Trikot und die Tour gegen Bernard Thévenet. Es wäre der sechste Triumph des großen Belgiers gewesen. Nun aber musste der „Kannibale“, wie der ewig siegeshungrige größte Radrennfahrer der Sportgeschichte genannt wurde, mit dem zweiten Rang hinter dem Franzosen Vorlieb nehmen.

Ob in vierzig Jahren „L'Équipe“ dem Briten Chris Froome eine Seite widmen wird, wie er am 14. Juli 2015, dem französischen Nationalfeiertag, seine Rivalen auf der ersten Pyrenäen-Etappe hinauf nach La Pierre Saint-Martin in Grund und Boden fuhr, die Konkurrenz demütigte und deklassierte? Die Schlagzeile „Frappant“ (Frappierend) anno 2055 wiederholen wird? Ganz gewiss nicht.

Das Epo-verseuchte 21. Jahrhundert gebiert keine Tour-Helden mehr. Froome, Vincenzo Nibali, Bradley Wiggins, Cadel Evans, Alberto Contador, oder gar Andy Schleck und Oscar Pereiro, Sieger nur durch die wegen Dopings disqualifizierten Floyd Landis und Contador, sind samt und sonders blasse Typen, ohne Aura, ohne Ausstrahlung, ohne Charisma. Keine „Vedettes“, wie die Franzosen Berühmtheiten verehren. Ja, Lance Armstrong hätte ein Jahrhundert-Vedette wie die unumstrittenen fünfmaligen Sieger Jacques Anquetil, Merckx, Bernard Hinault und Miguel Indurain werden können, wäre der selbstherrliche, skrupellose, arrogante Amerikaner nicht als der schamloseste Lügner und unverfrorenste Betrüger der Tour-Geschichte entlarvt worden. So bleibt die erbärmliche Siegerliste mit zuletzt wenig populären Namen sogar von 1999 bis 2005 ganz blank.


Flucht in die Nostalgie. Welches Armutszeugnis für das größte Sportereignis der Welt nach Olympischen Spielen und der Fußball-Weltmeisterschaft. Weil die Gegenwart, die heute in Paris endende 102. Tour de France, kaum einen Platz in der Geschichte einnehmen wird, flüchten die Nostalgiker in die Historie. In Pau wurde am 13. Juli das Freiluft-Museum „Les Géants du Tour“ feierlich mit Tour-Chef Christian Prudhomme an der Spitze der Honoratioren eröffnet. Unter den 101 Tour-Siegern fanden sogar die sieben Säulen des Lance Armstrong ihren Platz. Es dürfte der einzige Flecken auf Erden sein, auf dem der verteufelte Texaner nicht geächtet ist. Das Wort Doping wird in den Texten der gelben Denkmäler tunlichst vermieden. Nur eine Fußnote verweist darauf, dass die UCI Armstrong alle sieben Siege aberkannt habe.

Die Franzosen und mit ihnen Radsportfans aus ganz Europa lieben die Tour als gigantisches Spektakel, als überdimensionale Sportarena, als alljährliches Ferien-Caravan-Festival. Millionen und Abermillionen säumen die Straßen und bevölkern die Hochgebirgspässe. Ohne Eintritt kommen sie den Akteuren hautnah. Die Rennfahrer müssen sich manchmal den Weg mit Seitenschlägen freikämpfen.

Den aktuellen Leader im Gelben Trikot, der voraussichtlich zum zweiten Mal die Tour gewinnen wird, mögen die Franzosen nicht. Sogar mit einem Becher Urin wurde Froome beworfen. Ihre Tour in den Beinen der Briten – das scheint den Nationalstolz der Franzosen zu verletzen, nicht zuletzt, weil sie sich nun schon seit dreißig Jahren, seit Hinaults fünftem Triumph 1985, nach einem Landsmann sehnen, der das Maillot jaune nach Paris trägt.


Schatten der alten Garde. Der Argwohn klebt wie eine Klette am Hinterrad Chris Froomes. Die hartnäckigen Fragen, die wiederholten Beteuerungen, er sei sauber, auf den täglichen Pressekonferenzen erinnern an das Prozedere der Armstrong-Jahre. Die deutsche Presseagentur DPA hat sich die Mühe gemacht und aufgespürt, wer von der alten Doping-Garde noch im Tour-Tross aktiv tätig ist. Das Ergebnis: jede Menge belastete Typen. Sei es als TV-Kommentatoren bei France 2/3 wie „Volksheld“ Laurent Jalabert oder Richard Virenque bei Europe 1. Ausgerechnet Jalabert hatte die Zweifel an Froomes Sauberkeit nach dessen schier unglaublicher Kletterleistung im Fernsehen gestreut. „JaJa“ war als Doper 1998 enttarnt worden. Alexander Winokurow sitzt auf dem Kommandostand von Astana, der die Tour mit seinem Blutdopingskandal 2007 fast in den Abgrund getrieben hatte.

Da fragt sich ein Lance Armstrong, dessen Teilnahme an einem Wohltätigkeitsrennen in Frankreich für Aufruhr gesorgt hatte, nicht ganz zu Unrecht: „Warum bin ich nicht willkommen? Weil ich ein Doper bin? Wenn das die Regeln sind, ist die Karawane fast leer. Ich meine nicht die heutigen Fahrer, sondern den Pressesaal, die Kommentatoren-Boxen, die Team-Autos.“

Französischer Tagessieg

Unter dem Jubel tausender französischer Fans gewann Lokalmatador Thibaut Pinot die 20. Etappe von Modane nach L'Alpe d'Huez. Pinot hatte nach dem legendären Anstieg über 13,8 Kilometer 18 Sekunden Vorsprung auf Nairo Quintana. Chris Froome kam als Fünfter mit 1:38 Minuten Rückstand ins Ziel und verteidigte Gelb (1:12 Vorsprung auf Quintana).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.07.2015)

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