Rugby: Der Mythos der All Blacks

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Neuseeland leidet während der Rugby-WM unter gehöriger Schlaflosigkeit, die Zeitverschiebung forciert Frühaufsteher. Die Mannschaft aber gilt als nationales Heiligtum.

Ihre Gesichter sind fahl, die Augen gerötet und die meisten von ihnen sind ganz in Schwarz gekleidet. Doch diejenigen, die sich in einem Pub in Christchurch eingefunden haben, sind keine Trauergäste. Sie sind Neuseeländer. Und das bedeutet momentan, frühmorgens um drei Uhr aufzustehen, um die All Blacks bei der Rugby-WM in England und Wales spielen zu sehen. Dieses Spiel wiederholte sich nun gegen Namibia zum zweiten Mal, die All Blacks siegten 58:14. Derzeit beginnt in Neuseeland der Alltag eben schon sehr früh.

Es gibt Mannschaften, die für sich reklamieren, ein ganzes Land zu vereinen. Die All Blacks haben das nicht nötig, weil es offensichtlich ist. Weil man die amtierenden Weltmeister trotz ihrer Bedeutung seit Jahren nur im Pay-TV oder in einer Sportbar zu sehen bekommt, sah sich sogar Neuseelands Regierung zu einer Gesetzesänderung gezwungen. Für Bars, die WM-Spiele live übertragen, wurde die Sperrstunde aufgehoben. Ein Besitzer hat ausgerechnet, dass sein Pub an manchen Tagen nun 23 Stunden geöffnet sein wird. Kritiker befürchten, dass die WM zu einem Saufexzess verkommt und häusliche Gewalt weiter ansteigt; ihre Stimmen werden überhört.

Wichtiger als jede Politik. Rugby ist in Neuseeland eine nationale Angelegenheit. Das zeigt sich nicht nur daran, dass der WM-Kader im Parlament bekannt gegeben wurde, sondern auch daran, dass die Rugby-Mannschaft der Abgeordneten auf Sponsorenkosten für zwei Wochen nach Großbritannien reist. Dass zwei Minister dabei sind und dafür auf Parlamentssitzungen verzichten, sorgt für keine allzu große Empörung. Aber wie auch Österreichs Politiker pflegen die Kiwi-Kollegen ihren Status: Premierminister John Key lässt regelmäßig nach Spielen mit Sohn Max Erinnerungsfotos schießen . . .

Rugby ist in Neuseeland wichtiger als Politik, und das liegt nicht zuletzt an den Erfolgen der All Blacks. Sie prägen den Sport wie kein anderes Team, was auch darin zum Ausdruck kommt, dass acht der 20 WM-Teilnehmer einen Kiwi-Trainer haben und dass die Japaner, die zum Auftakt Südafrika sensationell schlugen, sogar gleich sechs gebürtige Kiwis in ihren Reihen haben.

Die All Blacks haben sich längst zu einer globalen Sportmarke entwickelt. Und die Stars haben ihrem mit Minderwertigkeitskomplexen behafteten Heimatland damit das Gefühl vermittelt, doch nicht so vollkommen bedeutungslos zu sein.

Das inspirierte Key, ein Referendum anzuschieben, mit dem nächstes Jahr über die Nationalflagge entschieden wird. Der Premierminister will die Fahne mit dem Union Jack der alten Kolonialmacht Großbritannien ersetzen, zumal sie nicht eben selten mit der Flagge des großen Nachbarn Australien verwechselt wird. Key ist der Überzeugung, dass eine Flagge „sofort wiedererkennbar“ sein sollte. Und er hat sich auf sein Wunschmotiv festgelegt: den Silberfarn, den auch die All Blacks tragen. Dass es sich dabei eher um den Markenkern neuseeländischer Unternehmen als um das identitätsstiftende Symbol handelt, übersieht er. Kritiker werfen ihm zudem vor, dass er eine künstliche Debatte über Neuseeland und seine Werte angestoßen hat.

Silberfarn und Markenschutz. Tatsächlich geht es in der Flaggenfrage weniger um Inhalte und Werte Neuseelands, sondern vielmehr um die politische Macht John Keys. Der Premierminister hat eine Diskussion entfacht, die wesentlich wichtigere Themen überlagert: die Immobilienblase in Auckland, die wirtschaftlichen Sorgen, die mit der großen Nähe zu China verbunden sind, und auch das blamable Auftreten in der Flüchtlingsfrage, das darin mündete, in den kommenden drei Jahren nur 600 zusätzliche Flüchtlinge aufzunehmen. Key verspürt jedenfalls Gegenwind für sein Referendum, der Rugbyverband wies den Politiker sicherheitshalber darauf hin, dass sein Silberfarn-Logo markenrechtlich geschützt ist . . .

Eine WM für 545 Millionen Euro. Es ist nicht nur Muskelkraft, sondern eine Marketingmaschine. So drohten die All Blacks zwischenzeitlich, gar nicht erst bei der laufenden WM anzutreten, wenn die Verbände nicht besser für ihre Teilnahme entlohnt werden. Das ist bemerkenswert, wenn man bedenkt, dass Rugby bis 1995 als reiner Amateursport galt. Auch gelten die WM-Einnahmen im Vergleich zu Fußball oder Olympia eher als bescheiden, 545 Millionen Euro sollen generiert werden und die Entwicklung zu einer Kommerzveranstaltung abschließen.

Die All Blacks brauchen Geld, um ihren Status zu wahren. Denn zum Schutz der heimischen Liga bestehen sie darauf, keine Legionäre einzusetzen. Einige Spieler erliegen dem Ruf des Geldes aus Europa, doch die meisten Stars bleiben in der Heimat und gleichen geringere Gagen mit privaten Werbeverträgen aus.

Bei all dem Kult und der Begeisterung sollte eines nicht vergessen werden: Ebenso legendär wie ihr Tanz, der Haka, den sie vor jedem Spiel aufführen, ist ihre Unfähigkeit, den Titel fern der Heimat zu holen. Zweimal haben sie ihn in Auckland gewonnen, sechsmal sind sie anderswo als Favoriten gescheitert. Diesen Bann wollen sie brechen und zugleich das erste Team werden, das seinen Titel verteidigt, sich zum dritten Mal die Krone aufsetzt. Bis zum Finale am 31. Oktober werden sie ihren Landsleuten also garantiert noch etliche schlaflose Nächte bescheren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.09.2015)

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