Wien-Marathon: Visionen, Emotionen und Blockaden

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Österreich, ein Land ohne Sportkultur? Der Vienna City Marathon liefert jährlich eine Ausnahme, neue Vorbilder und Anreize. Laufen ist auch Philosophie, doch das Setzen des ersten Schrittes bleibt eine Erziehungsfrage.

Wien. Einmal im Jahr, es mutet traditionell an, ist ganz Wien wirklich auf den Beinen. Dann haben Sport und Bewegung die Metropole, die sich sonst vergeblich mit dem Titel einer „Sportstadt“ schmückt, tatsächlich in Besitz genommen. Straßensperren und Umleitungen wecken sogar Emotionen und Lauflust bei Autofahrern, die den Termin des Vienna City Marathons vergessen haben. Entlang der Strecke des 42,195 Kilometer langen Rennens quer durch die Stadt bilden Tausende Schaulustige die Szenerie und über 42.000 Läufer liefern auf der Strecke schrittweise selbst einzigartige Impressionen.


Sonntag ist es wieder so weit, die 33. Auflage ruft und mit ihr wird abermals auch die Frage laut, warum denn Bewegung nur einmal im Jahr zum breitenwirksamen Thema wird. Das Schweigen der Politik, das Wegschauen der Eltern in Kombination mit dem zusehends größer werdenden Desinteresse der Kinder sorgen dafür, dass die Zahl fettleibiger Jugendlicher konstant steigt.

Wien feiert 42.207 Starter

Eines von vier Kindern in Österreich soll übergewichtig sein, laut einer Studie wird die Generation der jetzt 14-Jährigen die erste sein, bei der die durchschnittliche Lebenserwartung wieder rückläufig ist. Die Gründe liegen auf der Hand: Diabetes, schlechte Ernährung, Herzprobleme, Bewegungsarmut etc. Da können sich die Organisatoren rund um Wolfgang Konrad noch so ins Zeug legen; sie geben ihr Bestes und sind auch frei von Schuld. Es ist aber ein eklatantes Versäumnis des Systems, der jeweiligen Familien – denn der Wunsch, sich zu bewegen und Sport zu betreiben, muss in den eigenen vier Wänden reifen, später in Kindergärten und Schulen vorangetrieben werden.

„Eltern im Sport“ ist auch das Leitthema des 2. Sportforums Schladming (2. bis 4. Juni). Man will dort Fakten aufzeigen, Diskussionen starten und der Politik Anreize bieten, doch aktiver zu werden. Gesundheit, Erziehung, Bildung, Integration, wirtschaftliche Bedeutung von Sport – Aspekte, die in Österreichs Gesellschaft und Politik kaum wahrgenommen werden. Konrad wird dort ebenfalls seine Sicht der Dinge vortragen, ihm geht es jedoch primär nicht um Kritik, sondern um das Finden von Lösungen.

Der Wien-Marathon liefert jedenfalls ein Beispiel dafür, was möglich wäre, würde man es denn wirklich wollen.

Dieses Rennen ist (nur) ein Einzel-Event und gewiss nicht jedermanns Angelegenheit, seine Zahlen allerdings imponieren, sie geben Hoffnung für das Pflänzchen namens „Bewegung“. 9416 Menschen laufen die volle Distanz, 15.220 den OMV-Halbmarathon, 14.840 sind im Staffelmarathon (3710 Teams) unterwegs, dazu die Get-active-Bewerbe – gesamt sind es 42.207. Jeder Starter ist ein Sieger, wer auch ins Ziel kommt, endgültig ein Held. Und wer weiß, vielleicht ist er auch ein Vorbild für den Knirps am Straßenrand, der die Läufer am Sonntag (Start 9 Uhr, Wagramerstraße, Ziel vor dem Burgtheater) anfeuert.

Liessmann: „Wir sind Ausdauerläufer“

Laufen, Sinn, Mythos, Faszination – es gibt Ansätze sonder Zahl, sich dieser Urform der Fortbewegung anzunähern. Aber der Reiz? Der Philosoph Konrad Paul Liessmann sagt: „Wir sind nicht als Sprinter auf die Welt gekommen, sondern als Ausdauerläufer. Vielleicht macht das die Faszination des Marathons aus. Es entspricht unserer ursprünglichen Konstitution, ausdauernd einer Sache hinterherjagen zu können. Ein Moment, der die Faszination des Laufens ausmacht, liegt in der Natur des Laufens selber. Es gibt die Theorie, dass das Laufen vielleicht der Faktor ist, warum der Mensch zum Menschen geworden ist.“

Jedes Rennen lebt freilich von seiner Zeit, dem Streben nach Rekorden. Bestmarken sind die Visitenkarte des Events neben Startern und denen, die es ins Ziel schaffen und als Finisher in die Statistik Einzug halten. Am Sonntag soll die 24-jährige Äthiopierin Guteni Shone (Bestzeit: 2:23:32 Stunden) die seit 2000 unerreichte Bestzeit der Italienerin Maura Viceconte von 2:23:47 Stunden knacken. Und dann, was geschieht nach dem Zieleinlauf? Dann sollte der eigene, individuelle Wettlauf eigentlich erst beginnen . . .

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.04.2016)

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