Rio oder Rauswurf: Russland spaltet den Weltsport

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ATHLETICS-DIAMOND-QAT(c) APA/AFP/KARIM JAAFAR
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Russlands Leichtathleten erfahren heute in Wien, ob sie bei Olympia in Rio de Janeiro starten dürfen. Es deutet jedoch alles darauf hin, dass die seit 13. November 2015 geltende Aussperrung von internationalen Bewerben fortgesetzt wird – es gibt gehörige Zweifel am russischen Neubeginn.

Wien. Für Russlands Leichtathleten wird es heute im Wiener Grand Hotel eng. Der Weltverband IAAF hat sich hier eingemietet, das Council – angeführt von Englands Lauf-Ikone und Präsident Sebastian Coe – berät über die Aus- oder Fortsetzung der seit 13. November 2015 verhängten Aussperrung von Russen bei internationalen Bewerben. Es ist ein historisches Urteil in der rund 120-jährigen Olympia-Geschichte zu erwarten: die Sperre für die am 5. August in Rio de Janeiro startenden Sommerspiele.

Nun rätselt die Welt: Wie konnte es so weit kommen? Hat Russland tatsächlich ein derart dreistes Dopingsystem, sind Geheimdienste involviert? Sind es Lügen, westliche Propaganda – und: Was können „saubere“ Athleten dafür? Es ist ein Spagat zwischen Kollektivstrafe und individuellem Recht.

Belege und Dokumente zum flächendeckenden Doping in Russland sind erstmals in der ARD-Dokumentation „Geheimsache Doping – Wie Russland seine Sieger macht“ im Dezember 2015 öffentlich gemacht worden. Systematisches Doping, Vertuschung von Kontrollen und Korruption – die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) reagierte, der in Österreich aufgrund gedopter ÖSV-Langläufer bekannte Kanadier Dick Pound leitete eine Untersuchung. Der 323 Seiten umfassende Report bestätigte die Probleme.

„Reich der Lügen“

Es folgten Dementis sonder Zahl, Russlands Sportminister, Witali Mutko, verwies stets alle Vorwürfe ins „Reich der Lügen“. Er ließ aber auch Maßnahmen zu: Leichtathletik-Chef Balachnitschjow musste zurücktreten, zig Trainer wurden entlassen, Briten durften Dopingtests an Russen vornehmen – und, das ist womöglich die Olympia-Rettung für manche Athleten: Experte Peter Nicholson durfte im Auftrag der Wada den Wiederaufbau des Anti-Doping-Systems überwachen.

Doch das Insiderwissen von Witali Stepanow und Julia Stepanowa war entlarvend. Sie nannten Ablauf, Mittel, Organisation – alles. Die Whistleblower leben seither an einem unbekannten Ort in Amerika. Dort ist auch der ehemalige Leiter des Moskauer Dopinglabors, Grigori Rodschenkow, untergetaucht. Er verriet, dass auch bei den Winterspielen in Sotschi 2014 mindestens 15 gedopte Russen geschützt wurden – mit getauschten Urinproben, dank des Geheimdienstes FSB.

Die Wogen glätteten sich keineswegs, im Gegenteil: Die Zahl der Vorwürfe – ungeachtet der Meldonium-Fälle in anderen Sportarten – nahm zu. Nun lässt ein aktueller Bericht der Welt-Anti-Doping-Agentur aufhorchen. Zwischen 15. Februar und 29. Mai konnten 736 Dopingkontrollen in Russland nicht durchgeführt werden. Die Kontrolleure wurden behindert, sollen von FSB-Beamten eingeschüchtert worden sein. Pakete mit Dopingproben wurden vom Zoll manipuliert – diese Anschuldigungen stammen aus keinem Hollywood-Drehbuch, sondern stehen in offiziellen Dokumenten.

Selbst der fragwürdige Punkt des Anti-Doping-Codes, dass Sportler zu jeder Uhrzeit ihren Aufenthaltsort für „Zufallskontrollen“ nennen müssen, scheint in Russland leicht zu umgehen. Laut Wada hatten viele als Aufenthaltsort militärische Einrichtungen angegeben, zu denen man ohne Sondergenehmigung keinen Zutritt erhält.

Saubere Läufer unter neutraler Flagge?

Wenn heute, 17 Uhr, Sebastian Coe also in den Ballraum Quadrille des Grand Hotels tritt und das Urteil des 27 Mitglieder starken Council verkünden wird, könnte sich der Weltsport verändern. So wie 1989, als an gleicher Stelle Kanadas gefallener Sprint-Star Ben Johnson gesperrt wurde.

Russlands Leichtathleten dürften bei Olympia fehlen. Eine letzte Option, sie ist heikler sport-diplomatischer Natur, könnte sein, heuer mehrfach getesteten und damit als „sauber“ geltenden Athleten (Stichwort: Zielkontrolle) die Möglichkeit einzuräumen, unter neutraler Fahne, also der des Internationalen Olympischen Komitees, in Brasilien mitzumachen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.06.2016)

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