Geipel: "Athleten sind verführbar, das System kriminell"

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Die Ex-DDR-Sprinterin, Autorin und Uni-Professorin spricht über ihre Vergangenheit, Lügen und das Versagen der Intellektuellen beim Sport. In fünf Jahren werde niemand mehr über Doping reden, prophezeit sie.

Warum hat der Sport eine so geringe Selbstachtung und tut sich Sachen wie Doping im großen Stil an?

Ines Geipel: Die Gründe sind denkbar simpel: Geld.

Viele DDR-Trainer und -Mediziner sind nach dem Mauerfall ja nach Österreich ausgewandert.

Und die Österreicher haben sie mit offenen Armen empfangen und nach einigen Jahren auch entsprechende Ergebnisse gehabt. Das System ist das System. Es funktioniert nicht unter moralischen Gesichtspunkten.

Es wird aber stets als so moralisch verkauft.

Es wäre höchst fahrlässig zu glauben, dass der heutige Sport noch in irgendeiner Verbindung mit so schönen Worten wie Idee, Fairness, Moral steht. Wir haben heute einen absurden Sport von Maschinen, der am Ende ein Maximum an Schaden, aber auch Geld produziert. Beides kommt in den seltensten Fällen in den Blick. Was wir geliefert bekommen, sind schöne Bilder, also einen dicken Batzen Illusion. Und weder in der Politik noch im Sport selbst oder in Sekundärapparaten wie Kirche oder Ethikräten gibt es zu diesem Irrsinn irgendeine ernst zu nehmende Korrektur. Heile Welt hat immer Konjunktur.

Gegen Bauprojekte, Sozialabbau oder die Verlängerung der Laufzeit alter Atomkraftwerke wird demonstriert. Warum wehrt sich niemand gegen die Fehlentwicklungen im Sport?

Weil der als Sonderraum etabliert ist. Und Thomas Bach (Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, Anm.) beispielsweise, der das wie ein Gebet immer fordert, kommt damit durch. Wir haben Jahrzehnte an Diskussionen hinter uns und keine Instanzen schaffen können, die dem Sport wirklich etwas abverlangen. Wir produzieren wie am Fließband nette Nationalgüter wie unsere siegenden Fußballer oder die Medaillen einheimsenden Wintersportler. Und obwohl alle wissen, dass die Archive voller falscher Bilder und Rekorde sind, stört das niemanden, eher scheint genau das auf seltsame Weise besonders zu beruhigen.

Warum war nicht einmal der radikale Einschnitt der Wiedervereinigung ein Anlass, aufzuräumen? Die Deutschen sind doch sonst – im Unterschied zu den Österreichern– nicht so zimperlich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit.

Es scheint um eine spezielle Lust zu gehen, sich die Toten wegzulügen. Unser gesamter intellektueller Apparat versagt unisono, was den Sport betrifft. Bis auf Peter Sloterdijk ist keiner in der Lage, einen vernünftigen Satz zu diesen Verwerfungen zu sagen. Aus den Unis, aus der Kunst kriegst du nur den Satz: Ach, die machen es ja alle, die wissen schon, was sie tun. Das Intellektuellenkollektiv braucht den Sport, um seinen Selbsthass auszuleben, eine Art ritualisierte Ersatzhaltung falscher Fans. Wir müssten uns als Gesellschaft endlich von der großen Heldengeschichte emanzipieren. Aber hier ist kein Land in Sicht. Im Gegenteil, das kriminell fein abgesicherte System Sport bestätigt sich auf atemberaubende Weise. Wir brauchen keine Chemie im Körper mehr, wir können unsere Gehirne von außen steuern lassen mit transcranialen Hirnströmen. Die Anti-Doping-Labore sind heute eh schon nur noch Makulatur, wenn das Gehirndoping aber durch ist, einmal mehr.

Kann das ewig so weitergehen oder klappt irgendwann die Glaubwürdigkeit zusammen?

Wieso, der Vorhang ist doch auf. Im Grunde wissen wir alles. In vier, fünf Jahren spricht kein Mensch mehr von Doping. Es gibt auch immer weniger engagierte Sportjournalisten. Vor sechs Jahren, als es um das Outing der deutschen Radsportler ging, war man sich einig in Sachen dreckiger Sport. Inzwischen ist es still geworden, gibt es kaum noch investigative Recherche. Was ist denn nun mit unseren Fußballern? Während der WM gab es keine einzige harte Recherche zum Doping, obwohl bekannt ist, dass es Systemdoping im Fußball gibt. Aber wir sind ja alle Fans, und für Fans ist Realität eher etwas Hinderliches. Außerdem ist Fußball so was wie die innere Regierung in Deutschland. Vor der haben alle Schiss.

Die Spieler in der Champions League werdennicht mehr müde.

(Lacht) Im Gegenteil, die werden immer munterer. Wenn man sich Fußballspiele von vor 15 Jahren ansieht, dann können die ab der 70. Minute keinen Schritt mehr laufen. Heute haben wir Fußballer, die werden ab der 70. immer schneller. Die deutsche Mannschaft ist auf irre Weise schnell. Wie, wodurch?

Ist Sport ein systemübergreifendes Lügengebäude? Denn weder in China noch in den USA noch in der DDR noch in der BRD wurde dagegen angegangen. Wollte man in Deutschland die Aufarbeitung der DDR- oder der BRD-Vergangenheit vermeiden?

Wenn die heutige Bundesrepublik in der Lage wäre, das Pro-Doping-System an der Universität Freiburg aufzuklären, wäre man auch in Sachen DDR weitergekommen. Aber hier spielen Ost und West seit 20 Jahren über Bande. Man bräuchte sich nur anzusehen, wie viel Pharmaindustrie des Westens in den 1980ern in der DDR war und Menschenversuche an Athleten gemacht hat. Wenn man an der Stelle zu recherchieren anfängt, ist ziemlich schnell Schluss mit lustig. Durch diese Allianzen wäre ja auch klarer, wie die Giftgeschichte im Sport weitergegangen ist. Nein, es gibt hier keinerlei Satisfaktionsbedarf. Die Täter werden meistbietend freigesprochen. Man richtet da so schöne Waschtrommeln ein, sogenannte Aufarbeitungskommissionen. Da wird viel getagt, und am Ende werden alle diese Körperverletzer auch noch Bundestrainer. Das ist absurd.

Friedrich Schillers Satz über die ästhetische Erziehung, demzufolge der Mensch sich nur im Spiel in seiner Ganzheit entwickle, scheint auf eine böse, absurde Weise verwirklicht?

(Lacht) Es gibt offensichtlich verschiedene Spielbegriffe. Ich mag den von Schiller, aber Sport ist kein Spiel, sondern ein gnadenloses Geschäft. Ich hab ja selbst eine Geschichte darin und schaffe es einfach nicht mehr, mich moralisch aufzuregen. Ich sehe, wie links und rechts die ehemaligen DDR-Athleten wegsterben. Sie sind hochgradig krank und kommen nicht mehr ins Leben. Im gleichen Atemzug haben sie Thomas Bach und die ehemalige Eiskunstlauf-Olympiasiegerin aus der DDR, Katharina Witt, Rücken an Rücken. Die beiden bereiten Olympia 2018 in München vor. Mehr Symbolik, was der vereinte Sport heute ist, als durch Frau Witt dürfte kaum möglich sein. Das schönste Gesicht einer Diktatur, wie es immer hieß, sitzt heute mit dem schwersten Wirtschaftslobbyisten Bach und bereitet die nächsten Fake-Spiele für Deutschland vor. Gegen den massiven Widerstand vonseiten der bayerischen Bauern und Umweltschützer. Aber was soll's. Wir haben Spaß verdient, also kriegen wir ihn. Freilich bei all dem kein Wort darüber, dass sich Frau Witt von der Stasi ihre Autos hat vor die Tür stellen lassen.

Gibt es keine Hoffnung? Es gibt die Wada, es gibt die Affäre Pechstein, in der Aufklärung versucht wird. Und in Österreich das neue Anti-Doping-Gesetz.

Ich spreche hier vom System und nicht von Einzelnen, die immer wieder neu hoffen wollen. Als System ist der Sport mausetot. Die Leute wollen Brot und Spiele, die Wada schläft den Schlaf der Gerechten, Frau Merkel (die deutsche Bundeskanzlerin, Anm) schätzt es über die Maßen, über den grünen Rasen zu stürmen, wenn das Spiel der deutschen Fußball-Nationalmannschaft aus ist, es gibt jede Menge neues Doping, das die Labore nie auf den Tisch kriegen, und eine lange Interessenkette, die viel Kohle verdient. Mit dem Spiel ist es aus.

Wie leben Sie mit Ihrer Geschichte in diesem System, mit so viel Bitterkeit und Resignation?

Ich bin ja nicht mehr in diesem System. Man kann noch versuchen, dass die kaputten DDR-Athleten eine kleine Pension bekommen. Dazu haben wir Gespräche mit dem DOSB und dem Innenministerium geführt. Das hätte man sich auch sparen können. Fazit: ein Desaster. Ich schlage auch regelmäßig vor, dass man den alimentierten Spitzensport aussetzt, den Kindern stattdessen ordentliche Sportschuhe und den Erwachsenen ein vernünftiges Fahrrad kauft. Ich kann nicht gerade behaupten, dass mein Vorschlag bisher auf große Gegenliebe gestoßen wäre. Als Geschädigte des DDR-Sports wollten wir den Bruch einfordern und miterzählen, das ist nicht gelungen. Der Wunsch nach heiler Welt ist zu groß. Ehrlich, mir wäre wohler, wenn ich pro Jahr von ein paar Todesgeschichten weniger lesen würde.

Ist Sport ein Realtime-Schauspiel, welche Verbindungen zur Kunst bestehen?

Ich kann diese Idee der Kunst nicht verlassen, wohin soll ich mich denn wenden? Aber klar gibt es Analogien, beide Bereiche sind weniger weit voneinander entfernt, als man glaubt. Aber der Kunst würde ich immer noch Inselexistenzen zubilligen, die ich im Sport nicht mehr sehe. Höchstens noch in den ganz jungen Sportarten, da sehe ich noch diese Werdensidee. Aber alles, was einmal in den Olymp aufgenommen wird, ist tote Ware. Das ist in der Kunst genauso, wenn es um diese Kulturbulimie geht.

Olympische Spiele und Salzburger Festspiele?

Genau, daran denke ich auch im Augenblick.

Mesut Özil und Hermann Maier sind und bleiben dennoch faszinierende Persönlichkeiten?

Das ist ein Typus, aber den haben Sie in jedem Bereich. Ich spreche ja politisch, und sowieso würde ich die Athleten immer freisprechen. Athleten sind sicher verführbar, aber sie sind nicht kriminell. Das System ist kriminell.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.10.2010)

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