Spielraum

Die ultimative Reifeprüfung

Die French Open werden für Dominic Thiem zur ultimativen Reifeprüfung. Ein Turniersieg des 23-Jährigen ist nicht völlig illusorisch, aber der Weg dorthin ist unendlich weit. Es wartet ein Marathon der Herausforderungen.

Dominic Thiem reiste, an Siegen gemessen, als zweitbester Sandplatzspieler des Jahres zu den French Open nach Paris. 17 Spiele hat Österreichs Nummer eins auf der roten Asche in dieser Saison bereits gewonnen, einzig vier verloren. Eindrucksvoller liest sich nur die Bilanz von Rafael Nadal (17:1) – die einzige Niederlage musste der Sandplatzkönig aus Mallorca ausgerechnet gegen Thiem hinnehmen.

Die Vielzahl an Siegen, aber vor allem die Art und Weise, wie Thiem diese erspielte, haben die Erwartungen an den Niederösterreicher im Vorfeld des zweiten Grand-Slam-Turniers 2017 beträchtlich steigen lassen. Allerdings, sie allein sind freilich kein Garant für den zweiten Coup eines Österreichers in Paris nach Thomas Muster 1995, auch hat Thiem seinen Platz im Endspiel längst nicht fix. Nein, nicht einmal ein Erstrundensieg ist beschlossene Sache.

Ein Grand Slam, daran gibt es keine Zweifel, ist der größtmögliche Härtetest für jeden Tennisprofi. Wer in Melbourne, Paris, London oder New York triumphieren will, der muss über einen Zeitraum von zwei Wochen in sieben Matches gegen die unterschiedlichsten Gegner funktionieren. Körperlich, mental, spielerisch. Ein Marathon der Herausforderungen.

Dass sich in der vergangenen Dekade nur sieben Spieler die wichtigsten Trophäen praktisch unter Ausschluss der Konkurrenz ausgespielt haben, ist kein Zufall. Ein Grand Slam hat mit einem beliebigen Turnier im Tenniszirkus wenig gemein. Alles ist größer; die Stadien, das Publikumsinteresse, der Medienandrang. Und damit einhergehend der Druck. Dominic Thiem steht in Paris vor seiner vierten French-Open-Teilnahme, sie wird für ihn zur ultimativen Reifeprüfung. Erstmals zählt der 23-Jährige zum Kreis der Titelanwärter, er ist nicht länger bloß ein chancenreicher Außenseiter mit Überraschungspotenzial. Wettbüros handeln nur Nadal und Novak Djoković höher.

Thiem hat sich mit seinen jüngsten Erfolgen in eine neue Situation manövriert. Nun gilt es, richtig damit umzugehen. Druck und Erwartungen können belasten – oder beflügeln. Sie können lähmen – oder motivieren. Österreichs zweitbester Tennisspieler aller Zeiten weiß um seine Qualitäten. Um die spielerischen Fertigkeiten, mit seinen Schlägen wirklich jeden Spieler auf der anderen Seite des Platzes in Bedrängnis bringen zu können.

In Paris wird Thiems Abschneiden ganz wesentlich von seiner mentalen Leistungsfähigkeit abhängen. Hat er auf der größtmöglichen aller Bühnen das Vertrauen in sein Können, den Glauben an aufeinanderfolgende Siege gegen Djoković und Nadal, dann scheint ein Turniersieg nicht illusorisch. Es wäre der nächste Schritt auf der Karriereleiter. Zuzutrauen ist dieser ihm allemal.

christoph.gastinger@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.05.2017)

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