Wenn ich nur aufhören könnt'

TENNIS: GENERALI OPEN IN KITZBUeHEL: JUeRGEN MELZER (AUT)
TENNIS: GENERALI OPEN IN KITZBUeHEL: JUeRGEN MELZER (AUT)HELMUT FOHRINGER / APA / picturedesk.com
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Nach neunmonatiger Verletzungspause kehrte Jürgen Melzer, 35, zurück auf den Tennisplatz. Das Karriereende hat noch Zeit.

Schauplatz New York. Donnerstag, 3. September 2015. Jürgen Melzer verliert in der zweiten Runde der US Open gegen den Tschechen Tomas Berdych. Was der Niederösterreicher beim Verlassen des Platzes in Flushing Meadows nicht ahnt, ist die lange Leidenszeit, die ihm bevorsteht. Melzer bestreitet bis zu seiner Rückkehr bei einem Challenger-Turnier Mitte Juni dieses Jahres kein einziges Spiel mehr. Hinter ihm liegen neun Monate voller Entbehrungen und Zweifel.

Eine Schulterverletzung hat sich im vergangenen Herbst als kompliziert herausgestellt, rückblickend sagt Melzer: „Ich hätte nie gedacht, dass es so schlimm ist.“ Die Diagnose: ein Riss des Labrums, der Umrahmung der Gelenkspfanne. Nach drei Monaten konservativer Therapie entschloss sich der damals 34-Jährige zu einer Operation Ende November, wohl wissend, welch Risken ein solcher Eingriff bei seinem Schlagarm birgt – im Bewusstsein, dass es die einzige Chance ist, noch einmal schmerzfrei auf höchstem Niveau Tennis spielen zu können.

Statt sich wie all seine Kollegen auf den Saisonstart 2016 vorzubereiten, schuftete Melzer für ein Comeback, das längst noch nicht absehbar schien. Die tagtägliche Therapie war ein Muss, der Weg zurück mühsam. Zunächst schritt die Genesung noch nach Plan voran, „aber nach drei, vier Monaten ist für einige Wochen plötzlich nichts mehr weitergegangen“. Melzer durchlebte frustrierende Momente, eine Rehabilitation fordert Körper und Geist. „Natürlich fliegt dir da manchmal die Decke auf den Schädel.“


Training, Match – Fußball!
Der Tennissport, sagt Jürgen Melzer, habe ihm in den Anfangsmonaten „extrem gefehlt“. Doch irgendwann, so befremdlich das auch klingen mag, schaffte er einen Abstand zwischen sich und seinem Beruf, den er seit 1999 professionell ausübt. „Es ist mir irgendwie gelungen, Tennis komplett auszublenden. Ich habe keine Matches im Fernsehen geschaut, keine Ergebnisse verfolgt, nichts davon.“

Stattdessen fand Melzer, ein bekennender Bayern-München- und Schweinsteiger-Fan, im Fußball eine willkommen Abwechslung. Beim ATSV Deutsch-Wagram trainierte er zweimal pro Woche, an den Wochenenden standen Ligaspiele der 1. Klasse Nord auf dem Programm. Insgesamt bestritt Melzer sieben Partien, „die letzten vier von Beginn an“, berichtet er stolz. Fußball, seine zweite große Leidenschaft, habe ihm in einer schwierigen Phase sehr geholfen. „Es war wichtig, um positiv gestimmt zu bleiben.“

Mittlerweile hat Melzer Schuhe und Untergrund wieder gewechselt, er ist zurück auf seinem geliebten Tennisplatz. Sein Comeback bei einem Challenger in der Slowakei vor einem Monat hat noch gemischte Gefühle hervorgerufen. Nach einem Auftaktsieg in der Qualifikation war Melzer am nächsten Morgen mit Schmerzen in der Schulter aufgewacht, sein nächstes Spiel sagte er ab. „Die vergangenen Wochen aber haben sich komplett in die richtige Richtung entwickelt“, sagt der Routinier im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Die Schmerzen sind passé, Melzer kann im Training sein gewünschtes Pensum in hoher Intensität absolvieren. Einzige Einschränkung: Der Aufschlag ist nicht mehr ganz so schnell wie vor der Verletzung.

Jürgen Melzer möchte sich keinen Spekulationen hingeben, was denn auf der Zielgeraden seiner Karriere noch möglich sein könnte. Lang genug wurde die ehemalige Nummer acht der Weltrangliste (April 2011) an Siegen und Punkten gemessen. Auf die Frage, ob er denn wisse, welche Ranglistenposition er momentan einnehme, gerät Melzer ins Grübeln. „600? Ich habe schon lang nicht mehr auf die Weltrangliste geschaut.“ Aktuell ist Österreichs Sportler des Jahres 2010 die Nummer 414, bei den US Open Anfang September fallen ihm die letzten noch vorhandenen Punkte aus der Wertung, sofern er bis dahin keine sammelt.

Doch an ein solches Szenario möchte Melzer keinen Gedanken verschwenden. Genauso wenig wie an ein mögliches Karriereende. „Wenn ich merke, dass ich nicht mehr gut genug bin, dann höre ich auf.“ Der Deutsch-Wagramer genießt den Moment, das Gefühl, endlich wieder das tun zu können, was er am liebsten tut. 673 Profi-Matches im Einzel hat er auf ATP-Ebene bislang bestritten – es dürfen noch mehr werden. „Wenn es zehn Spiele sind, dann sind es zehn. Wenn es 150 Spiele sind, dann sind es 150. Ich lasse alles auf mich zukommen.“

Lobeshymnen auf Thiem. Lange Zeit war Tennis-Österreich an Jürgen Melzer gebunden. Er hielt die rot-weiß-rote Fahne bei den Grand Slams hoch, gewann zweimal das Heimturnier in der Wiener Stadthalle, stieg zum Rekordspieler im Daviscup auf. Die Jahre der Abhängigkeit sind vorbei, im Mai 2014 hat Dominic Thiem ihn als besten Österreicher in der Weltrangliste abgelöst. Der Aufstieg des jungen Landsmannes hat da gerade erst richtig Fahrt aufgenommen, heute ist Thiem die Nummer neun der Weltrangliste – und imponiert auch Melzer. „Er spielt große Klasse, ist ein absoluter Topstar. Im Moment ist nur Novak Djoković zu weit weg, alle anderen sind für ihn in Reichweite.“ Melzer legt sich fest: „Dominic kann die Nummer eins werden.“

In Kitzbühel – das Turnier beginnt heute mit dem Hauptbewerb – schlagen sowohl Melzer als auch Thiem auf. Mit dem Turnier in der Gamsstadt verbindet den 35-Jährigen eine lange Geschichte voller schmerzhafter Niederlagen und emotionaler Siege. Erst bei seinem fünften Antreten konnte er ein Match gewinnen, 2008 war er bis in das Endspiel (Niederlage gegen Del Potro) vorgedrungen. Die rot-weiß-roten Titelhoffnungen ruhen heuer auf Thiem, Melzer hat bei seinem elften Kitzbühel-Start ganz andere Pläne. „Ich will rausgehen und es einfach genießen.“

Steckbrief

Jürgen Melzer wurde am 22. Mai 1981 in Wien geboren.

Melzer debütierte 1999 in der Wiener Stadthalle auf der ATP Tour, im gleichen Jahr gewann er die Juniorenkonkurrenz in Wimbledon.

Seine bislang stärkste Saison spielte Melzer 2010, als er bei den French Open in Paris das Halbfinale erreichte (Niederlage gegen Nadal) und den Grundstein für den Einzug in die Top Ten legte. Am 18. April 2011 wies die ATP den fünffachen Turniersieger als Nummer acht der Rangliste aus.

Groß sind seine Erfolge auch im Doppel, er gewann in Wimbledon (2010) und bei den US Open (2011).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2016)

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