Anders Jacobsen geriet ins Trudeln, sprang aber trotzdem weit und gewann auch das Neujahrsspringen mit 0,9 Punkten Vorsprung auf Gregor Schlierenzauer. Die ÖSV-Adler enttäuschten erneut.
Garmisch-Partenkirchen. Anders Jacobsen schrie vor Freude, sprang wie ein Flummi durch den Schanzenauslauf und ließ sich zu Recht als Sieger des Neujahrsspringens von Garmisch-Partenkirchen feiern. Der Norweger ließ 20.500 Besucher und die Fachwelt im ersten Durchgang staunen, als der 27-Jährige nach dem Absprung ins Trudeln geriet. Seine Skier kreuzten sich hinten, er musste sogar mit den Armen rudern, um Spannung und Strömung aufrechtzuerhalten und nicht abzustürzen. Und trotzdem segelte der gelernte Installateur auf 131 Meter. Im Finale glänzte Jacobsen wieder mit Kraft, makelloser Technik und Weite, 143 Meter.
Das sind die zwei Gesichter eines Überfliegers, doch der zweite Tagessieg bei der 61. Vierschanzentournee war Jacobsen nicht mehr zu nehmen. Er gewann mit 0,9 Punkten hauchdünn vor Gregor Schlierenzauer (134/136,5 Meter) und seinem Landsmann Anders Bardal (136,5/135,5). Zur Halbzeit führt der von Alexander Stöckl betreute Norweger nun im Gesamtklassement mit 12,5 Punkten vor dem Titelverteidiger aus dem Stubaital. Am Freitag (13.45 Uhr, ORF1) folgt der Bewerb auf dem Innsbrucker Bergisel.
Wie ein „Helikopter“
„Das war total krank, das war ein Helikopter-Flug“, sagte Jacobsen, der nach einem Jahr Auszeit erst vergangenen Sommer in den Weltcup zurückgekehrt war und nun um den zweiten Tourneesieg nach 2007 springt. „Ich hatte alle Hände voll zu tun, das war Wahnsinn. Ich stecke voller Energie, ein perfekter Tag. Skispringen ist mein Leben, ich bin ein glücklicher Mensch.“
Kaum hatte er es gesagt, war auch schon sein Trainer zur Stelle und trug ihn mit seinen Kollegen durch das Areal. Vom Gesamtsieg wollte der Tiroler Stöckl aber noch nichts wissen. Das Überraschungsmoment von Oberstdorf sei nicht nur verschwunden, sondern bestätigt worden. „Er muss jetzt erst einmal mit der gestiegenen Erwartungshaltung umgehen. Wenn er sich auf das Wesentliche konzentriert, ist es nicht unmöglich.“ An Jacobsens System gebe es wahrlich nichts zu rütteln. Egal mit welcher Anlauflänge und welchen Turbulenzen er Vorlieb nehmen muss.
Ernüchternde ÖSV-Ausbeute
Österreichs Springerteam blieb nur der ernüchternde Blick auf das Ergebnis. Was sich schon in Oberstdorf angekündigt hatte, ist seit dem Neujahrsspringen Gewissheit. Außer Schlierenzauer konnte erneut kein ÖSV-Adler die gewohnte Form ausspielen. Morgenstern meldete sich mit Platz 11 zwar zurück, Kofler wurde 19., Fettner 24., aber erneut hatten drei das Finale verpasst. Und in der Gesamtwertung ist Schlierenzauer überhaupt der einzige Österreicher in den Top 10.
Cheftrainer Alexander Pointner wollte Fragen nach „Niederlagen“ oder „Ohrfeigen“ nicht kommentieren. Jacobsen habe alles „auf eine Karte gesetzt und gewonnen.“ Und Schlierenzauer eben nicht. Er setzte auf Sicherheit, führte nach dem ersten Durchgang mit 8,7 Punkten vor seinem doch hartnäckiger als erwartet auftretenden Widersacher und verlor alles im finalen Sprung. Und der Auftritt seiner anderen Schützlinge? „Also ich habe den Eindruck, der eine oder andere Punktrichter ist am Silvesterabend zu lange unterwegs gewesen . . .“
Der Trick mit dem Sprungschuh
„Anders hat eine Bombe gezeigt“, bemühte Schlierenzauer Durchhalteparolen. Aber jetzt, da komme der Bewerb in seinem Wohnzimmer. „Ich bin Zweiter geworden, also erster Verlierer. Aber das ist Nörgeln auf höchstem Niveau. Der Rückstand ist nicht zu groß.“ Aber, er ist größer geworden und es hat nicht den Anschein, als würde Jacobsen auf seinen riskanten Absprung verzichten oder gar sein Fluggefühl verlieren.
Warum aber springt Jacobsen so gut? Geht es nach Pointner, trägt der Norweger harmlose „Schienbeinschoner“. Für Ex-Skispringer Dieter Thoma hat der Norweger „tief in die Trickkiste gegriffen“ und ist bei seinem Sprungschuh gelandet. Er verwende eine Art „Schraubstock“, um seinen Fuß darin zu fixieren und eine bessere Skiführung und stärkeren Auftrieb zu gewährleisten. Von FIS-Kontrollor Sepp Gratzer gab es bislang keinerlei Beanstandungen.
Ergebnisse, Neujahrsspringen:
1. Anders Jacobsen (NOR) 277,7 (131/143)
2. Gregor Schlierenzauer (AUT) 276,8 (134/136,5)
3. Anders Bardal (NOR) 267,2 (136,5/135,5)
Weiters: 4. Hilde (NOR) 266,4 (133,5/138) 5. Kot (POL) 265,7 (134,5/135) 6. Stoch (POL) 261,8 (142/131,5), Wassilijew (RUS) 8. Hvala (SLO) 254,2 (136/130) 11. Morgenstern 252,5 (133/133) 19. Kofler 249,6 (130,5/132) 24. Fettner 241,4 (131,5/125).
Tournee-Wertung: Jacobsen (586,3 Punkte) vor Schlierenzauer (573,8) und Hilde (547,7 ).
("Die Presse", Print-Ausgabe, 2.1.2013)