Vor dem Bergisel-Springen herrschen Unmut und Unruhe bei den ÖSV-Athleten. Schlierenzauer ist der einzige ÖSV-Adler in den Top Ten. Die Topform der Norweger irritiert, und Jacobsens Materialvorteil ist eklatant.
Innsbruck. Der Schuh passt nicht, der Anzug zwickt, und auch das unermüdliche Lächeln verliert aufgrund anhaltender Durchhalteparolen gehörig an Strahlkraft – bei der 61. Vierschanzentournee läuft es für Österreichs Skispringer nicht nach Wunsch. Zur Halbzeit führt der Norweger Anders Jacobsen mit 12,5 Punkten vor Titelverteidiger Gregor Schlierenzauer, und nur noch dieses Duo kann sich am Freitag in Innsbruck (14 Uhr, ORF eins) und am Dreikönigstag in Bischofshofen Hoffnungen auf den Tourneesieg machen. Der Rest des ÖSV-Teams hat bislang schwer enttäuscht.
Der Blick auf die Gesamtwertung deckt die total verpatzte Tournee schonungslos auf. Schlierenzauer ist der einzige ÖSV-Adler in den Top Ten, Fettner ist Elfter und Kofler, der in Oberstdorf zum dritten Mal in dieser Saison wegen eines „unkorrekten“ Anzuges disqualifiziert worden ist und damit viele Punkte verloren hat, ist als drittbester ÖSV-Springer 22. Für Morgenstern, Koch, Loitzl und Hayböck ist das die Höchststrafe.
Cheftrainer Alexander Pointner glänzt zwar mit Rhetorik, auch hat er die Fragestunde zur Lage der Springernation in Kematen mit Bravour gemeistert. Doch hinter den Kulissen, berichtet ein Insider, soll es gewaltig brodeln. Entgegen aller Beteuerungen nagen die Niederlagen an Schlierenzauers Nervenkostüm. Gleich nach dem Neujahrsspringen hatten er und Pointner eine hitzige Diskussion. „Er verspürt enormen Druck“, sagt Ex-Tourneesieger Andreas Widhölzl. „Und das macht ihm zu schaffen.“
Auch den besseren Anzug
Außerdem schien sich die ÖSV-Spitze in der Frage lange uneins, ob gegen die norwegische „Schuheinlage“ Protest erhoben werden soll oder nicht. In Wahrheit ist aber nicht der Schuh das Problem, sondern der Anzug. Die vom Tiroler Alexander Stöckl betreuten Norweger haben einen vifen Schneider. Er soll die Nähte derart geschickt verwendet haben, sodass Jacobsen und Co. mehr Fläche erhalten und die nötigen Meter leichter erreichen. Stöckl ließ die Seinen im Training in Langlaufanzügen springen, um ein Gefühl für das engere Gewand zu finden. Diese Errungenschaften wurden verarbeitet und mit dem neuen Anzug bei der Tournee nun ausgespielt. Damit ist auch Jacobsens Formkurve erklärt: Zwei vierten Plätzen in Lillehammer folgte ein „Tief“ in Kuusamo (39.), Sotschi (35.) und Engelberg (25., 27.) – es war die Testphase für die Siege in Oberstdorf und Garmisch.
Widhölzl hat zuletzt auch polnische Springer offen mit „neuen Schuhen herumspazieren“ gesehen und wundert sich, warum diese Entwicklung im ÖSV übersehen worden ist. Das ruft Skeptiker nicht nur für die Tournee, sondern auch für die WM in Val di Fiemme (ab 20. Februar) auf den Plan. Norwegens Materialvorteil ist eklatant.
Das Lachen in der Eiskammer
Die Norweger „kleiden“ sich nicht nur besser, sie verstehen es auch geschickt, den Vorteil psychologisch auszunützen. Also marschierten sie am Ruhetag in eine Eiskammer, zeigten ihre Muskeln und ließen sich mit nackten Oberkörpern fotografieren. In der Heimat setzte das einen „Hopp-Boom“ frei. Viele Verlage beorderten Reporter von der „Tour de Ski“ zur Tournee. Dabei gilt Langlauf in Norwegen als der Volkssport.
Während Jacobsen für Widhölzl „befreit“ abspringt, muss Schlierenzauer riskieren und auf Fehler des Gegners hoffen. Auf die wartete er aber schon 2007 vergebens: Jacobsen schnappte ihm erstmals den Tourneesieg weg. Und, der Norweger muss auch 2013 nur konsequent punkten.
Die Qualifikation für das Bergisel-Springen schafften mit Unterberger, Müller und Kraft drei Nachwuchsspringer. Damit heben heute zehn Österreicher ab.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.01.2013)