Die Streif: Opferkult mit Stoppuhr

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Die Streif ist ganz und gar unösterreichisch, sie ist nämlich kompromisslos. Das Rennen in Kitzbühel hat nichts mit Skifahren zu tun. Es ist die alpenländische Variante des Stierkampfs. Nur dass der Stier aus der Dose kommt und Helme und Trikots der »Opfer« ziert. Heuer findet das Hahnenkammrennen zum 75. Mal statt.

„Und schaun wir jetzt dem Franz Klammer ins Gesicht“, sagt ORF-Kommentator Michael Kuhn. „Er ist glücklich!“ antwortet Werner Grissmann. Und dieser Dialog hat sich seit mittlerweile 31 Jahren eingeprägt. Eine Kindheitserinnerung. Franz Klammer gewinnt sein 25. und letztes Weltcuprennen – zum vierten Mal auf der Streif in Kitzbühel. Vor Erwin Resch und Jimmy Steiner. Und die Blizzard-Quattro-Thermo-Skier – genau die gleichen, wie sie der Franz hatte – stehen noch immer auf dem Dachboden.

Der Start. Heuer finden zum 75. Mal das Hahnenkammrennen statt. Und im Mittelpunkt steht wie immer die Streif. Jene Rennstrecke, die wir Österreicher so lieben, weil sie so ganz und gar unösterreichisch ist: Weil sie kompromisslos ist. Sie zieht uns magisch an. Auch im Skiurlaub. Wenn die Touristen am ersten Tag mit der Gondelbahn den Hahnenkamm hinauf sind, sich zum ersten Mal die Skier angeschnallt haben, biegen fast alle rechts ab. Oben das Starthaus, und wenn sie vorsichtig weiterrutschen, schauen sie direkt hinunter. 85 Prozent Gefälle. Jedes Jahr ist dieser erste Blick unbedingt notwendig. Der Blick in die Mausefalle.

Mausefalle. „So muss man sich fühlen, wenn man ohne Fallschirm aus dem Flugzeug springt“, sagte einst Marc Girardelli über den Augenblick, in dem sich die Rennfahrer aus dem Starthaus katapultieren. Acht Sekunden später sind sie an der gefährlichsten Kuppe des Skirennsports. Der Sprung geht über 60 Meter, mitunter landen sie nach 80 Metern, oder im Zaun oder im Koma. Vor vier Jahren endete hier Hans Gruggers Sportkarriere und beinahe auch sein Leben. Im Training stürzte er schwer, erlitt eine Lungenverletzung und ein Schädel-Hirn-Trauma, lag wochenlang auf der Intensivstation.

Grugger ist das bis dato letzte „Opfer“ der Streif. Ein Sportereignis als Opferritual. Die österreichische Variante des Stierkampfs. Nur dass der Stier aus der Dose kommt, die Helme und Startnummern der Athleten ziert. Die „Opfer“ sind sich ihres Risikos bewusst. Auch Daniel Albrecht, Scott Maccartney oder Bill Hudson war klar, dass die Streif ihr Leben möglicherweise für immer verändern wird.

Kompression und Karussell. Im richtigen Leben haben Kompression und Karussell nichts von ihrem Schrecken verloren. Der Blick richtet sich hinauf zur Mausefalle, auf Skiurlauber, die steif auf den Skikanten oder verzweifelnd auf dem Hintern rutschend gegen die Schwerkraft ankämpfen. Wer Mut hat, fährt Schuss – und bremst sich in langen Schwüngen in der Kompression ein. Die Rennfahrer haben dort das Zehnfache ihres Gewichts in den Beinen, nehmen den Schwung mit ins Karussell und stechen in den Steilhang hinunter.

„Ich hatte durchaus Gefühle der Todesangst“, sagte Stephan Eberharter 1991 bei einem seiner ersten Streif-Einsätze. Zweimal hat er die Abfahrt später gewonnen. Das Abfahrtsrennen in Kitzbühel hat mit Skifahren so viel zu tun, wie die Tour de France mit Radfahren oder die Rallye Dakar mit Autofahren. Rein gar nichts.

Steilhang. „Wir mussten einst aufpassen, dass wir nicht in den Wald oder gegen eine Hütte donnern, heute sind überall Schutzzäune und Fangnetze, das verleitet dazu, das Hirn auszuschalten“, sagte einst Bernhard Russi, jener große Schweizer Abfahrtsläufer, der hier nie gewonnen hat. Wenn die Rennläufer heute die Steilhangausfahrt nicht erwischen, stürzen sie nicht, sie fahren auf der Plastikplane weiter, die unterhalb des Fangnetzes angebracht ist. Sie verlieren hier nur das Rennen. 6350 Meter Fangnetze für eine Rennstrecke von 3312 Metern, auch das ist ein Rekord. Und wer auf der Streif das „Hirn ausschaltet“, ist verloren. Rundherum kann Hirnausschalten hingegen durchaus von Vorteil sein.

Brückenschuss, Gschöss, Alte Schneise. Früher verschwanden die Fahrer im Brückenschuss von der Bildfläche, tauchten erst wieder am Oberhausberg auf. Heute ist das Fernsehpublikum fast die ganze Streif live dabei. Das lange Gleitstück, oft entscheidend über Sieg oder Niederlage, der Sprung hinein in die Alte Schneise, all das sehen die TV-Zuseher aus der Vogelperspektive, festgehalten von der Hubschrauber-Kamera. Im richtigen Leben ist die Alte Schneise, je nach Schneelage, eine Buckelpiste. Eine Reminiszenz an vergangene Zeiten, als Schwarze Pisten noch nicht zu Tode präpariert worden sind.

Seidlalm und Lärchenschuss. Der französische Journalist Serge Lang, Honoré Bonnet und Bob Beattie, die Teamchefs Frankreichs und der USA, saßen im Winter 1966 in der Seidlalm-Hütte und diskutierten über die Zukunft des Skirennsports. Die Idee eines alpinen Skiweltcups wurde geboren und ein Jahr später Wirklichkeit. In Kitzbühel wurde nicht nur der Weltcup geboren, sondern vor allem eine Skilegende namens Toni Sailer. Der dreifache Olympiasieger und siebenfache Weltmeister sorgte nicht nur als „Schwarzer Blitz aus Kitz“ für zwei Siege auf der Streif, er war auch zwanzig Jahre Rennleiter der Hahnenkammrennen.

Die Seidlalm, Geburtsort des Weltcups, liegt in der Mitte der Streif. Hier tauchen die Läufer nach einer Minute Fahrzeit auf, nehmen den Schwung mit in den Lärchenschuss, das letzte Gleitstück vor dem Grande Furioso.

Hausbergkante. Pietro Vitalini hat in seiner ganzen Karriere kein Weltcuprennen gewonnen. Trotzdem schrieb der Italiener auf der Streif Geschichte. 1995 hob er nach einem Fahrfehler an der Hausbergkante ab, wurde über den Sicherheitszaun katapultiert, überschlug sich mehrmals. Keiner stürzte so spektakulär und hatte dabei so viel Glück. Weil es zuvor tagelang geschneit hatte, landete er im Tiefschnee, blieb wie durch ein Wunder unverletzt und wurde tags darauf bei der zweiten Abfahrt sensationeller Fünfter.

Für den Laien ist die Hausbergkante praktisch nicht zu fahren. Blankes Eis auch Wochen nach dem Rennen, und es heißt nicht umsonst „Kante“. Ein Mysterium, auch nach dem x-ten Kitzbühel-Skiurlaub. Ab hier ist der Rennläufer vom Ziel aus zu sehen.

Traverse, Zielschuss, Kompression. „Das soll die schwerste Abfahrt der Welt sein? Da geht es doch zweimal sogar bergauf.“ Die Aussage des zweifachen Streif-Siegers Hermann Maier grenzt an Blasphemie. Tatsächlich ist der Ritt durch die Traverse mitunter mit einer unfreiwilligen Bergauffahrt verbunden. Auch vor dem Zielsprung geht es leicht bergauf. Davor erreichen die Rennläufer Geschwindigkeiten von bis zu 145 Stundenkilometern. Als Fritz Strobl 1997 den Streckenrekord aufstellte, war er nach 1:51,58 Minuten im Ziel. Jahre zuvor, nach seiner ersten Fahrt über die Streif, hatte er noch gesagt: „Ich hatte die Hosen voll.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.01.2015)

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