Marcel Hirscher: "Stillstand ist Rückschritt"

SKI ALPIN: OeSV-MEDIENTAG AM MOeLLTALER GLETSCHER / HIRSCHER
SKI ALPIN: OeSV-MEDIENTAG AM MOeLLTALER GLETSCHER / HIRSCHERAPA/EXPA/JOHANN GRODER
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Vor dem Saisonstart in Sölden wirkt Skistar Marcel Hirscher ungeheuer entspannt. Ein Gespräch über Form, Material, Ziele, die Jagd nach Girardellis Rekord und das Kaffeesudlesen.

Ein, zwei Wochen vor Saisonbeginn, dann beginnt das Kraftwerk Kopf zu denken. Dann bist du wirklich nicht mehr entspannt. Dann bemerkst du, dass der Weltcup ja wirklich näherrückt, die Arbeit wieder beginnt und du wieder Leistung bringen willst, nein: musst.“ Wenn Marcel Hirscher über die Eindrücke des Sommers, die Aufbauarbeit, die ersten Begegnungen mit Schnee und das Wiedersehen mit Gegnern und Teamkollegen spricht, erinnert es in gewisser Weise an den ersten Schultag. Auch für Skifahrer gibt es jährlich den Neustart, er beginnt mit den Rennen in Sölden am 24. und 25 Oktober. Und dann wisse man erst, sagt der 26 Jahre alte Salzburger, woran man vorerst sei, wie es um Form, Material und Technik bestellt ist.

Es sind zumeist gute Erinnerungen, die bei Hirschers Schilderungen herauszuhören waren. Der viermalige Seriensieger im Gesamtweltcup wirkte entspannt, schien bestens vorbereitet auf Fragen und Bedingungen, er ist Vollprofi und wer so wie er seit 2007 im Weltcup für den ÖSV mitfährt, kennt das Procedere. Hat ein Skifahrer die ersten Tests und Ausfahrten gut überstanden, stimmen Testzeiten optimistisch, machen ihm diese Erzählungen auch Spaß. „Aber alles geht nicht immer gleich wieder so gut, nichts geht auf Knopfdruck“, wirft Hirscher, Sieger von 31 Weltcuprennen, dennoch ein. „Mein Kopf raucht.“ Hirscher wähnt sich vor dem Saisonstart im Vergleich zu dem wieder genesenen Aksel Lund Svindal, Kjetil Jansrud, Ted Ligety etc. nämlich im Nachteil. Er machte eine lange Schneepause, war krank – es fehlten Gefühl und Sicherheit. Die erhalte er erst auf dem Rennhang in Sölden.


Ewig der gleiche Kaffeesud. Während andere um die halbe Welt reisten, um genügend Schnee für das Training zu finden, blieb Hirscher daheim. Er übte auf Gletschern, etwa im Pitz- und im Mölltal. Der Atomic-Star legte Wert auf Qualität, Ruhe, Zeit – Begriffe, die während der bis März dauernden Saison absolute Fremdwörter bleiben. Dass ihn ohnehin jeden Tag, jedes Rennen nur eine Frage begleiten wird, damit habe er sich abgefunden.

Bei einem PR-Termin in Altenmarkt traf ihn auch die „Presse am Sonntag“ für ein Gespräch. „Die fünfte Kristallkugel kann man nicht planen, der Gesamtweltcup war auch nie mein Ziel“, sagt Hirscher energisch. Es gebe Dinge im Leben, die man nicht planen könne. „Du kannst auf den Tag X bei einer WM, bei Olympia hintrainieren. Aber du weißt nicht, was im Lauf der Saison passiert. Ein Ausfall da, ein schlechtes Resultat dort – und der Traum ist geplatzt! Alles, was man jetzt schon geschrieben oder prognostiziert hat, ist nur Kaffeesudlesen.“


Ein »Stöpsel« traf einst Girardelli. Und dennoch, Hirscher grinst. Ja, freilich wäre es ein Traum, zum fünften Mal in Serie den Gesamtweltcup zu gewinnen. Dann hätte er den Rekord von Marc Girardelli egalisiert, der nach einem Zwist mit dem ÖSV für Luxemburg startende Vorarlberger gewann 1985, 1986, 1989, 1991 und 1993. Zu Zeiten, an die Hirscher, geboren 1989, kaum noch Erinnerung an bewegte Bilder hat. „Ich war einfach zu jung“, nur eines habe er nie vergessen. Als Kind nahm er an einem Rennen im Kaunertal teil, gewann selbstredend eine Preis – und der wurde „mir kleinem Stöpsel“ von Girardelli überreicht.

Seitdem läuft für den in Annaberg lebenden Star alles ab wie in einem Film, sogar die eigene Karriere. Das Tempo ist durchaus beachtlich, längst ist er nach Rücktritten diverser Größen („Benjamin Raich hat es richtig gemacht. Er strahlt, wirkt befreit – eine schöne Sache, wenn du diese Entscheidung treffen kannst und nicht dazu gezwungen wirst“) auch ein Veteran im Team, ein Leader geworden. Dass er dennoch eigene Wege geht und Spuren zieht, mag manchem aufstoßen, ändert aber nichts an seiner Haltung. Hirscher legt gesondert Wert auf Qualität, gute Verhältnisse, er liebt frischen Schnee, schätzt auch den Vergleich. Und zur Kritik, er übe nicht genug mit der Mannschaft, sagt er: „Sie ist zu wenig mit mir gefahren. Es ist aber auch situationsbedingt, bei unpassenden Verhältnissen kannst nicht mit 20 Leuten auf einem Kurs fahren, weil es ein Qualitätsverlust wäre . . .“


Alles für den Rennsport. Bei Atomic fühle er sich geborgen, vom Schäumen der Schuhe bis hin zum Finden der optimalen Rennskier funktioniere alles nach seinem Wunsch. „Stillstand ist Rückschritt“, wirft Hirscher unermüdlich ein, wenn es darum geht, die Frage des Materials zu klären, dessen Bedeutung, Vorteile. Rennfahren verlange Anpassung, Fortschritt, neue Techniken, das Verständnis der Piste, des Schnees, der Infrastruktur. Dass er es seit dem Sommer bislang trotzdem nur auf drei Slalomtage gebracht haben wollte, klang zwar unvorstellbar, doch in diesem Fall besteht kein Grund zu übertriebener Eile. Es ist eine Einteilung, die Hirscher wählt. Er wolle auch bei den Speedrennen in Colorado mitmachen, und erst Mitte November in Levi, Finnland, müsse die enge Stangentechnik wieder perfekt funktionieren.

Marcel Hirscher sagt, er sei noch jung. Mit 26 kann man das schon noch annehmen, in Wahrheit aber sei er schon ein Methusalem der Piste. Seit Kindesbeinen unterwegs, mit dem Vater, mit der Schule, dem Klub und jetzt seit vielen Jahren mit dem ÖSV. Das verlange andere Pläne, ein unterschiedliches Programm. Er müsse den „Körper, mein Kapital“ noch mehr pflegen und therapieren. Massieren, öfter die Badewanne genießen, und ja, auch mal einen trainingsfreien Tag zelebrieren. Während andere also wie wild auf Social-Media-Plattformen über ihr Ski- und Schneeprogramm schrieben, blieb Hirscher entspannt, abwartend. „Ich wollte immer Skifahrer werden, was danach alles dazukam, musste ich erst lernen. Und dann beginnt das Kraftwerk Kopf zu denken.“

KRISTALL & GOLD

4Gesamtweltcupsiege Marcel Hirscher, Spezialist für Slalom- und RTL-Rennen, gewann seit 2012 stets die große Kristallkugel. Nur noch ein Triumph fehlt auf die Bestmarke von Marc Girardelli.

5Disziplinenkugeln
Der Annaberger, 26, gewann 2012 und 2015 den Riesenslalom-, dazu 2013, 2014 und 2015 den Slalomweltcup.

31Weltcupsiege
hat der Atomic-Fahrer zu Buche stehen. 14 im RTL, 16 im Slalom, einen Parallelbewerb. Insgesamt feierte er 72 Podestplätze.

4WM-Titel
Hirscher gewann in Schladming 2013 Gold mit der Mannschaft und im Slalom; 2015 in Beaver Creek gewann er die Kombination und den Teambewerb.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2015)

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