Die Königin von Vermont

(c) USA Today Sports (Erich Schlegel)
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Der Skiweltcup kehrt an die US-Ostküste und zu seinen Wurzeln in Übersee zurück. Mikaela Shiffrin zog hier ihre ersten Schwünge, ihr Slalom-Heimsieg soll am Sonntag die Rückkehr krönen.

In den vergangenen 25 Jahren hat der alpine Skiweltcup einen Bogen um die Ostküste der USA gemacht und sich in den glamouröseren Pulverschnee-Mekkas im Westen eingerichtet. Die Wiege des amerikanischen Wintersports aber ist der Osten. Noch bevor die ersten Skipioniere aus Österreich in die Rocky Mountains weiterzogen, hatten sie in den 1950er- und 1960er-Jahren in Neuengland gewirkt, Jake Burton kreierte hier seine ersten Snowboards, und Bode Miller, der erfolgreichste männliche Rennläufer der USA, entwickelte seine einzigartige Renntechnik in Franconia, New Hampshire. Unweit davon, auf dem Storrs Hill in Lebanon, hat Mikaela Shiffrin ihre ersten Schwünge in den Schnee gezogen, später hat sie ihre Technik in Vermont perfektioniert. Dort sind die wichtigen Skiinternate beheimatet, auch die Burke Mountain Academy, wo Shiffrin 2013 graduiert hat.

Zwei Stunden weiter südlich liegt Killington („Heart of the Green Mountains“), ein 800-Einwohner-Ort am Fuße des mit 611 Hektar größten und deshalb Beast of the East genannten Skiressorts im Osten. Hier werden an diesem Wochenende zum ersten Mal Weltcuprennen ausgetragen. Zuletzt machte der Weltcup 1991 in Neuengland Station, im Waterville Valley, New Hampshire, dominierten Alberto Tomba und Pernilla Wiberg. In Vermont wurden 1978 zum letzten Mal Hundertstel gejagt, am Stratton Mountain gewannen die Brüder Phil und Steven Mahre, bei den Damen Perrine Pelen und Hanni Wenzel.

Die Rückkehr knapp 40 Jahre später entwickelte sich zu einem Riesenevent. Die Veranstaltung war innerhalb kürzester Zeit ausverkauft, über 5000 Fans finden sich an jedem Renntag entlang der Pisten und auf den Tribünen ein. „An der Ostküste lieben sie Skirennen“, erzählt Shiffrin. Sonst aber hat der amerikanische Sportfan für die Pistenraserei wenig übrig, gerade am Thanksgiving-Wochenende, an dem traditionell American Football auf dem Programm steht. Dank Lindsey Vonns eifriger Selbstvermarktung wissen die Amerikaner inzwischen aber, was Skirennen sind. Und die vergleichsweise wenigen Skifans, die es gibt, sind dafür sehr enthusiastisch. Vor allem an der Ostküste. 600 freiwillige Helfer hatten sich in Killington beworben, knapp die Hälfte musste man vertrösten. Auch das Medieninteresse ist für ein Skisportevent in den USA außergewöhnlich groß.


80 Millionen potenziell Fans. Auf ihr skifahrerisches Können sind die Ostküstenskifahrer besonders stolz. Mit „East Coast Skier“ haben sie sogar einen eigenen Qualitätsbegriff geschaffen. Denn aufgrund der niedrigen Seehöhe und der feuchten Atlantikluft lernt man Skifahren hier meist auf eisigen und schwierigen Pisten statt im Pulverschnee der Rocky Mountains. Shiffrin erklärte einmal, sie habe später von diesen „europäischen“ Verhältnissen profitiert. Zudem ist das Wetter launisch, schon Mark Twain soll gesagt haben: „Wenn Sie das Wetter in Neuengland nicht mögen, warten Sie einfach fünf Minuten.“

Dafür haben die vergleichsweise niedrigen Berge im Nordosten – der Killington Peak ist 1291 Meter hoch, das Ziel liegt auf 760 Metern, Killington ist damit das am niedrigsten liegende Nordamerika-Ressort – ein enormes Einzugsgebiet. 70 bis 80Millionen Menschen wohnen innerhalb weniger Autostunden in Großstädten wie Boston, New York City oder Montreal, viele Briten fliegen sogar aus London ein. Die Wintersportindustrie macht hier bedeutende Umsätze.

Auch Shiffrins Familie lebt nicht weit entfernt, ihre 95-jährige Großmutter soll den Rennen in Killington einen Besuch abstatten. Trotz ihrer Ostküstenvergangenheit kennt die in Vail geborene Shiffrin den Rennhang aber nur von den Trainingsläufen im Vorfeld. „Es ist mehr ein Ostküstenvorteil als ein Heimvorteil“, meint sie. Nicht dass der Jungstar einen solchen nötig hätte, den ersten Slalom der Saison hat sie in gewohnter Manier dominiert, Shiffrins überlegene Slalomsiege wirken inzwischen wie Selbstläufer. Passiert ihr kein gröberer Fehler, gewinnt sie auch heute (16/18.30 Uhr, live auf ORF eins). Bei ihren jüngsten neun Starts hat die Ausnahmekönnerin jedesmal triumphiert, die letzte Rennläuferin mit einer längeren Siegesserie im Slalom war Janica Kostelić, die Kroatin gewann zwischen Dezember 1999 und Februar 2001 bei zehn Antritten in Folge.


Stars and Stripes.
Die erst 21-jährige Shiffrin könnte nun gleichziehen – und im Gesamtweltcup vorlegen. Ihre Chancen auf die große Kristallkugel sind heuer so groß wie noch nie. Auch mangels Konkurrenz: Anna Veith hat ihr Comeback auf nach Weihnachten verschoben, wann Lindsey Vonn zurückkehrt, ist unklar. Viktoria Rebensburg fuhr in Killington zum ersten Mal nach einem Schienbeinkopfbruch wieder ein Rennen, Julia Mancusos Rückkehr nach einer Hüftoperation verzögert sich, Tina Weirather fehlte zuletzt die Konstanz. Auch Tina Maze ist aus dem Spiel, die Slowenin gibt nur noch im Jänner ihre Abschiedsvorstellung in Maribor. Bleibt wohl nur Titelverteidigerin Lara Gut als ernsthafte Konkurrenz. „Diese Saison ist die erste, in der es wirklich möglich ist“, sagte Shiffrin über den Gesamtweltcupsieg. Sie will heuer auch im Super-G Punkte sammeln, Abfahrten sind ebenfalls nicht ausgeschlossen. Den Speedauftakt im kanadischen Lake Louise hat sie fix eingeplant.

Die Entscheidung um den Gesamtsieg könnte in der Heimat fallen, in Aspen, Colorado, steigt im März das Weltcupfinale. Davor legen die Damen für zwei Technikrennen in Squaw Valley, Kalifornien, einen weiteren US-Stop ein. Aber schon heute erwarten ihre skibegeisterten Landsleute im Nordosten eine große Shiffrin-Show. Vor heimischer Rekordkulisse kann sie in Killington ein weiteres Kapitel der großen Wintersporttradition an der Ostküste schreiben. Ein klassisches amerikanisches Thanksgiving-Wochenende soll es werden, mit einer Siegerin in Stars and Stripes. ?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.11.2016)

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