Lindsey Vonn: "Die Mentalkraft entscheidet"

Lindsey Vonn Mentalkraft entscheidet
Lindsey Vonn Mentalkraft entscheidet(c) GEPA pictures (GEPA pictures/ Poolfoto)
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Die US-Amerikanerin Lindsey Vonn hat zum vierten Mal den Ski- Gesamtweltcup gewonnen. Im Salzburger Hangar-7 sprach die 27-Jährige über mentale Stärke, Rekorde und ihre nächsten Ziele.

Nach dem Ski-Weltcupfinale in Schladming, das mit den Gesamtsiegen der US-Amerikanerin Lindsey Vonn respektive des Salzburgers Marcel Hirscher endete, bat Tobias Moretti um ein Gespräch. Um ein Gespräch mit der erfolgreichsten Skirennfahrerin der Gegenwart und einem echten Experten, dem ehemaligen ÖSV-Trainer Robert Trenkwalder. Er hat Günther Mader betreut und war verantwortlich für die Dekade der österreichischen Abfahrtsarmada. Das Treffen hat in Salzburg, im Hangar-7, stattgefunden, für Lindsey Vonn standen anschließend noch Materialtests für die kommende Saison auf dem Programm, erst dann konnte sie ihre Heimreise antreten.

Tobias Moretti: Lindsey Vonn, dein Erfolg hat uns sehr gefreut, du bist in Österreich so beliebt, als wärst du von hier. Wie geht es dir jetzt? Bist du glücklich?

Lindsey Vonn: Ja, das stimmt. Ich bin froh, dass diese lange Saison jetzt vorbei ist. Auf der anderen Seite will ich bereit sein für die kommende Saison. Daher müssen wir jetzt gleich das Material testen.

Tobias Moretti: Oje, das klingt, als würde der Lehrer am letzten Schultag sagen: Morgen geht's weiter. Heißt das, du bist jetzt glücksmüde?

Robert Trenkwalder: Das muss man ein bisserl anders sehen. Das Reglement ändert sich, die Skier werden verändert. Was man jetzt erledigt, braucht man im Sommer nicht zu tun. Aber dafür braucht man eben einen eisernen Willen.

Lindsey Vonn: Dann werde ich aber eine längere Pause machen und nicht mehr Ski fahren bis Ende Juli, Anfang August. Jetzt beginnt mein Servicemann damit, die Skier fürs Sommertraining vorzubereiten; denn wenn man das nicht jetzt in Angriff nimmt, verliert man zwei Monate und hat gleich eine schlechtere Ausgangsposition. Aber ich will auf den Gletscher. Und ich freue mich schon auf das Trainingslager in Neuseeland.

Tobias Moretti: Es beeindruckt mich immer wieder, wo du deine Kraft hernimmst, wenn du noch einmal das Letzte aus dir herausholst, an einem Punkt der Erschöpfung, an dem andere lieber sterben wollen, als noch eine einzige Kalorie zu mobilisieren. In der dramatischen Kunst gibt es auch Situationen von Grenzbereichen, die eigentlich über deine seelische Kraft gehen. Ich kenne Kollegen, die dann in sich selbst nach Abgründen graben, um sich so in einen Ausnahmezustand zu bringen. Woher holst du dir deine Kraft?

Lindsey Vonn: Das ist eine mentale Geschichte, das funktioniert nur über den Kopf. Wenn mein Körper leer ist, dann kann ich ihn nur über die Mentalkraft auffüllen. In diesem Moment, wenn ich am Start stehe, dann weiß ich, dass ich hart gearbeitet habe, stundenlang trainiert, einfach sehr hart gearbeitet. Daher weiß ich, es ist alles da, dass ich es schaffen kann. Das ist der Wille, das ist der Kopf.

Tobias Moretti: Ist es das, was dich einfach besser macht als die anderen?

Lindsey Vonn: Ahhh, ich weiß nicht. Ich denke, die anderen trainieren auch hart ...

Tobias Moretti: Ein Freund von mir, der ehemalige Formel-1-Fahrer Gerhard Berger, hat einmal gesagt, und zwar nach seiner Karriere: Es gibt Siegfahrer und es gibt Sieger, und das ist eine andere Dimension. Und er hat damit nicht sich selbst gemeint. Aber du bist offensichtlich eine solche „Siegerpersönlichkeit“, ganz ohne Zweifel. Und es wirkt alles immer so leicht bei dir. Jeder Sieg ist wie ein lächelnder Geniestreich.

Robert Trenkwalder: Bei uns sagt man: Entweder bist du ein Rennläufer oder nicht. Es gibt eine Menge großartiger Athleten. Aber entscheidend ist, ob man punktgenau seine Leistung bringt. Lindsey ist das gelungen. Sie ist, glaube ich, die Einzige, die sich mental um so viel weiterentwickelt hat. Früher war sie ein nervöses Rennpferd. Auch damals hat sie schon Superleistungen gebracht, aber erst später ist sie dahin gekommen, dass sie so präzise genau dann all ihre physische und mentale Kraft mobilisieren kann, wenn es drauf ankommt. Wie bei Olympia 2010 in Vancouver. Das steht bei mir auf einer Stufe mit Franz Klammers Triumph 1976 in Innsbruck. Das sind Ausnahmeleistungen. Das ist eine neue Dimension. Lindsey will alle Rekorde brechen, sie möchte die Beste werden. Normalerweise blockiert man sich da. Aber ich glaube, das ist der Extrakick, die Extramotivation. Deswegen war sie auch so enttäuscht, dass sie den Rekord von Hermann Maier am allerletzten Tag um nur 20 Punkte verpasst hat. Wer solchen Druck aushält, der ist ein Phänomen. Das kommt ganz selten vor.

Tobias Moretti: Warum sind dir Rekorde eigentlich so wichtig? Hat das mit Amerika zu tun? Sind es die Rekorde, die dort zählen?

Lindsey Vonn: Nein, das ist für mich persönlich. Seit ich ein Kind war, habe ich immer gesagt, ich will die beste Skifahrerin aller Zeiten werden. Natürlich ist es Blödsinn, so was zu sagen, wenn du noch ein Kind bist. Aber das ist die Vision.

Tobias Moretti: Wie alt warst du da, als du Dir so ein Schicksalsziel gesteckt hast?

Lindsey Vonn: Ich war sieben Jahre alt. Dabei habe ich in meiner Kindheit gar nicht viele Skirennen im Fernsehen gesehen. Das waren vielleicht zwei oder drei Läufe.

Tobias Moretti: Es gab also keinen Einfluss von außen. Gerade in Amerika ist der Skisport nicht so präsent. Diese Leidenschaft ist tatsächlich aus dir selbst gekommen?

Lindsey Vonn: Ja.

Tobias Moretti: Wie wichtig ist dir die Reflexion zwischendurch? Wie sieht denn ein Tag daheim bei dir aus? Hast du Hummeln im Hintern?

Lindsey Vonn: Nein, ich kann auch nichts machen. Das kann ich. Ich habe wenig Zeit, aber wenn es sich ergibt, dann bleibe ich im Bett und drehe ich den Fernseher auf. Also wirklich einfach nichts tun.

Tobias Moretti: Wenn ich dich sehe, dann denke ich mir immer, die kenne ich aus der Oper. Wenn du Ski fährst, dann sieht das einfach nach mehr als nur Skifahren aus. Gehst du in die Oper oder ins Theater? Oder liest du viel?

Lindsey Vonn: Früher habe ich sehr viel gelesen. Aber da habe ich weniger Erfolg gehabt.

(Alle lachen sich tot.)

Tobias Moretti: Meine Kinder werden mir jetzt sagen, wenn ich einmal werden will wie Lindsey Vonn, muss ich auch aufhören zu lesen.

Lindsey Vonn: Wenn ich heute eine Stunde Zeit habe, dann will ich einfach schlafen gehen und schlafen. Mein Leben dreht sich halt immer ums Skifahren.

Tobias Moretti: Du hast beim Weltcupfinale angekündigt, dass du dir deine Knie untersuchen lassen musst. Wie geht man als Spitzensportler mit Schmerzen um? Habt ihr eine höhere Schmerzgrenze?

Lindsey Vonn: Ja, ich denke schon. Schmerzen und Verletzungen gehören einfach dazu. Ich habe schon viele Verletzungen in meiner Karriere gehabt, und ich habe früher immer offen darüber geredet. Aber jetzt tue ich das nicht mehr. Ich habe in dieser Saison ein paar Probleme gehabt, aber nichts gesagt. Das ist nur ein Teil von meinem Körper... Es hilft nichts, wenn ich über Verletzungen reden würde.

Robert Trenkwalder: Lindsey war vor den letzten beiden Großereignissen (Olympia 2010, Weltmeisterschaft 2011, Anm.) verletzt. Und dann wurde das alles so interpretiert, als ob wir eine Ausrede gesucht hätten.

Lindsey Vonn: Ich habe komischerweise schon öfters mit Medien Probleme gehabt.

Tobias Moretti: Das ist interessant. Ich habe immer geglaubt, im Sport geht es da objektiver zu, da gibt es nur Resultate, die Zeit. In unserem Metier kann es dir passieren, dass dich einer verreißt, weil er dich nicht mag. Ich dachte immer, bei euch gibt es ein unleugbares Maß.

Lindsey Vonn: Nein, das ist schwierig. Ich habe gestern Zeit gehabt, einige Artikel über mich zu lesen. Und das hat mich sehr traurig gemacht. In einem Artikel steht, ich hätte die Saison mit einem Misserfolg beendet.

Robert Trenkwalder: Die Medien können viel kaputtmachen. Und zwar zu einem Zeitpunkt, der alles zerstören kann. Aber – man lernt immer dazu.

Lindsey Vonn: Ich war früher immer offen. Aber das ist vorbei. Das ist eine Frage des Vertrauens. Man kann ja kritisch mit mir umgehen, aber dann bitte nicht unter der Gürtellinie.

Tobias Moretti: Wenn du eines Tages den Rekord von Hermann Maier gebrochen hast, welche Ziele gibt es dann?

Lindsey Vonn: Es gibt immer neue Ziele. Es gibt ja noch Athleten, die mehr gewonnen haben. Daran arbeite ich. Ich orientiere mich an Ingemar Stenmark, Hermann Maier, Annemarie Moser-Pröll. Sie haben viel mehr erreicht als ich: Ich habe also noch einen langen und harten Weg vor mir. Ich bin auf einem guten Weg, aber noch lange nicht am Ziel.

Tobias Moretti: Man will immer noch einen Schritt weiter. Die Krone erringen? Nach der sich alle Sinne dringen? Gibt es da keinen Punkt, an dem alles bricht?

Lindsey Vonn: Bei uns ist das ein bisschen anders. Unsere Zeit als Spitzensportler ist begrenzt. Wenn wir eine Pause machen würden, dann wäre es vielleicht schon vorbei. Ich werde wissen, wenn ich an die Grenze stoße. Aber bis dahin arbeite ich weiter. Ich werde bis 2015, bis zur Heimweltmeisterschaft in Vail, fahren. Und dann werde ich sehen, ob ich noch Kraft habe. Ich kann keine halben Sachen machen. Ganz oder gar nicht.

Tobias Moretti: In der griechischen Antike glaubte man an Heroen, die halbe Götter waren, gesehen hatte sie keiner, sie waren Wesen einer vergangenen Epoche, es waren Mythen. Fühlst du dich gesegnet mit einer überirdischen Kraft?

Lindsey Vonn: Nein. Ich habe natürlich keine überirdische Kraft, ich bin nicht einmal der Sportler mit der besten Athletik. Ich habe Talent, aber ich bin kein Kraftbündel.

Tobias Moretti: Also keine Göttin. In der Antike war das Ideal des Menschen „Kalos kagathos“, I don't know in English: Der Mensch, der sich in jeder Hinsicht – geistig, ethisch und körperlich – zu einem schönen Menschen entwickelt hat. Fühlst du dich schön?

Lindsey Vonn: Weiß ich nicht. Ich weiß nur, wenn ich mich nicht schminke und ohne Mütze und Sonnenbrille in eine Bäckerei gehe, kennt mich kein Mensch.

Tobias Moretti: Danke für das Gespräch!

Lindsey Vonn

Die Anfänge. Die US-Amerikanerin wurde am 18. Oktober 1984 in Saint Paul, Minnesota, geboren. Sie erlernte im Alter von zwei Jahren das Skifahren auf dem Buck Hill, einem 93 Meter hohen Hügel unweit ihres Wohnorts. Sie hat zwei Brüder und zwei Schwestern.

Erfolge. Gesamtweltcupsiegerin 2008, 2009, 2010, 2012. Olympiasiegerin, Olympia-Bronze, 2x Gold und 3x Silber bei Weltmeisterschaften. Sie gehört zum exklusiven Kreis jener fünf Läuferinnen, die in allen fünf Disziplinen Weltcuprennen gewonnen haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2012)

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