Auf dem Stern der Übenden

Bei den in Kürze beginnenden Paralympics bewährt sich der Mensch als strebendes Wesen, das seine vielfältigen Behinderungen erst annehmen muss, um voranzukommen.

Die Paralympics sind kein Liebling der Medien und vielen Artikeln und Sendungen merkt man die Anstrengung an, über wettkämpfende Behinderte zu berichten. Aber es muss ja auch niemand so tun, als wäre es eine selbstverständliche Sache, wenn im Rollstuhl sitzende Menschen Tennis oder Basketball spielen. So zu tun, als wäre das nichts Besonderes, trägt auch die Gefahr in sich, die Sensibilität unter dem Gewicht der Korrektheit zu vergraben. Und die Gefahr, die Schönheit und Vielfalt des menschlichen Strebens unter einer nationalistischen Gier nach Medaillen zu verlieren, ist auch nicht zu übersehen. Die Nachbeben der medaillenlosen Sommerspiele von London sollten eine Lehre sein. Nicht das Desaster ist das Problem, sondern die Reaktion der Verantwortlichen und sieggeiler Medien.

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk beschäftigt sich in seiner jüngsten Untersuchung „Du musst dein Leben ändern“ mit dem übenden Menschen, und der alte Radlfahrer Sloterdijk verwendet den Spitzensport als Exempel für geglückte und missglückte Spannungen, mit denen Einzelner und Masse ihr Dasein ausstatten.

„Wer Menschen sucht, wird Akrobaten finden“, schreibt Sloterdijk. Das gilt wohl für den Spitzensportler, dieses Beispiel des geglückten Selbstversuchs in besonderem Maße. Wenn man so will, treten zum Kehraus des Sommers die Paralympiker nach den Fußballern und den Olympisten als letzte Artisten auf. Erst nach ihrem Abgang darf das Theater behaupten, eine halbwegs vollständige Schau des Wesens gezeigt zu haben, das als ewig übendes sich von allen anderen Bewohnern des Planeten unterscheidet.

„Stern der Übenden“ nennt Sloterdijk die Erde und den Menschen das Wesen, das seine Behinderungen überwinden muss, um voranzukommen. Sport wird gern als Medium gepriesen, das der Existenz wenigstens in der Zeit der Adoleszenz und Jugend Sinn und Plan verleiht. Die Illusion, sich mit den Erfolgen eines siegreichen Spitzensportlers das Leben und die Welt zu erobern, platzt in den meisten Fällen. Wenn auch oft nicht so früh im Leben und nicht auf so spektakuläre Weise wie im Fall des mutmaßlichen Dopingbetrügers Lance Armstrong. Siebenmal hintereinander strampelte er auf der Tour de France zum Sieg. Jetzt werden ihm sämtliche Siege gestrichen? Geht das? Kann der Mensch ein Leben über Siegen errichten und können Instanzen des bürgerlichen Rechtsstaates ihn im Nachhinein heimatlos machen?

Kommt wahrscheinlich darauf an, ob Armstrong bloß Sieg und Belohnungen, Geld und sozialen Status angestrebt hat. Hat er wissentlich betrogen, weil er mehr und bessere Mittelchen als die Konkurrenten zur Verfügung hatte? In diesem Fall hätte er sich nicht selbst in die Hand genommen – Sloterdijk zitiert hier Nietzsches Ecce Homo – und gesund gemacht, sondern krank.

Hier schließt sich der Kreis. BSO-Präsident Peter Wittmann, der seit gefühlten 100 Jahren im Amt ist und nichts bewirkt hat, will mit einer Unterschriftenaktion die tägliche Bewegungseinheit in Kindergarten und Schule durchsetzen. Nicht das Wohl der Kinder liegt ihm am Herzen, sonst hätte er sich schon seit vielen Jahren für ausreichenden Schulsport engagiert. Nicht die Abschaffung des Missstandes ist das Ziel, sondern die Abschaffung der Kritik an der BSO.

Die heimischen Paralympiker sind Außenseiter im heimischen Sportsystem. Dieser Missstand enthält jedoch das Glück, eine Kamarilla an selbstherrlichen Funktionären zu entbehren.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.08.2012)

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