„Industrie 4.0“: Keine Angst, die Roboter kommen!

File photo of robots in a factory in Shanghai
File photo of robots in a factory in Shanghai(c) REUTERS (Aly Song / Reuters)
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In der Fabrik der Zukunft ersetzt Informationstechnologie die Menschen. Aber Experten rechnen vor: Die „Industrie 4.0“ schafft mehr Jobs, als sie vernichtet – zumindest vorerst.

Wien. Vor dieser Vorstellung gruselt vielen: Menschenleere Fabrikshallen, in denen Roboter und Sensoren regieren. Noch gibt es auch in unseren automatisierten Fertigungen viele Vorarbeiter, Maschinenführer, Monteure und Qualitätsprüfer. Das aber, prophezeien Experten, wird sich mit der „Industrie 4.0“ dramatisch ändern. Immer mehr steuernde Tätigkeit kann der Computer besser und schneller erledigen – dank der Fülle der Daten, die er sammelt und vernetzt. Da erscheint es logisch, dass die „Vierte industrielle Revolution“ Jobs kosten wird. Was aber nützt uns eine starke Industrie, wenn sie Menschen keine Arbeit mehr bietet?

Diese populären Ängste wollen die Experten der Boston Consulting Group (BCG) nehmen. In ihrer Studie „Mensch und Maschine in der Industrie 4.0“ rechnen sie für Deutschland vor: Durch die Informatisierung fallen bis 2025 zwar 610.000 Produktionsjobs weg. Aber im Gegenzug werden 960.000 neue Arbeitsplätze geschaffen. Macht netto ein Plus von 350.000 Stellen oder fünf Prozent in der Industrie. Keine Bedrohung also, sondern ein Impuls. Für Österreich sollte die gleiche Tendenz gelten.

Wachstum durch Technik

Auf den ersten Blick erscheint das Ergebnis paradox. Sicher: Es braucht mehr schlaue Leute, die sich um Softwareentwicklung, Datenintegration und Schnittstellendesign kümmern. Aber solche gut bezahlten Spezialisten stellen kühl kalkulierende Manager doch nur ein, wenn in der Fabrikshalle deutlich mehr Arbeiter wegfallen.

Das zeigen auch die BCG-Zahlen: 210.000 IT-Fachleute kommen dazu, was nur grob ein Drittel der Jobverluste ausgleicht – statisch betrachtet. Aber Wirtschaft funktioniert nicht statisch. Denkbar wäre, dass Deutsche und Österreicher sich als Vorreiter des technologischen Sprungs bewähren. Aber diese Annahme wäre wohl zu optimistisch. „Wir gehen nicht von einem Vorsprung aus“, erklärt Rainer Strack, Koautor und oberster Personalexperte von BCG, im Gespräch mit der „Presse“. Sehr wohl aber von einem allgemeinen Wachstumsschub, den die so erhöhte Produktivität auslöst. Konkret: von einem jährlichen realen Umsatzplus der Industrie von einem Prozent (zusätzlich zu allfälligen anderen Treibern).

Das wäre auch nicht überraschend. Von der Dampfmaschine über die Elektrifizierung bis zur automatisierten Fertigung: Immer ging die Furcht um, der Fortschritt würde zu „technologiegetriebener Massenarbeitslosigkeit“ führen, mit der noch der große Ökonom Keynes rechnete. Nie hat sich diese Angst bisher bewahrheitet, weil die Wirtschaft immer stärker gewachsen ist als die Produktivität.

Wie aber kommen die BCG-Autoren zu ihren Zahlen? Sie setzen ganz unten an. Zehn typische Fälle aus ihrer Beratererfahrung haben sie ausgewählt und die Effekte auf ganze Industriezweige hochgerechnet. Da geht es etwa um flexible Roboter am Fließband oder als Transporthelfer. Um Sensoren, die gleich erkennen, wenn eine Maschine nicht rund läuft – und damit die Ausfallszeit für die Reparatur stark reduzieren. Um 3-D-Drucker, die komplexe Teile in einem Schritt fertigen. Oder um Datenbrillen, die Lagerarbeitern eine „erweiterte Realität“ bieten.

Freilich müssen die Experten für ihr Basisszenario von plausiblen Annahmen ausgehen. Neben dem Umsatzschub von einem Prozent geht es auch um eine „Adoptionsrate“ von 50 Prozent. Das heißt: Die deutsche Industrie setzt in den kommenden zehn Jahren die Hälfte von all dem um, was technisch schon möglich ist. Variiert man diese Parameter, kommen auch deutlich andere Ergebnisse heraus.

Wende kommt viel später

Aber es gibt einen Joker: „On Top“ , erklärt Strack, kommt das, was im Jargon der Berater „In-Sourcing“ heißt. Wenn in China die Löhne steigen und sich zugleich zu Hause die Produktivität durch neue Technologien verbessert, holen manche Unternehmen die ausgelagerte Produktion in die Heimat zurück. „In den USA hat man das schon stark gemacht“, nun könne es auch in Europa zum Thema werden.

Für den Arbeitsmarkt macht sich Strack deshalb konträre Sorgen: Durch die „massive Alterung“ drohe eine Lücke von bis zu acht Millionen Arbeitskräften. Zudem mangle es den Studenten an Kompetenz für die neuen Zeiten. „Früher haben Maschinenbauer Wirtschaft dazustudiert. Heute müssen sie sich auch in der IT auskennen.“ Die Uni-Lehrpläne aber „brauchen Jahrzehnte“, um sich anzupassen. Die Folge: „Die knappe Ressource ist das Humankapital.“

Zumindest vorerst. Denn irgendwann jenseits des Zehn-Jahres-Horizontes dürfte die künstliche Intelligenz den „singulären Punkt“ erreichen, ab dem der Roboter mehr leistet als das menschliche Gehirn – „vielleicht zur Mitte, vielleicht erst zu Ende des Jahrhunderts“. Dann aber, sagen US-Analysen voraus, sind bis zur Hälfte aller Jobs ersetzbar. Womöglich auch die von Managern, die sich dann selbst wegrationalisieren dürfen.

ZUR PERSON




Rainer Strack
ist Partner bei BCG, Leiter des Büros in Düsseldorf und innerhalb der Firma der globale Experte zu Personalfragen. Die Boston Consulting Group (BCG) ist eine der weltweit führenden Unternehmensberatungen und sieht sich als Nummer eins bei Strategiethemen. Sie ist mit 9700 Mitarbeitern in 81 Büros und 45 Ländern vertreten. [ Fabry ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.09.2015)

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