"Lifelogging": Die persönliche "Truman Show"

Lifelogging persoenliche Truman Show
Lifelogging persoenliche Truman Show(c) Www.BilderBox.com
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Was 1998 im Film "Truman Show" noch ein Albtraum war, wird heute als "Lifelogging" zur Realität. Längst haben wir uns daran gewöhnt, spontane Handyfotos ins Internet zu stellen

Cory McLeod hat zu seinem 21. Geburtstag ein ungewöhnliches Geschenk von seinem Vater erhalten: Ein Video dokumentiert sein Aussehen an jedem einzelnen Tag seines bisherigen Lebens. Der sechsminütige Clip wurde auf YouTube zum Hit – eineinhalb Monate nachdem es hochgeladen wurde verzeichnet es bereits fast fünf Millionen Aufrufe. Bei der Geburt seines Sohnes hatte sich Ian McLeod vorgenommen, jeden Tag ein Foto von seinem Sprössling zu machen. Ganz nahtlos ist es nicht gelungen, aber immerhin 7500 Bilder sind zusammengekommen. Die meisten Bilder mussten erst eingescannt werden – hinter dem kurzen Video steckt also ein Mammutprojekt.

Fehlende Fotos hat McLeod durch Bleistiftzeichnungen ergänzt. Betrachtet man das Video, fällt das kaum auf, denn die Bildfolge beschleunigt sich bald nach dem Start zu einem Flackern. Das Gesicht des Buben ist immer im Zentrum zu sehen, die Aufnahmen zeigen ihn an unterschiedlichen Orten in unterschiedlichen Situationen. Konnte der Vater das tägliche Foto nicht selbst machen, musste der Sohn zur Kamera greifen, erzählte der junge Brite.

„Truman Show“ als Privatprojekt. Das Leben eines Menschen täglich zu dokumentieren mag gleichzeitig auch ein beängstigender Gedanke sein, aber Ian McLeod ist nicht der erste Vater, der ein solches Zeitraffervideo vom Leben seines Kindes erstellt. Filmemacher Frans Hofmeester sorgte erst im Frühjahr mit einem Clip vom gesamten Leben seiner Tochter bis zu ihrem zwölften Geburtstag (Bilder) für Aufsehen – zuvor hatte er ein ähnliches Video von seinem neunjährigen Sohn erstellt. Hofmeester fotografierte seine Kinder dafür nicht täglich – er filmte sie Tag für Tag. Unweigerlich fühlt man sich an den Filmklassiker „Truman Show“ erinnert. Die Satire um Truman Burbank, dessen gesamtes Leben (unwissentlich) auf dem Set einer Art Reality-TV-Serie stattfindet, ist 14 Jahre nach der Produktion Realität geworden.

Längst haben wir uns daran gewöhnt, spontane Handyfotos ins Internet zu stellen; über Fotodienste wie Instagram dokumentieren bereits heute hunderttausende Menschen ihren Alltag für die (Internet-)Öffentlichkeit. Wie erschreckend kann da noch der nächste Schritt sein? Die britische Technologiefirma OMG hat eine kleine Kamera auf den Markt gebracht, die um den Hals gehängt wird und automatisch das Leben des Trägers fotografiert. Mit automatisch ist gemeint, dass die Kamera über diverse Sensoren selbst entscheidet, wann ein Foto gemacht wird – zum Beispiel, wenn sich die Temperatur ändert oder ein Sensor eine Bewegung meldet. Die Bilder werden mit Standortdaten versehen und können über das Smartphone ins Internet übertragen werden. „Lifelogging“ nennt sich das. OMG schätzt den Markt allein in Großbritannien auf bis zu 4,5 Millionen Kunden.


Ungestörte „magic moments“? Warum man jeden Augenblick seines Lebens fotografisch festhalten wollen sollte? Das Start-up Memoto, das ebenfalls eine Lifelogging-Kamera anbieten will, beantwortet die Frage so: Das Leben ziehe so schnell vorüber, dass die vielen fantastischen und besonderen Momente nach einer Weile verschwimmen würden, ist auf der Website zu lesen. „Wir [...] wollten einen Weg finden, mehr von unserem Leben in der Zukunft noch einmal durchleben zu können.“ Die Memoto-Kamera sei die Lösung für Überraschungen, bei denen die Kamera zu spät gezückt wurde oder für Situationen, in denen das Hantieren mit einer Kamera den „magic moment“ stören würde. Stellt sich die Frage, ob eine Überwachungskamera um den Hals die Romantik aufrechterhalten würde. Abgesehen von jenen Momenten, in denen man froh ist, dass niemand auf den Auslöser gedrückt hat. „Aus den Augen, aus dem Sinn“, wäre in einer Lifelogging-Welt wohl eine hohle Phrase.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.11.2012)

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